Im Herzen Londons
Piccadilly Circus und Chinatown. 2014
 
Wir sind Gewohnheitstiere. Ständig führen wir die Namen von Straßen, Plätzen und sonstigen Örtlichkeiten im Mund, ohne uns in den allermeisten Fällen Gedanken darüber zu machen, woher sie stammen. Das gilt auch für den Namen jenes Platzes in London, den vermutlich selbst diejenigen kennen, die noch nie dort waren. Der Name geht zurück auf einen gewissen Robert Baker, Schneider seines Zeichens, der vor rund 400 Jahren in der britischen Hauptstadt lebte. Seine Spezialität waren steife, mäanderförmig gelegte Kragen mit Spitzenrändern, wie sie die hohen Herrschaften jener Zeit zu tragen pflegten. Der Name des Schneiders ist heute kaum noch jemandem bekannt. Auch das seinerzeit so beliebte Kleidungsstück ist längst aus der Mode gekommen. Seine Bezeichnung indes lebt bis in unsere Tage fort - ja mehr noch, dieses Wort wurde international ein Begriff, und in Bezug auf die Londoner Topographie ist es gewiss eines der am meisten gebrauchten. Piccadills hießen die Kleidungsstücke, um die es geht, und das Haus, in dem der Schneider sie anfertigte, hieß Piccadilly Hall. Ein Haus mit diesem Namen existiert heute nicht mehr, wohl aber eine Straße und vor allem ein Platz. Einer von solch herausragender Bedeutung, dass die Briten ihn in den Jahrhunderten ihres Empires, als ihre Kaufleute und Militärs große Teile der Welt beherrschten, als dessen Mittelpunkt bezeichneten, mitunter sogar als den Mittelpunkt der Welt: der Piccadilly Circus.
 
"Aha, dies ist also der berühmte Platz", sagen wir uns ein wenig enttäuscht, als wir im Jahr 1985 das erste Mal auf ihm stehen. Bei unserem zweiten Besuch drei Jahrzehnte später ist unsere Reaktion nicht viel anders. Sonderlich eindrucksvoll sieht er nicht aus, nicht von seiner Gestaltung her und erst recht nicht von seiner Größe. Verglichen mit anderen berühmten Plätzen der Welt ist er geradezu ein Winzling, und dazu muss man nicht einmal den größten aller Plätze bemühen, den 40 Hektar großen Tienanmen-Platz in Peking. Seine Bedeutung innerhalb des Londoner Straßennetzes ist dagegen ganz erheblich. Fünf Straßen stoßen an ihm aufeinander, unter ihnen die Regent Street und die Shaftesbury Avenue, die zu den wichtigsten der Stadt gehören. Entsprechend intensiv ist der Verkehr, was wiederum der Grund dafür ist, dass man eine Seite des Piccadilly Circus zu einem Fußgängerbereich gemacht hat. Hätte man das nicht getan, wäre der Platz eine für Fußgänger nur schwer erreichbare Insel inmitten des brodelnden Verkehrs, und seine wichtige Funktion sowohl für die Londoner als auch für ihre Gäste, nämlich einer der beliebtesten Treffpunkte der Stadt zu sein, würde er schwerlich erfüllen können. Mit der gegenwärtigen Gestaltung indes kann er das, und entsprechend hoch ist die Zahl seiner täglichen Besucher.
 
