Die Orkneys
Inseln mit reicher Geschichte. Schottland 2008
 (Teil 1)
 
So könnte es im Reiseprospekt stehen: Die Orkneys sind ein in Sichtweite der schottischen Nordküste gelegener Archipel, bestehend aus 71 Inseln, von denen 20 bewohnt sind. Auf Mainland, der größten Insel, befinden sich der Fährhafen Stromness sowie Kirkwall, das Zentrum der Verwaltung. Etwa 20.000 Menschen leben auf den Orkneys. Der Name der Inselgruppe geht vermutlich auf die einstigen norwegischen Eroberer zurück und könnte "Seehundinseln" bedeuten.
 
Die Orkneys kann man von Scrabster aus erreichen, einem kleinen Ort auf dem schottischen Festland gegenüber dem Archipel. Eigentlich steht diese Inselgruppe nicht auf unserem Reiseplan, doch in Ullapool in den Highlands läuft uns ein Mann über den Weg, der gar nicht aufhören kann, von diesen Inseln - seiner Heimat - zu schwärmen. Allein das Leuchten in seinen Augen und die Begeisterung in seiner Stimme würden ausreichen, einen ganzen Werbefilm zu füllen. Für uns ist diese Begegnung die Aufforderung, uns selbst ein Bild von dem Gelobten Land zu machen. Und da wir auf unseren Reisen, was die Strecke anbelangt, in der Regel flexibel sind, steht einer Fahrt zu den Seehundinseln nichts im Wege.
 
 
Als wir in Scrabster auf die Fähre gehen, weht ein kühler Wind, es ist bewölkt, und nur selten zeigt sich ein Stück blauer Himmel. Schottisches Schmuddelwetter also, aber das macht uns nichts aus, denn dass hier nicht jeden Tag die Sonne scheint, ist uns natürlich bekannt. Schon bald taucht mit Hoy die erste Insel des Archipels vor uns auf, baumloses Land über einer Steilküste, davor der Old Man of Hoy, eine Felsnadel wie die Lange Anna von Helgoland, ein Produkt von Gezeiten und Wind. Später passieren wir die mit über 400 Metern zweithöchsten Klippen der Britischen Inseln. Um 19 Uhr sind wir losgefahren, aber wegen der Jahreszeit (Mitte Juni) ist es noch hell, als wir nach eineinhalbstündiger Fahrt Stromness erreichen. Fröhliche Farben sind es mitnichten, die uns empfangen - die Häuser sind graubraun, und das Grün zwischen ihnen macht auch keinen sonderlich frischen Eindruck. Einzige Farbkleckse sind ein paar Boote und einige Gegenstände auf der Pier. Welch krasser Unterschied zu den Häfen im Süden, in die wir auf anderen Reisen eingelaufen sind! Hätten wir dem Orkney-Schwärmer in Ullapool vielleicht doch nicht trauen sollen?
 
Graubraun sind die Häuser, und graubraun ist auch das Hotel am Hafen. "The Stromness Hotel" steht in großen Lettern auf der Fassade. Laut unserem Reiseführer wurde es im Jahr 1901 eingeweiht, und zweifellos hat es in den Jahrzehnten seither so manches gesehen. Wir haben Glück, ein Zimmer ist noch frei, also schlagen wir zu - und tauchen in die Vergangenheit ein: dunkles Holz und Blümchentapete, eine archaische Drehtür am Aufgang zu den Zimmern, antike Lampen und an der Wand Informationen über das Hotel auf betont farbenfroh gehaltenen Holztafeln. Offenbar versucht man mit ihnen das Grau-in-Grau vor der Tür auszugleichen. Es ist ein Ambiente, wie man es aus alten Filmen kennt, mit respektheischenden englischen Ladies à la Miss Marple und Pfeife rauchenden Gentlemen in Tweet-Jackets mit Karo-Muster. Käme in diesem Augenblick ein britischer Major mit Monokel und Reitpeitsche vorbei - wir würden uns nicht weiter darüber wundern, denn genau hier gehörte er hin. Fast sind wir ein wenig enttäuscht, als wir statt altmodisch herausgeputzter Ladies und Gentlemen nur 08/15-Touristen im Schlabberlook sehen.
Scapa Flow ist der Name des Restaurants in unserem Hotel ("Nur ausgewählte lokale Erzeugnisse der Orkneys: das beste Rindfleisch von der Weide, fangfrischer Fisch und erstklassige Schalentiere."). Scapa Flow ist der Name der großen, aus mehreren kreisförmig angeordneten Inseln gebildeten Bucht, nach der das Restaurant benannt ist und auf die wir von unserem Zimmer aus blicken. Sie ist einer der größten Naturhäfen der Welt. Aber Scapa Flow ist auch das Synonym für zwei düstere Kapitel der jüngeren Geschichte. Die heutige Generation wird damit wohl nur wenig anfangen können, für unsere Eltern und Großeltern hingegen war der Name dieser abgelegenen Bucht ein Begriff. Es war am Ende des 1. Weltkriegs, Deutschland hatte verloren, und 74 seiner Kriegsschiffe wurden in Scapa Flow interniert. Da deren Kommandant befürchtete, die Schiffe könnten von den Briten übernommen werden, gab er im Juni 1919 den Befehl zur Selbstversenkung der gesamten Flotte. Die Besatzungen - knapp 2.000 Mann - gingen zuvor in Rettungsbooten von Bord. Als den Briten klar wurde, was sich da unmittelbar vor ihren Augen abspielte, war es zum Eingreifen bereits zu spät. Beinahe alle Schiffe sanken. Etliche von ihnen wurden in späteren Jahren gehoben, doch einige von ihnen liegen noch immer auf Grund und sind heute ein beliebtes Ziel von Wracktauchern. Ein zweites Mal geriet Scapa Flow im Jahr 1939 in die Schlagzeilen der Weltpresse. Damals gelang es einem deutschen U-Boot, unbemerkt in die Bucht einzudringen - die wie schon im 1. Weltkrieg den Hauptstützpunkt der britischen Flotte bildete -, eines der dort liegenden Schlachtschiffe ("HMS Royal Oak") zu versenken und anschließend unbehelligt zu entkommen. 833 britische Seeleute fanden bei dieser Aktion den Tod. Der Kapitän des U-Bootes wurde von Hitler persönlich ausgezeichnet und zu einem Kriegshelden Nazideutschlands hochstilisiert.
 
