Idyll contra Hektik
Der Central Park und seine Umgebung. New York 2010 (Teil 1)
 
New York ist bunt, laut und chaotisch. Immer in Bewegung. Oder wie Frank Sinatra es in seiner berühmten Hymne auf die Stadt ausgedrückt hat: "A city that doesn't sleep". Tempo ist der Rhythmus von New York, ist ihr Lebensgefühl. Von daher ist die Sehnsucht Sinatras nur allzu verständlich, "to stray right through the very heart of it", durch das Herz dieser Stadt zu streunen. Was allerdings rechts anstrengend ist, wie wir bei unserem Besuch feststellen, sowohl mental wegen der vielen Eindrücke als auch physisch. Bereits nach drei Tagen Aufenthalt sind wir einigermaßen groggy, nicht weil wir Schlaffis wären, sondern weil eine Städtereise für uns bedeutet, die 24 Stunden jedes Tages abzüglich der Schlafens- und Essenszeit optimal auszunutzen, um die Stadt bestmöglich kennenzulernen. Erst recht, wenn sie weit von zu Hause entfernt und die Reise dorthin nicht gerade ein Schnäppchen ist, und vor allem dann, wenn es sich um New York handelt, den Favoriten auf unserer Städtereisen-Wunschliste. Drei Tage sind inzwischen vergangen, weitere elf haben wir noch vor uns, bevor es wieder in Richtung Heimat geht. Wollen wir diese elf durchstehen, müssen wir es auch einmal ruhiger angehen lassen. Brauchen wir zwischendurch eine Pause. Einen Kontrast.
 
Am darauffolgenden Tag finden wir einen, was nicht sonderlich schwierig ist. Wir setzen uns auf eine Bank unter einen zartrosa blühenden Kirschbaum an einen See, halten die Gesichter in die Frühlingssonne, die von einem strahlend blauen Himmel auf uns herabscheint, lauschen dem Gezwitscher der Vögel in den Zweigen und beobachten die Kletterkünste der Eichhörnchen. Wir haben den idealen Ort für eine Pause gefunden, die perfekte Idylle, und das mitten in New York, nur wenige Gehminuten von der vibrierenden Hektik entfernt. Wir sind im Central Park, dem rund vier Kilometer langen und nahezu einen Kilometer breiten grünen Rechteck im Herzen der Stadt, oder genauer: im Herzen Manhattans, denn um diesen Stadtteil handelt es sich üblicherweise, wenn Besucher wie wir von New York sprechen. Ist man in den Straßenschluchten zwischen den Wolkenkratzern unterwegs, die alle einander an Höhe zu übertreffen suchen, so kann man sich nur schwer vorstellen, dass es sozusagen gleich um die Ecke so viel Grün gibt. Grün, das natürlich auf Kosten der bewohnbaren Fläche geht, könnte doch jeder Baum ein Appartement sein und jede Blumenrabatte ein vielstöckiges Haus, das richtig viel Geld bringen würde. Müßig die Frage, ob sich in der heutigen Zeit, in der vieles nur noch nach seinem finanziellen Wert beurteilt wird, eine solche "Bodenverschwendung" noch realisieren ließe. Als der Central Park angelegt wurde, war das jedenfalls noch möglich.
 
 
1851 kann als sein Geburtsjahr gelten. Damals wurde die Idee eines großen öffentlichen Parks in der Stadt am Hudson River erstmalig diskutiert, sieben Jahre später wurde mit den Bauarbeiten begonnen. Ein Landschaftspark nach Vorbildern europäischer Städte sollte es werden, eine der Natur nachempfundene Oase der Erholung für jedermann, kombiniert mit Angeboten zur Zerstreuung. Der dafür erforderliche Aufwand war erheblich, denn nichts sollte so bleiben, wie man es vorfand. Würde man etwa das Erdreich, das im Verlauf der rund zwanzigjährigen Bauzeit bewegt wurde, übereinander aufschichten, so wäre es ausreichend, ein Fußballfeld um acht Stockwerke zu erhöhen. Mitunter waren 4.000 Arbeiter gleichzeitig auf der riesigen Baustelle beschäftigt, die größer war als das Fürstentum Monaco. Sie gruben Becken für Teiche und Seen, schütteten Hügel auf, legten ein Wegenetz an und verteilten Zehntausende Kubikmeter Mutterboden, die von Heerscharen von Gärtnern mit mehr als einer Viertel Million Bäumen und Sträuchern bepflanzt wurde. Wie bei seinen europäischen Vorbildern fand auch die Architektur Eingang in den Park, eine großzügig angelegte Terrasse etwa und ein majestätischer Brunnen, allerdings auch bei diesen Projekten stets unter Beachtung des Mottos: "Natur als erstes, zweites und drittes - Architektur erst nach einer Weile."
Zu den damals errichteten Bauwerken gehört auch das Belvedere Castle, ein viktorianischer Fantasiebau auf einer Anhöhe, die den höchsten Punkt des Parks markiert. Belvedere bedeutet "schöne Aussicht", und eine solche haben wir von hier aus tatsächlich. Nicht allein allerdings, vielmehr wird uns gerade an diesem Ort anschaulich bewusst, dass der Park jährlich stolze 25 Millionen Besucher hat. Der Ausblick von dem Castle ist beeindruckend: Grün in jeder Richtung, eine abwechslungsreiche Kombination von weitläufigen Wiesen und artenreichem Baumbestand, Wasser, in dem sich der Himmel spiegelt, und ringsherum wie ein Kranz die Hochhäuser der Stadt, deren ständige Sichtbarkeit den idyllischen Charakter des von Menschen geschaffenen Naturraums nur noch stärker betont.
 
