Der Ätna
ein Vulkan, auf dem man auch Schlitten fahren kann. Italien 2016
 
Im Jahr 1972, während meines Studiums, war ich das erste Mal auf dem Ätna (italienisch Etna oder Mongibello). Zu viert waren wir auf einer Tour mit einem VW-Bus durch mehrere Mittelmeeranrainer, und bei dieser Gelegenheit haben wir auch einen Abstecher nach Sizilien gemacht. Ob wir dem Ätna dabei einen Besuch abstatten sollten, diese Frage war kein Thema - der Ätna musste ganz einfach sein. Zunächst ging es mit einer Seilbahn aufwärts, dann folgte eine Fahrt mit einem Unimog, und das letzte Stück bis zum Gipfel mussten wir zu Fuß zurücklegen. Mit ist noch gut in Erinnerung, wie wir neben dem Krater standen und dachten: Nur einen Schritt weiter, und wir landen geradewegs in der Hölle. Ein Gefühl, das man sein Lebtag nicht vergisst.
44 Jahre später, im Rahmen einer dreiwöchigen Sizilienreise im Mai 2016, bin ich abermals auf dem Ätna. Diesmal allerdings nicht ganz oben, denn das Wetter spielt nicht mit. Auf dem Gipfel ist es eisig kalt, vor allem aber weht ein so heftiger Wind, dass die für die Seilbahn zuständige Gesellschaft deren Betrieb an diesem Tag eingestellt hat und auch die Unimog nicht fahren. Wir sind enttäuscht, doch zum Glück gibt es eine Alternative. Bergführer bieten Wanderungen in dem Gebiet auf etwa 2000 Metern an, in dem der letzte größere Ausbruch 2002/2003 seine Spuren hinterlassen hat. Besser dort unterwegs als unten bleiben, sagen wir uns, und schließen uns einer Führung in einer Minigruppe an. Eine sehr gute Entscheidung, wie wir ein paar Stunden später resümieren. Nicht die Spur einer Enttäuschung.
 
Ein Highlight erwartet uns gleich am Anfang. Ein Highlight für uns allerdings, nicht für den Sizilianer Ignazio Russo, dem das 20 Meter hohe Hotel einst gehörte, von dem nur noch der obere Teil des Giebels aus der erstarrten Lava herausragt. Es war der 26. Oktober 2002, als sich die Erde auftat und unter lautem Getöse und begleitet von Erdbeben rotglühendes Magma austrat. Geschätzte 60 bis 70 Millionen Kubikmeter ergossen sich in den folgenden Wochen aus der Tiefe und wälzten sich die Hänge hinunter, dazu wurden gewaltige Mengen Asche herausgeschleudert und "Bomben", halbmetergroße Steine, die sich in einem weiten Umkreis verteilten. Jener Teil des Berges, auf dem wir unsere Wanderung unternehmen, wurde dabei vollständig von Lava überflutet, die vorhandene Touristenstation sowie das erwähnte Hotel und ein weiteres wurden zerstört, ebenso etliche hölzerne Souvenirhäuschen und vor allem die Vegetation. Übrig geblieben sind von letzterer nur noch bescheidene Reste - kleine Baumgruppen, an denen der Lavastrom infolge der Beschaffenheit des Geländes vorbeigeflossen ist, sowie die von der Gluthitze völlig vertrockneten, nicht aber verbrannten Überreste von Bäumen, die seither wie gebleichte Skelette in der Landschaft stehen bzw. liegen und die vor dem Hintergrund des schwarzen Gesteins geradezu surreal anmuten. Die umliegenden Dörfer und Städte blieben seinerzeit im Wesentlichen verschont, sieht man einmal davon ab, dass der Wind die kilometerhoch in den Himmel gestiegenen Aschewolken bis in das dreißig Kilometer entfernte Catania trieb.
 
