Death Railway
Heute ist die Eisenbahn über die Brücke
am Kwai eine Touristenattraktion.
Thailand 1989 und 1993
 
Die Enttäuschung ist ihnen anzusehen. Drei Dutzend Tagesausflügler in Kanchanaburi, einem Städtchen rund 120 Kilometer nordwestlich von Bangkok. Sie haben ihren Bus verlassen, und ihr Reiseleiter hat sie dorthin geführt, von wo sie die Brücke gut sehen können. Nur - offensichtlich ist es nicht die Brücke, die die meisten von ihnen erwartet haben, was man daran erkennt, dass sie kopfschüttelnd und mit gerunzelter Stirn auf das Bauwerk starren. Eine Brücke aus Holz hätte es sein sollen, doch diese hier ist aus Stahl. Unter dem Namen "Die Brücke am Kwai" haben sie sie gekannt, ebenso wie Millionen anderer Menschen überall auf der Welt. Der Regisseur David Lean hat sie ihnen in seinem 1957 gedrehten, mit sieben Oscars ausgezeichneten Werk gezeigt und sie damit gewissermaßen zu einem filmischen Weltkulturerbe gemacht. Alec Guinness in der Rolle des britischen Colonels Nicholson, dem die Brücke sowohl ihre Erbauung als auch ihre Zerstörung zu verdanken hat; die Szene, wie der Zug auf die Brücke fährt und wie nach einer gewaltigen Explosion die Lokomotive mitsamt allen Anhängern in den Fluss stürzen. Die Brücke ist zerstört, allerdings gibt es bereits wenige Jahre später einen Neubau, nur sieht der eben ganz anders aus als die Brücke im Film. Weshalb der Reiseleiter beginnt, seinen enttäuschten, weil fehlinformierten Schäfchen die wahre Geschichte dieses berühmten Bauwerks zu enthüllen, eingebettet in die Geschichte der Bahnstrecke, von der sie ein - sehr kleiner - Teil ist.
 
 
Auch wir nehmen uns das Thema noch einmal vor - abends vor unserem Raft House sitzend, einer Art Hausboot auf dem River Kwai, von dem aus wir einen idealen Blick über den Fluss hinweg auf die Brücke haben. Einige Jahrzehnte müssen wir dabei zurückgehen, in die Zeit des Zweiten Weltkriegs. Was Deutschland seinerzeit in Europa, das war Japan in Asien - ein aggressiver, expansionistischer Staat, dessen Politik auf die Beherrschung seiner Nachbarn abzielte. Japanische Truppen standen in Thailand und Burma, dem heutigen Myanmar, doch der Hunger des Tenno, des "Himmlischen Herrschers", reichte bis nach Indien, das sich seinerzeit unter der Herrschaft der Briten befand. Womit sich die Frage nach dem Zugang zu diesem Land stellte. Traditionell verband der Seeweg beide Länder miteinander, doch der war aufgrund der geographischen Gegebenheiten lang und damit gefährlich. Japan suchte deshalb nach einer Alternative, und es fand sie in der Wiederbelebung eines Plans, der bereits früher gedacht, aber nie realisiert worden war: eine Eisenbahnverbindung von Thailand nach Burma, von deren Endpunkt Indien quasi "direkt vor der Haustür" liegen würde. 415 Kilometer sollte die Strecke lang sein, ein schwieriges Unterfangen, da sie überwiegend durch unwegsamen Dschungel gebaut werden musste und es obendrein auch noch schnell gehen sollte. Als Arbeitskräfte wollte man Zwangsarbeiter aus den besetzten Gebieten heranziehen, außerdem Kriegsgefangene aus jenen Ländern, mit denen sich Japan damals im Krieg befand: Briten und Niederländer, Australier und US-Amerikaner sowie andere Alliierte, insgesamt rund 300.000 Menschen. Unter härtesten Bedingungen begannen sie mit der Arbeit - in einem für Nichtasiaten schwer erträglichen Klima vor allem während des Monsuns, schlecht verpflegt und medizinisch kaum versorgt, überdies drangsaliert von japanischen Bewachern, denen Widerstand vonseiten ihrer Gefangenen nichts anderes bedeutete als die Aufforderung, ihn unter Einsatz aller Mittel zu brechen. Entsprechend hoch war die Sterberate bei den Betroffenen, ein Umstand, der in dem Namen seinen Ausdruck fand, unter dem die Bahn bald bekannt wurde: Death Railway, die Todeseisenbahn.
415 Kilometer durch dichten Urwald, in felsigem Gelände und über zahlreiche Gewässer, darunter den Mae Nam Khwae Yai, den River Kwai. Ursprünglich waren dort sogar zwei Brücken vorhanden, die eine aus Holz (die allerdings anders aussah als jene im Film), die andere aus Stahl. Bereits während des Baus nahmen alliierte Bomber das Bahnprojekt ihres Kriegsgegners immer wieder unter Beschuss, darunter die beiden Brücken, die nach wiederholten Angriffen schließlich zerstört wurden. Wiederaufgebaut wurde nach dem Krieg nur die stählerne. Über sie fahren auch heute noch Züge, allerdings nach einem abgespeckten Fahrplan. 70 Kilometer misst die Strecke von Kanchanaburi nach Nam Tok, die zweimal am Tag zurückgelegt wird, für Einheimische, im wesentlichen aber für Touristen aus aller Welt. Gleich am Anfang rollt der Zug über die Kwai-Brücke, im Januar 1989 auch mit uns, denn natürlich lassen wir uns diese historische Fahrt nicht entgehen. Würden wir über unsere Unternehmung einen Film machen, dann erklänge im Augenblick der Brücken-Überfahrung der "River Kwai March", das Lied des Klassikers von David Lean, das als Hit um die Welt gegangen ist und das auch heute noch Millionen Menschen im Ohr haben dürften. Vorgetragen wird es von britischen Soldaten, die in Marschordnung in ihr Gefangenenlager einziehen - nicht in der ursprünglich gesungenen Version, sondern gepfiffen, da die gesungene Version mit ihren vulgären Spotttexten die Filmzensur am Ende der 1950er Jahre nicht passiert hätte.
 
