Reykjavik -
kleinstädtische Hauptstadt am Rande Europas.
 Island 2016
 
Wohl jeder hat sie noch in Erinnerung, wie sie nach ihrem sensationellen Sieg über England auf dem Rasen standen, die Blicke ihren Fans auf der Tribüne zugewandt, und diese Gänsehaut erzeugende Kombination von "Huh!" und Klatschen durch das Stadion hallte. Wie ein archaischer Schlachtruf klang das, erst langsam, dann immer schneller, bis sich das Klatschen in stürmischen Beifall verwandelte und sich die Kicker von der kleinen Insel am Rande Europas, von der viele Nicht-Isländer bis dahin nicht einmal gewusst hatten, dass dort überhaupt Fußball gespielt wird, ihrer ungezügelten Freude hingaben. Kein Wikingerruf sei das gewesen, erklärten sie später, ein isländischer Fanklub habe sich dieses Ritual ausgedacht. Allerdings wäre das "Huh!" aus rauen Männerkehlen wohl auch als Wikingerruf anstandslos durchgegangen.
 
Island als großes Thema in unseren Nachrichten - wie einige Jahre zuvor bei einer ganz anderen Gelegenheit: 2010 schaute die Welt auf dieses Land, als nach dem Ausbruch eines Vulkans der Flugverkehr auf der Nordhalbkugel dramatisch gestört war. Damals gab es kaum ein wichtigeres Thema in den Medien als die Frage, in welche Richtung der Wind die gewaltige Aschewolke als nächstes treiben würde. Die Aschewolke aus jenem Vulkan, bei dessen Namensnennung - und das passte perfekt zu dem weitgehend unbekannten und irgendwie geheimnisvollen Land, in dem er stand - manch Nachrichtensprecher ein unglückliches Gesicht machte. "Die Folgen des Ausbruchs des Eyjafjallajökull behindern auch weiter den internationalen Flugverkehr usw." Alle anderen hatten es besser - für sie war er ganz einfach "dieser Vulkan, na, sie wissen schon ..."
 
Nicht so für mich. Mir kommt der Name Eyjafjallajökull glatt über die Zunge, allerdings nicht schon im Jahr 2010, damals habe ich ihn ebenso gestottert wie alle anderen, sondern erst seit kurzem. Konkret: seit ich mir in Vorbereitung unserer Island-Reise einen Spaß daraus gemacht hatte, den Namen korrekt aussprechen zu können. Eine Art sportlicher Ehrgeiz gewissermaßen, jedes Mal verbunden mit einem zufriedenen Strahlen, wenn ich es wieder einmal geschafft hatte, während meine Gegenüber erfolglos versuchten, es mir gleichzutun. Was nur allzu verständlich ist, schließlich klingt Eyjafjallajökull für unser Sprachgefühl auch gar zu verrückt.
 
 
Sehr viel einfacher auszusprechen ist da schon der Name der isländischen Hauptstadt Reykjavik. Den kennen wir bereits aus der Schule, auch wenn wir damit zunächst nicht viel in Verbindung gebracht haben. Seit unseren Reisevorbereitungen wissen wir Genaueres: Reykjavik ist eine Stadt mit etwa 120.000 Einwohnern, in ihrem Großraum leben weitere knapp 100.000, und wenn man weiß, dass sich die Bevölkerung des gesamten Landes lediglich auf 330.000 Menschen beläuft, dann kann man sich vorstellen, wie dünn der Rest der Fläche besiedelt ist. Dünn besiedelt, aber zugleich äußerst abwechslungsreich, sehenswert und spannend, wie wir von Bildern her wussten, die wir vor Reiseantritt gesehen haben. Wobei nicht nur wir diesen Eindruck hatten. Hunderttausende weitere Touristen haben das offenbar ebenso gesehen, die in den letzten Jahren nach Island gereist waren. Eine stetig angewachsene Zahl mit der Folge, dass inzwischen auf jeden Einheimischen zwei Besucher von außerhalb kommen. Mehr als 600.000 Neugierige also, die sich vor allem auf die Monate Juli und August konzentrieren, denn in diesen Monaten ist es mit bis zu 13 Grad - in einigen "privilegierten" Lagen (Wikipedia) auch schon mal mit über 20 Grad - am wärmsten. Danach geht es in den Herbst und anschließend in einen langen, wegen des nahe vorbei fließenden Golfstroms allerdings nicht allzu kalten Winter, in dem es überdies zeitweise recht finster ist. Vier bis fünf Stunden Helligkeit im Dezember, das ist alles, ansonsten herrscht Dunkelheit.
 