 
Wie die Briten auf diesen Angriff seinerzeit reagierten, sehen wir auf einem unserer Ausflüge. Wo einst Wasser die Inseln um Scapa Flow voneinander trennte, sind einige heute durch Dämme miteinander verbunden. Churchill Barriers heißen diese Verbindungen nach dem Namen des damaligen britischen Premierministers Winston Churchill. Im Jahr 1940 wurde mit ihrem Bau begonnen, die Arbeit verrichteten italienische Kriegsgefangene. Da Kriegsgefangene gemäß den Bestimmungen der Genfer Konvention nicht zu militärischen Zwecken eingesetzt werden durften, erklärte man die Bauarbeiten kurzerhand zu Infrastrukturmaßnahmen: zu Straßenverbindungen zwischen den bis dahin isoliert liegenden Inseln. Einen militärischen Nutzen hatten die Dämme für die Briten nicht mehr, da sie erst zum Kriegsende fertiggestellt wurden. Für den Verkehr waren sie in der Folgezeit allerdings sehr wohl von Nutzen, und nützlich sind sie nun auch für uns, gelangen wir mit unserem Auto doch im Handumdrehen auf die benachbarten Inseln. Womit auch ein Besuch der auf einer von ihnen gelegenen Italian Chapel zu einer einfachen Angelegenheit wird. Die italienischen Gefangenen haben sie seinerzeit neben ihrer Arbeit an den Barriers mit primitivsten Mitteln errichtet - zwei zusammengefügte Nissenhütten mit einer vorgesetzten Fassade. Gleich neben der Kapelle befindet sich eine Statue des Heiligen Georg, des Drachentöters, die ebenfalls von den Gefangenen während des Krieges geschaffen wurde.
 
Zu unserem nächsten Ziel ist es nicht weit - Kirkwall, das Verwaltungszentrum für die Orkneys und die noch weiter nördlich liegenden Shetland-Inseln. Mit rund 7.000 Einwohnern ist Kirkwall der größte Ort auf den Orkneys, eine Stadt mit einer Kathedrale und mit "Highland Park", der nördlichsten Whiskydestillerie Schottlands. Die Stadt macht auf uns einen ärmlichen Eindruck, vermutlich die Folge schlechter Arbeitsbedingungen für ihre Bewohner in dieser abgeschiedenen Lage. Sehr viel reizvoller ist da schon die Landschaft, durch die wir anschließend fahren: flach und baumlos, mit saftig grünen Wiesen, auf denen Schafe und Kühe grasen, und vereinzelten Gehöften, mit Wasser zwischendurch und gelegentlich mit einer dieser knallroten Telefonzellen am Straßenrand, wie wir sie auch in den schottischen Highlands gelegentlich angetroffen haben. Eine einsame, raue Landschaft, die aber dennoch in den vergangenen Jahrtausenden immer wieder Menschen angezogen hat.
 
(Wird fortgesetzt)
 
Manfred Lentz (Februar 2017)
 
 
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