Die Landschaft gleitet an uns vorbei, als wir einige Kilometer weiter ein zweites Highlight erreichen. "Hoffentlich geht alles gut!", hören wir einen Mitreisenden stöhnen, als der Zug auf eine hölzerne Brückenkonstruktion fährt (Trestle-Brücke lautet der Fachausdruck) - zentimeterweise nur, während wir ebenso wie alle anderen Passagiere mit Kameras und Fotoapparaten aus den Wagenfenstern hängen. Ein gutes Stück unter uns wälzt sich der Fluss dahin, Hausboote liegen verankert nahe dem Ufer, Wälder mit Riesenbambus und eine Bergkette bilden den Hintergrund. Eine Landschaft wie ein Gemälde, das wir in diesem Moment allerdings nicht hundertprozentig genießen können, da das Holz unter den Rädern unseres Zuges hörbar knirscht, was angesichts der tonnenschweren Last auch nicht weiter verwunderlich ist. Ein paar angespannte Minuten vergehen, bis wir die Stelle passiert haben. Auf der Rückfahrt dürfen wir sie dann gleich noch ein zweites Mal genießen. Schließlich rollt der Zug wieder in die Bahnstation von Kanchanaburi ein, und erleichtert darüber, dass auf der Death Railway-Strecke einmal mehr alles glatt gegangen ist, kehren wir zu unserem Raft House zurück.
 
 
Überhaupt nicht "glatt gegangen" - um dieses Wort zu benutzen - ist es im Leben derer, denen wir wenig später auf einem der großen Friedhöfe unweit der Bahnlinie einen Besuch abstatten. Unterschiedlichen Schätzungen zufolge kamen zwischen 40.000 und 90.000 Menschen beim Bau der Strecke einschließlich der Brücke über den Kwai ums Leben, darunter mehr als 6.000 Briten sowie jeweils knapp 3.000 Niederländer und Australier. Längst nicht alle haben auf diesem Friedhof einen Platz gefunden, es gibt weitere Gräberfelder in der Umgebung. Soweit die Namen der Toten bekannt sind, hat man sie auf den Grabsteinen vermerkt - Namen von jungen Männern, die für eine aggressive Politik verheizt wurden und anschließend fern der Heimat ihre letzte Ruhestätte fanden. Nachdem sie zuvor ein erbärmliches Dasein gefristet hatten - in Hütten ähnlich wie jene, in der sich heute ein Museum befindet, dessen Aufgabe es sein soll, den nachfolgenden Generationen den Alltag der Unglücklichen zu vermitteln. Oder vielleicht treffender formuliert: in denen versucht wird, den Nachfolgenden zumindest eine Ahnung (!) von diesem Alltag zu vermitteln.
 
Ein Nachtrag zu diesem Bericht aus dem Jahr 2013: Wir sind in Sri Lanka, in einem Ort namens Kitulagala im Süden der Insel. Unser Hotel ist von gehobenem Standard, es ist gepflegt, Service und Essen sind bestens, aber das alles ist nicht der Grund, weshalb wir hier sind. Es ist die Lage des Hotels, deretwegen der Fahrer auf unserer Rundtour über die Insel es für uns ausgesucht hat - an einem Fluss gelegen, mit Urwald ringsum und mit Bergen dahinter, eine auch heute noch weitgehend ursprüngliche Landschaft. An die Gegend um das thailändische Kanchanaburi haben wir hier nicht gedacht, es gab auch keinen Grund, das zu tun. Anders hingegen David Lean im Jahr 1957. Weshalb er seinen River Kwai-Film nicht an den Originalschauplätzen gedreht hat, wissen wir nicht. Wir wissen nur, dass er sich diese Gegend um Kitulagala auf Sri Lanka dafür ausgesucht hat. In unserem Reiseführer wird dieser Umstand erwähnt, außerdem macht ein Bild der Brücke in der Lounge des Hotels darauf aufmerksam. "The crew lived in this hotel", erzählt uns der Mann an der Rezeption sichtlich stolz, so als hätte er selbst diesen Film damals gedreht. Wow - David Lean und Alec Guinness an dem Ort, an dem wir gerade abgestiegen sind, das hat schon etwas, selbst für Filmmuffel wie uns. Und so sitzen wir denn abends auf der Bank vor dem Hotel, schauen auf den Fluss und den Urwald dahinter und versuchen uns vorzustellen, wie die Brücke, die die Welt kennt, hier einstmals gebaut und anschließend in die Luft gesprengt wurde und wie ein auf Pflicht und Ehre fixierter, unbeugsamer - starrköpfiger? - Colonel seiner Majestät den Japanern vorgeführt hat, was einen britischen Helden ausmacht. Zumindest im Film.
 
Manfred Lentz (März 2016)

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