Zwölf Tage hat unsere Reise gedauert. Wie viele Individualtouristen waren wir mit einem Mietwagen unterwegs, keine exotische Strecke, vielmehr die Standardtour, wenn man zum ersten Mal in Island ist. Standardtour heißt: Wir sind die Ringstraße abgefahren, eine Straße, die rund um die Insel führt, meist in Küstennähe, in aller Regel asphaltiert und in sehr gutem Zustand, für einen normalen PKW (wir waren mit einem VW Polo unterwegs) also problemlos machbar. Ganz anders als die Erkundung des Inneren der Insel - meist auf Pisten oder Offroad und mit geländegängigen Fahrzeugen, Touren mithin, die von ganz anderer Qualität sind als unsere. Island für Fortgeschrittene gewissermaßen. Was nicht etwa bedeutet, dass die Anfängerstrecke ohne Reize wäre. Ganz im Gegenteil finden sich auch auf ihr großartige Höhepunkte und Reizvolles ohne Ende. Die Unterkünfte und einige wenige Events haben wir über einen Reiseveranstalter gebucht, für alles andere waren wir allein verantwortlich. Das ideale Konzept für Leute wie uns, die Gruppenreisen scheuen, aber gern die Ideen und die Unterstützung nutzen, die Kenner des Landes ihnen bieten können.
Nach der Landung auf dem Flughafen Kevlavik ist das nahegelegene Reykjavik unsere erste Station. Die Hauptstadt Islands, wie erwähnt, aber was sich sprachlich so groß und bedeutend anhört, ist es in diesem Fall keineswegs. Eher kleinstädtisch wirkt Reykjavik, wenige Hochhäuser nur, viele zwei- und dreistöckige Gebäude, alles sehr sauber, übersichtlich und ohne Hektik, insgesamt recht beschaulich. Eine Beschaulichkeit, die sich auch auf der Haupteinkaufsstraße findet, der Laugavegur, mit ihren exklusiven Läden, Restaurants und Souvenirshops. Nicht Ku'damm und nicht Champs-Elysées, eher die Fußgängerzone von Wanne-Eickel, wobei die Zahl der herumschlendernden Touristen die der Einheimischen deutlich überwiegt. Entgegen unserer Erwartung ist der Besucheransturm Anfang September noch beträchtlich. Einen Tag haben wir Zeit für Reykjavik, bevor unsere Tour durchs Land beginnt, aber dieser Tag reicht aus, denn die Zahl der Sehenswürdigkeiten ist begrenzt. Insgesamt haben wir drei auf unsere Agenda gesetzt: abgesehen von der Stadt selbst, die natürlich ebenfalls zu dem Sehenswerten gehört, sind das zwei Gebäude und ein Museum.
 
Das erste Gebäude ist noch nicht alt, erst 2011 wurde es eröffnet. Da die isländische Sprache nicht jedermanns Sache ist, hat man mittels einer Ausschreibung nach einem auch für Nicht-Isländer aussprechbaren Namen gesucht. Gefunden hat man "Harpa", einen Namen, der in der Tat weit entfernt ist von dem jenes zungenbrecherischen Vulkans. Harpa ist ein Konzert- und Konferenzhaus, und obwohl es mit seiner modernen Architektur zunächst auf verbreitete Ablehnung in der Bevölkerung stieß, ist es inzwischen zu einem Wahrzeichen Reykjaviks und einer touristischen Attraktion geworden. Die Architektur dieses Gebäudes ist alles andere als kleinstädtisch und wurde nicht zufällig mit dem Mies-van-der-Rohe-Preis ausgezeichnet, dem renommiertesten Architekturpreis Europas. Nur einen einzigen Nachteil hat dieser eindrucksvolle Bau in meinen Augen, und das sage ich als Berliner, der ich nicht aus einer mit großartigen modernen Gebäuden verwöhnten Stadt komme: Er steht nicht an der Spree.
 
