Pralles Leben
Der Platz Djeema el Fna in Marrakesch.
Marokko 2016
 
Die Meinungen über den Platz sind so vielfältig wie seine Besucher: "Ich bin gerne dort gebummelt und habe mit Augen und Ohren genossen", schreibt einer von ihnen auf der Touristikwebsite Tripadvisor, und ein anderer: "Dieser Markt ist vermutlich so das authentischste was man in Marrakesch besuchen kann, wenn man unter die Einheimischen will." Und er fügt hinzu: "Es ist wirklich ein Erlebnis, welches wir nur jedem empfehlen können." Andere Besucher sehen das ganz anders: "Alles ist darauf angelegt, einem das Geld aus der Tasche zu ziehen", heißt es etwa. Es sei "extrem aufdringlich" dort, eine "Touristenfalle", "mega voll, laut, chaotisch, dreckig". Und wenn man nicht aufpasst: "Eine Frau hat sich eine Kobra um den Hals legen lassen und war gleich 10 € los." Nun ja ...
 
Djeema el Fna - aus dem Arabischen übersetzt etwa "die Versammlung der Toten", in Reiseführern meist "der Platz der Geköpften" oder "der Platz der Gehenkten" genannt. Ein Name, der daher rührt, dass die Sultane aus der Dynastie der Almohaden (um 1200) den Platz als Hinrichtungsstätte nutzten und dort unter anderem aufgespießte Köpfe zur Schau stellten. Keine schöne Sache, aber zum Glück sind diese Zeiten hier schon lange vorbei. Heute ist der Platz die touristische Adresse Nummer 1 im Land, ganz gemäß einem marokkanischen Sprichwort: Hast Du einen Tag in Marokko, verbringe ihn in Marrakesch. Hast Du nur eine Stunde, verbringe sie auf dem Djeema el Fna!" Auch ohne dass wir während unserer Spaziergänge durch die Medina (die Altstadt) von Marrakesch um Orientierungshilfe gebeten hätten, deutete immer mal wieder jemand mit den Worten "la place" in die entsprechende Richtung, denn dass Touristen zum "la place" wollen, zum Djeema el Fna, gilt bei den Einheimischen als ausgemachte Sache. Womit sie oft genug durchaus Recht haben, denn "la place" ist nun einmal der pulsierende Mittelpunkt dieser einstigen Königsstadt und heute drittgrößten Stadt Marokkos, den jeder Besucher gesehen haben will. Oder richtiger: erlebt haben will, denn der Djeema el Fna ist nicht nur etwas für die Augen, er ist vielmehr eine Art Gesamtkunstwerk, weshalb ihn die UNESCO im Jahr 2001 als ersten Ort in ihre neu geschaffene "Liste des immateriellen Kulturerbes der Menschheit" aufgenommen hat.
 
 
Ein ganz gewöhnlicher Morgen während unseres neuntägigen Aufenthaltes in Marrakesch: Wir sitzen im Café "Montreal" auf der Nordseite des Platzes, trinken Thé à la Menthe, diesen köstlichen Tee mit marokkanischer Minze, und beobachten, wie sich der Platz allmählich füllt. Um uns herum mehrere Einheimische, Männer allesamt, denn Frauen - sieht man einmal von Touristinnen ab - sind auch heute noch rar in solchen Lokalen. Schräg gegenüber hat der Bettler wieder seinen Platz eingenommen, den wir nun schon kennen, und klappert mit seiner Schale. Mit sicherem Gefühl prüft er die Münzen, die Vorbeigehende ihm zustecken, sehen kann er sie nicht, denn er ist blind. Von der Moschee in seinem Rücken mischt sich das Rufen des Muezzins in unser Gespräch. Nicht so laut wie das Rufen seines Kollegen, das uns jeden Morgen noch vor Sonnenaufgang aus dem Schlaf reißt, aber vielleicht ist die Moschee gegenüber dem Café "Montreal" ja nicht mit einer solch wattstarken Lautsprecheranlage ausgerüstet wie die bei unserer Unterkunft. Von der Rue Derb Dabachi her schiebt sich ein kontinuierlicher Menschenstrom auf den Platz. Einheimische fast ausschließlich, denn die Touristen zieht es zu dieser frühen Stunde zumeist in die entgegengesetzte Richtung, hin zu den Sehenswürdigkeiten der Stadt. Zum Gerberviertel etwa, zum Marrakesch Museum oder zu der alten Koranschule Medersa Ben Youssef, vielleicht unternehmen sie auch einen Streifzug durch die Souks, die Märkte mit ihrem vielfältigen, farbenfrohen Angebot. Auch die Händler in der Umgebung unseres Cafés haben ihre Läden bereits geöffnet und wie an jedem Tag einen Teil ihrer Waren auf die Straße gestellt in der Hoffnung auf gute Geschäfte. Noch dürfen Taxis und Pferdekutschen den Platz befahren, später, wenn er voller Menschen sein wird, ist ihnen der Zugang verboten. Auch die ersten Uhrenverkäufer tauchen nun auf, alle aus dem schwarzen Teil Afrikas stammend, die hier ebenso ihr Auskommen suchen wie die Keksverkäufer, die Schutzputzer, die bettelnden Mütter mit ihren Kindern und zahllose andere.
Zwei Stunden später hat sich der Djeema el Fna gut gefüllt. Es ist Dezember, die Tagestemperaturen liegen bei rund 20 Grad, da lässt es sich auf dem Platz gut aushalten. Ganz anders als in den heißen Sommermonaten, wenn das Leben hier erst in den Abendstunden so richtig beginnt. Immer mehr ist jetzt zu sehen, und immer häufiger hole ich mein Handy für ein Foto hervor, doch die wirkliche Stimmung - die, die man erwartet, wenn man das Wort Djeema el Fna hört -, die kommt auch zu dieser Jahreszeit erst am Abend auf. Wenn die Sonne sich verabschiedet hat, wenn Tausende Lichter auf dem Platz und in seiner Umgebung angegangen sind und mehr und mehr Menschen herbeiströmen. Das Gedränge ist dann mitunter sehr heftig. Entlang einem Bauzaun - ein Teil des Platzes wird gegenwärtig neu gestaltet - haben die Betreiber von Garbuden ihre Tische und Bänke aufgebaut, Rauchschwaden verbreiten exotische Gerüche, Aufreißer werben um Gäste, und das mit einer Penetranz, die uns an die Vertreter der Weinfirmen auf der Berliner Grünen Woche denken lässt. Aufreißer gibt es auch anderswo, aber die sind weit moderater: bei den Schlangenbeschwörern mit ihren halbtoten Schlangen etwa oder bei den Männern mit den angeketteten und gewindelten Affen. Kein schöner Anblick für Tierschützer, allerdings ist die Resonanz dieser Art von Vorführungen erfreulicherweise (aus unserer Sicht, natürlich nicht aus der Sicht der Veranstalter) gering. Ein krasser Unterschied zu früheren Zeiten. Zumindest die Touristen sind bei den Tieren heutzutage deutlich sensibler - ich eingeschlossen. 1972 war ich das erste Mal in Marrakesch, und beinahe die Hälfte meiner Fotos auf dem Platz habe ich seinerzeit von den Schlangenbeschwörern gemacht. Ein deutlicher Hinweis, wie sehr mich deren Treiben damals noch fasziniert hat.
 