 
Giacomo, unser Führer, fragt uns, ob wir wüssten, wie hoch der Ätna sei, worauf jeder von uns mit einer anderen Zahl antwortet. Kein Wunder, ist die Höhe des Ätna doch ebenso in Bewegung wie der Vulkan selbst. Bricht bei einem Ausbruch ein Teil des Kraters ab, wird er kleiner, türmt sich Lava auf, legt er zu. Um die 3.300 Meter schwankt seine Höhe, womit er der höchste Vulkan Europas ist. Ein "spontaner Killer" wie der Vesuv ist er nicht, der während einer langen Ruhepause einen zunehmenden Druck aufbaut, der sich schließlich in einer gewaltigen Eruption entlädt. (Pompeji und Herculaneum wurden von ihm zerstört, und heute ist er eine akute Bedrohung für das nahegelegene Neapel.) Im Unterschied dazu ist der Ätna regelmäßig aktiv, ja er ist einer der aktivsten Vulkane weltweit, und natürlich stellt auch er für die Menschen in seinem Einflussbereich (etwa eine Million) eine Gefahr dar. Was das bedeuten kann, wurde bei dem letzten richtig großen Ausbruch im Jahr 1669 deutlich, als - in Verbindung mit Erdbeben - Teile von Catania zerstört wurden und Tausende Menschen ums Leben kamen. Seither gab es zahllose weitere Ausbrüche - kleiner als 1669, aber keineswegs unbedeutend, wovon wir uns auf unserer Wanderung überzeugen können.
Einen Vulkan haben wir schon als Kinder in der Schule gemalt, und ganz selbstverständlich ereignete sich auf unseren Bildern der Ausbruch stets ganz oben, im Krater. In dem Krater, denn dass es neben diesem auch noch andere gab bzw. gibt, wussten wir nicht. Dass erfahren wir von Giacomo, als er uns zu einer Reihe kleiner Nebenkrater führt, die in einer bergab weisenden Linie hintereinander liegen. Neben den vier Kratern auf dem Gipfel gibt es rund 400 solcher Nebenkrater an den Flanken des Ätna, die während der zurückliegenden Ausbrüche im Laufe der Jahrtausende entstanden sind. Riesig sind sie nicht, und ihre Öffnungen sind von erstarrter Lava versiegelt. Aber auch wenn sie damit recht harmlos aussehen, so waren sie es doch, aus denen sich der todbringende, mehr als 1000 Grad heiße Strom einst auf den Weg talwärts machte. Jederzeit kann sich dieses Geschehen wiederholen, kann der Ätna irgendwo "aufplatzen" und Magma aus dem Inneren der Erde ausgestoßen werden, weshalb er - wie viele andere Vulkane - permanent unter Einsatz modernster technischer Mittel überwacht wird. Seismische Stationen registrieren jede Erschütterung, automatische Kameras beobachten ihn rund um die Uhr, und auch die Zusammensetzung der ausgestoßenen Gase wird ständig kontrolliert. In einem Kontrollzentrum in Catania laufen alle Daten zusammen, wo jeweils zwei Personen ein Auge auf sie haben. Mindestens einer von ihnen muss ein erfahrener Seismologe sein, um Fehlinterpretationen von Signalen und damit falsche Alarme mit womöglich weitreichenden Konsequenzen ausschließen zu können. Perfekt sind alle diese Kontrollen indes nicht. Bis heute ist es trotz intensiver Anstrengungen nicht gelungen, den Ausbruch eines Vulkans sicher vorherzusagen, ebenso wie es nach wie vor nicht möglich ist, Erdbeben genau zu prognostizieren. Und das, obwohl die Zusammenhänge, die diesen Phänomenen zugrunde liegen, im wesentlichen bekannt sind.
 
Die dichten Wolken, die zu Beginn unserer Wanderung den Hauptkrater verhüllten, haben sich im Laufe des Vormittags verzogen, und der Blick nach oben ist frei. Deutlich ist die Rauchfahne zu erkennen, die aus dem Krater aufsteigt und von dem immer noch starken Wind davongeweht wird. Über ausgedehnte Lavafelder setzen wir unseren Weg fort, einmal auch durch ein Wäldchen, das von den Strömen seinerzeit ausgespart wurde und das nun geradezu unwirklich anmutet. Genau so unwirklich, wie die zarten Pflänzchen, die sich hier und dort zwischen dem toten Gestein bereits wieder angesiedelt haben - trotzige Zeichen der Natur, dass sie sich selbst von der Zerstörungskraft eines Vulkans nicht unterkriegen lässt. Während ich laufe, kommt mir ein Gedanke: Und wenn der Vulkan nun gerade in diesem Augenblick wieder zum Leben erwachen würde - so weit von uns entfernt natürlich, dass wir nicht in Gefahr wären? Ein solches Ereignis zu erleben, diesen Urgewalten der Erde unmittelbar gegenüberzustehen, müsste einfach überwältigend sein. Ein Schauspiel, das sich an Dramatik kaum übertreffen ließe. Später, in einer der Souvenirhütten am Ende unserer Wanderung, sehen wir ein solches Schauspiel tatsächlich, allerdings nur als Bilder auf einer DVD. Ein jämmerlicher Abklatsch des tatsächlichen Geschehens natürlich, aber wenigstens vermitteln die Bilder einen Eindruck. Ausbrüche in leuchtenden Farben sind da zu sehen, eine endlos erscheinende Aneinanderreihung von Höhepunkten - "Vulkanpornos", wie Giacomo Zusammenschnitte dieser Art nennt, weil es dabei stets immer nur um das eine geht.
 
 
Lavaflüsse und Aschewolken, Steinbomben und Erdbeben ... Aber es gibt noch eine andere Seite des Ätna, und das ist seine Rolle als Skigebiet. Mit rund 3.300 Metern ist er hoch genug, dass während eines Großteils des Jahres Schnee auf seinem Gipfel liegt. Aus diesem Grund ist er schon seit Jahren zu einem Skigebiet geworden, in einem Land, das Möglichkeiten zum Wintersport - abgesehen von den Alpen - sonst nirgends hat. Auch Daniela weiß von diesem Schnee, eine junge Sizilianerin, die wir in einer unserer Unterkünfte getroffen haben. Da ihre Kinder die weiße Pracht noch nicht kennen, plant sie mit ihnen einen Ausflug zum Ätna, ausgerüstet mit einem Schlitten. Ein Vorhaben, das gewiss ein großes Erlebnis werden dürfte: Schlitten fahren auf dem höchsten Vulkan Europas, nur ein Stück weit entfernt von dem Eingang in die Unterwelt. Na denn - Rodel heil!
 
Manfred Lentz (Juni 2016)

 
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