Das zweite Gebäude, das wir ausgewählt haben, gilt ebenfalls als ein Wahrzeichen Reykjaviks. Es ist die Hallgrimskirkja, eine erst 1986 vollständig fertiggestellte Kirche mit einem auffälligen Äußeren: einer großen Anzahl von Pfeilern von abnehmender Größe zu beiden Seiten des Turms, die den Eindruck von Basaltsäulen hervorrufen, wie man sie in der isländischen Landschaft vielerorts antreffen kann. Ihre weiße Farbe soll an die Gletscher des Landes erinnern. Der Turm ist mit seinen 75 Metern das zweithöchste Gebäude der Insel und bei Touristen als Aussichtspunkt sehr beliebt. Von seiner Spitze reicht der Blick weit ins Land hinein, zwar nicht bis zu den Vulkanen und den Geysiren, den Gletschern und den Wasserfällen, die zu sehen wir im Land sind, aber allein das Wissen, dass diese Welt hinter den Bergen am Horizont beginnt, steigert unsere Erwartung.
 
 
Und das Museum, das ich erwähnt habe? "Hid Islenzka Redasafn" steht über dem Eingang und daneben steht die Übersetzung, die ich mir an dieser Stelle aber schenken will, um Neugier bei Ihnen, den Lesern dieses Berichts, zu erzeugen. Neugier auf ein Museum, das mit seinen Exponaten einzigartig in der Welt ist und dem ich später einen eigenen Bericht widmen werde. An dieser Stelle möchte ich lediglich noch eine Erfahrung erwähnen, die wir bereits am ersten Tag in Reykjavik gemacht (und während der ganzen Reise nicht korrigiert) haben und die vielleicht für diejenigen, die mit dem Gedanken einer eigenen Islandreise spielen, interessant sein kann: die Erfahrung, dass das Essen in den Restaurants eine teure Angelegenheit ist. Mehrmals haben wir nachgerechnet, ob wir beim Umrechnen der Währungen womöglich einen Fehler gemacht haben (Island hat keinen Euro sondern die Isländische Krone), doch noch so viel Rechnen konnte die Preise nicht senken. Auch ein ungünstiger Wechselkurs zum Zeitpunkt unserer Reise war keine ausreichende Erklärung für das isländische Preisniveau. Zwar hätten wir das Verlangte durchaus zahlen können, aber selbst bei einer einfachen Lasagne oder einer mäßig belegten Pizza für 20 Euro geht es ums Prinzip, erst recht bei normalen Hauptgerichten wie Fisch mit Pommes und Salat für rund 30, ganz zu schweigen von den isländischen Spezialitäten. Wobei die Qualität, soweit wir sehen konnten, die eines gewöhnlichen deutschen Kaufhauses nicht übersteigt. Warum die Restaurants dennoch meist voll waren? Es mag verschiedene Gründe dafür geben, wir jedenfalls haben das Angebot ignoriert und uns in Supermärkten mit Lebensmitteln eingedeckt, deren Preisniveau etwa dem unserer heimischen Supermärkte entspricht. Natürlich ist es bedauerlich, dass wir auf diese Weise die einheimische Küche nicht entdeckt haben, allerdings war dieser Umstand unserer Begeisterung für Island kaum abträglich, wie ich in weiteren Berichten - verstreut über die nächsten Monate, wie bei reiselust.me üblich - zeigen werde.
 
Manfred Lentz (Oktober 2016)
 
 
Die neuen Berichte auf reiselust.me erscheinen jeweils
am 1. und 15. jedes Monats