Akrobaten und Trommlergruppen, Wahrsagerinnen, Frauen, die Hände mit Henna bemalen, Verkäufer von Nüssen und süßem Gebäck, Männer an Obstständen, die köstliche Drinks mixen aus Papayas und Kakis, aus Mangos, Granatäpfeln und anderen Früchten, kein Ersatz für den hierzulande geächteten Alkohol, aber dafür sind diese Drinks sehr gesund. Dass der berühmte Platz keineswegs nur ein Ort für Touristen ist, sondern auch von der einheimischen Bevölkerung gern frequentiert wird, sieht man nicht zuletzt bei den Gruppen, die sich um einen Erzähler herum bilden: Jeweils ein paar Dutzend Männer unterschiedlichen Alters (in der Regel keine Frauen), die aufmerksam dem Mann in ihrer Mitte lauschen, der ihnen Geschichten erzählt. Eine uralte Tradition in arabischen Ländern, die bis heute lebendig ist, trotz Fernsehen und Internet.
 
 
Und dann sind da noch die Männer, die für unsere Sicherheit sorgen. Dass der in aller Welt bekannte Djeema el Fna sich wegen seiner Bedeutung als Anschlagsziel besonders gut eignet, wussten nicht zuletzt diejenigen, die im April 2011 in dem am Platz gelegenen Café "Argana" einen Sprengsatz zur Explosion brachten. 17 Menschen starben bei dem Anschlag, etliche wurden verletzt, ein Schockerlebnis für das ganze Land, das sofort die Horrorvorstellung von ausbleibenden Touristenmassen und damit vom Ausbleiben dringend benötigter Devisen hervorrief. Die marokkanische Regierung geht mit aller Härte gegen jegliche Anzeichen von Terrorismus vor, und das tut sie für jedermann sichtbar auch auf dem Djeema el Fna. Gemeinsame Patrouillen von Polizisten und Militärs sowie eine Polizeistation direkt am Platz mit Einsatzkräften in ständiger Bereitschaft (daneben gibt es vermutlich zahlreiche Beobachter in Zivil) sollen den Menschen ein Gefühl von Sicherheit vermitteln. Was ihnen auch recht gut gelingt, jedenfalls haben wir uns auf dem Djeema el Fna - und in Marrakesch ganz allgemein - nie gefährdet gefühlt. (Kein Anschlag in Marokko, aber ein Anschlag auf dem Berliner Weihnachtsmarkt an der Gedächtniskirche kurz nach unserer Rückkehr, dem Karin nur um Haaresbreite entgangen ist ...)
 
Den schönsten Blick auf das umtriebige Geschehen hat man von den Dachterrassen der angrenzenden Cafés und Restaurants aus. So viel ist dabei zu sehen, dass man gar nicht weiß, wohin man zuerst den Blick wenden soll. Der Djeema el Fna ist ein ganzer Kosmos an Leben. Sieht man von den modernen Elementen einmal ab, ist er jene Welt aus 1001 Nacht, von der unsere Kinderbücher berichteten. Eine Fülle von Farben, Geräuschen und Gerüchen, die jeden, der sich ihnen hingibt, in ihren Bann zieht. Auch heute noch.
 
Manfred Lentz (Januar 2017)
 
 
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