 
Gefühlte fünf Minuten starren zwei Frauen zu der Figur hinauf, die den Brunnen in der Mitte des Piccadilly Circus' krönt, dann entfährt einer der beiden ein beinahe andächtiges "Das ist also der berühmte Eros!" Falsch - das ist keineswegs der Eros. Das ist ein "christlicher Engel der Nächstenliebe", von dem Erbauer des Denkmals geschaffen zwecks Ehrung eines englischen Earls, der sich im 19. Jahrhundert für eine Verbesserung der Lebensbedingungen von Fabrikarbeitern und Bergleuten stark gemacht hat. Um Nächstenliebe geht es also, nicht um die von erotischer Begierde geprägte Liebe zwischen zwei Menschen, für die der griechische Gott steht. Diesen hätte der Künstler dem damaligen viktorianisch-prüden Publikum auch wohl kaum zumuten können - zu einer Zeit, als selbst viele mehrfache Mütter stolz darauf waren, dass sie ihren Gatten während des gesamten Ehelebens niemals nackt gesehen hätten. Inzwischen gehören diese Zeiten - wenn auch noch nicht überall - der Vergangenheit an, und da heute kaum noch jemand den mit dem Denkmal geehrten Philantropen aus dem 19. Jahrhundert kennt, hat sich für das nackte Kerlchen auf der Brunnenspitze eben der Name Eros eingeschlichen. Unter dem Namen "Erosbrunnen" fehlt das Ensemble in keinem Reiseführer, und ihn während eines Londonbesuchs nicht gesehen zu haben, würde bedeuten, nicht wirklich in London gewesen zu sein. Viele Touristen empfinden die neun Stufen, auf denen er steht, als eine Einladung, sich auf ihnen niederzulassen, um von den kräftezehrenden Wanderungen durch die Stadt zu verschnaufen und in aller Ruhe zu schauen, was es an diesem Ort alles zu sehen gibt. Eine ganze Menge, wie wir in unserem Reisetagebuch notieren, und das "alles ein paar Nummern größer und weltstädtischer als bei uns in Berlin."
"Lillywhites" steht in großer Schrift an einer Hauswand, ein Kaufhaus für Sportartikel, daneben wirbt das "Criterion" um Besucher, ein vor allem bei Touristen beliebtes, unterirdisch gelegenes Theater (nur der Eingang befindet sich zu ebener Erde), das zur Zeit unseres Aufenthalts mit "The 39 Steps" gerade ein 9-Jahre-Erfolgsstück im Programm hat. Die Werbetafeln an einem Gebäude auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes sind offenbar ähnlich bedeutsam wie die am New Yorker Times Square, geht man nach der detaillierten Auflistung der hier werbenden Firmen in der Wikipedia, aktuell unter anderem Coca-Cola, TDK und der Autokonzern Hyundai. Immer mal wieder verschwinden die Tafeln aus unserem Blickfeld, wenn sich einer der traditionell knallroten Londoner Busse - umschwirrt von den traditionell schwarzen Taxis - davorschiebt. Beide sind zahlreich - schnell sind sie in dem dichten Verkehr allerdings nicht. Den Rang als schnellstes Verkehrsmittel läuft ihnen die U-Bahn ab, die "Tube", wie die Londoner sie nennen, die auch unter dem Platz eine ihrer vielen Stationen hat. "Piccadilly Circus" heißt die, und weil der Platz für London so bedeutsam ist, trägt auch eine der beiden hier verkehrenden Linien diesen Namen: die "Piccadilly Line" (die andere ist die "Bakerloo Line"). Für Menschen mit Platzangst ist die "Tube" nur bedingt zu empfehlen, wobei diese Feststellung nicht nur die Station unter diesem Platz betrifft. Insbesondere während der Rush Hour quellen Bahnsteige und Züge vor Fahrgästen über, ein Gefühl wie auf der "Grünen Woche" in Berlin, wenn sich Zehntausende Besucher gleichzeitig dicht gedrängt durch die Hallen schieben.
 
Schauen macht hungrig - ein Effekt, der uns zu unserem nächsten Programmpunkt an diesem Tag führt. Der Weg dorthin ist nicht weit, ein paar Mal um die Ecke, und schon stehen wir vor dem großen Tor in der Gerrard Street, dem Eingang nach Chinatown im Stadtteil Soho. Viele Städte außerhalb Chinas verfügen über Viertel dieser Art, in dem sich Menschen aus dem Reich der Mitte niedergelassen haben. Verglichen mit der Chinatown von Paris - der größten in Europa - ist die Londoner allerdings recht klein, wenige Straßen nur, doch interessant ist sie allemal. Chinesische Schriftzeichen prägen das Bild, vor Hauseingängen wachen steinerne Löwen, es gibt Läden, in denen man bestickte Seidenroben erwerben kann, Lampionketten und winkende Katzen, die in asiatischen Ländern als Glücksbringer gelten, dazwischen findet sich jede Menge elektronischer Krimskrams. Und dann sind da natürlich die Restaurants. "Golden Dragon" heißen sie, "Haozhan", "Kowloon" und "Canton", und würden nicht bereits diese Namen sie als chinesisch outen, so wüsste man spätestens bei den braun glänzenden, mit heißem Honig eingepinselten Enten und den goldbraunen Schweinebäuchen in den Schaufenstern, wo man ist. Mit Schildern "All you can eat" locken einige Restaurants die Touristen, für die ein Besuch in Chinatown vielfach zum Standardprogramm gehört. Zu günstigen Preisen kann man sich hier den Bauch vollschlagen, nicht gerade das große kulinarische Erlebnis, aber wer es besser - und authentisch chinesisch - haben will, für den bleiben ja noch etliche weitere Lokale. Am authentischsten sind die, in denen vornehmlich Chinesen verkehren, allerdings sind geschmorte Hühnerfüße, Tausend-Jahr-Eier und Quallen nicht jedermanns Geschmack. Wir halten uns an die Enten, die hier ebenso wie in anderen Chinatowns ein Erlebnis der besonderen Art sind. Dafür übersehen wir auch gern den Service, ohne den es diese superleckeren Enten offenbar nicht gibt - die Konversation, bei der die Zahl der Worte gegen Null geht, das Auftragen des Essens mit reichlich Knall-Peng, das wortlose Abräumen nach erfolgtem Verzehr einschließlich der unverzüglichen Präsentation einer Rechnung mit einem Gesichtsausdruck, der besagt: "Jetzt seid Ihr satt, also verschwindet!" Vielleicht bedeutet "Selvice" für chinesische Kellner ja etwas anderes als für uns, vielleicht ist er ein fester Bestandteil ihrer Authentizität. Doch sei's drum - das Essen ist auch diesmal wieder ein Geschmackserlebnis der besonderen Art, und so verlassen wir schließlich gut gesättigt und bestens gelaunt das Restaurant. Noch einmal lassen wir die halb englische, halb fernöstliche Atmosphäre von Chinatown auf uns wirken (die Häuser in diesem Viertel sehen überhaupt nicht fernöstlich aus), dann kehren wir nach nur wenigen hundert Metern in das nicht-chinesische London zurück.
 
Manfred Lentz (November 2016)
 
 
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