Und dann gibt es da noch die Kunst, unter anderem die spektakulären Events, für die der Central Park in der Vergangenheit den Hintergrund abgegeben hat. So im Jahr 2005 die Aktion des Künstlerehepaars Christo und Jeanne-Claude, bei der auf den Wegen mehr als 7.000 Tore aufgestellt wurden, von denen safrangelbe Stoffbahnen herunterhingen. Rund 100.000 Quadratmeter Stoff verteilt über eine Gesamtlänge von 37 Kilometern - ein Ereignis, das weltweit beachtet wurde und das sogar noch das legendäre Konzert von Simon & Garfunkel im September 1981 vor einer halben Million Menschen in den Schatten stellte. Ein Konzert, das nicht zufällig gerade an diesem Ort stattfand: Als Folge der Sparpolitik des damaligen New Yorker Bürgermeisters war die "Grüne Lunge" der Stadt seinerzeit in einem schlechten Zustand. Müll und Vandalismus machten dem Park ebenso zu schaffen wie die stark angestiegene Kriminalität insbesondere im Zusammenhang mit Drogen, mit der Folge, dass ein Spaziergang durch die Anlage mitunter zu einem Abenteuer werden konnte. Da man der Probleme nicht Herr zu werden wusste, kam zeitweise sogar der Gedanke auf, den Park zu schließen - eine Maßnahme, die indes für die meisten New Yorker ebenso unvorstellbar gewesen wäre wie etwa der Abriss der Freiheitsstatue oder des Empire State Buildings. 1980 wurde eine private Initiative ins Leben gerufen, die Geld für den Park auftreiben sollte, durch Spenden von Unternehmen, Banken und vermögenden Privatleuten und eben auch durch die Vermarktung des damaligen Konzerts. Eine erfolgreiche Initiative bis heute.
 
 
Architektonisch reizvolle Brücken, zahlreiche Denkmäler, darunter für Schiller und Humboldt, für Kolumbus und die Jazzgröße Duke Ellington, Präriewölfe und Stachelschweine in einem kleinen Zoo, ein Theater mit kostenlosen Shakespeare-Aufführungen während des Sommers - es ist viel, was der Central Park neben der Natur zu bieten hat, und natürlich können wir in den wenigen Stunden unseres Besuchs nur Ausschnitte sehen. Eine Attraktion lassen wir uns allerdings ebenso wenig entgehen wie vermutlich die meisten Touristen, eine aus der jüngeren Vergangenheit. Strawberry Fields heißt sie und ist John Lennon gewidmet. Nur einen Steinwurf entfernt, vor dem Dakota Building auf der gegenüberliegenden Straßenseite wurde der Ex-Beatle am 8. Dezember 1980 erschossen, fünf Jahre später wurden die Strawberry Fields als eine Gedenkstätte für ihn am Rande des Central Parks eingeweiht. Ihr Name erinnert an einen der bekanntesten Songs Lennons, ebenso wie das Wort inmitten des von seiner Witwe Yoko Ono gestalteten Mosaiks: Imagine. Es ist der Titel jenes Liedes, das inzwischen weltweit zu einer Hymne der Friedensbewegung geworden ist. Frieden ist auch das Thema der Gedenkstätte, das laut einer dort angebrachten Plakette von 121 Staaten unterstützt wird. Eine breite Unterstützung für den Frieden auf der Welt also - zumindest auf dieser Plakette.
 
(Wird fortgesetzt)
 
Manfred Lentz (Mai 2016)
 
 
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