"Riad el Borj"
Neun Tage in der Medina von Marrakesch. 2016
 
Ankunft Marrakesch Flughafen, mit einem Taxi in die Innenstadt, bis uns der Fahrer mit den Worten "Weiter darf ich nicht fahren" aus seinem Wagen herauskomplimentiert. Irritiert stehen wir mit unserem Gepäck am Straßenrand, denn natürlich hatten wir erwartet, dass man uns bis zu unserer Unterkunft bringen würde. Sofort bieten mehrere Führer ihre Dienste an, doch wenn man als Neuling in einer Stadt noch keine rechte Orientierung hat und auch das Preisgefüge nicht kennt, riskiert man, nur allzu schnell über den Tisch gezogen zu werden. Also verzichten wir auf alle Offerten, was im Zeitalter von GPS und Offline-Maps ja auch kein Problem ist. Zwanzig Minuten später stehen wir mitten in der Medina (der Altstadt) in der Rue Derb Dabachi am Eingang in eine Gasse mit dem Namen Moulay Abdelkader. Erneut sind wir irritiert. Hier soll unsere Unterkunft liegen? fragen wir uns. In dieser fast ein wenig ärmlich wirkenden Umgebung? Doch wir haben gebucht, also - unsere Rollkoffer hinter uns her ziehend - hinein in die Gasse. Im vorderen Teil wird sie von einem berankten Gerüst überspannt, eine Konstruktion, die während der heißen Sommermonate zweifellos äußerst angenehm sein dürfte, die aber jetzt, im Dezember, nicht wirklich gebraucht wird. Linker Hand steht auf einem Schild "WC" über einer Tür, eine öffentliche Toilette, schräg gegenüber wartet ein winziger Friseurladen auf Kunden. In grün gestrichenen Ölfässern recken Pflanzen ihr dürres Blattwerk gen Himmel. Es folgt eine Quergasse, dann ein Bogen mit einem sichtlich uralten hölzernen Tor, danach rücken die Hausmauern enger zusammen, und wir gelangen in einen halbdunklen, nach oben hin geschlossenen Durchgang. Das erdfarbene Gemäuer wirkt abweisend, Fenster gibt es fast keine, die Hausnummer unserer Unterkunft ist im schwachen Schein einer Lampe nur schlecht zu erkennen. Abermals bedrängen uns Zweifel, ob wir hier richtig sind. Bei dem Onlineportal Booking.com haben wir gebucht, aber natürlich sind auch Profis nicht gegen Fehler gefeit, jedenfalls haben wir in diesem Augenblick keine andere Erklärung. Doch wo ist die Alternative? Es gibt keine, darum betätigen wir den eisernen Türklopfer und warten gespannt wie Ali Baba, als er mit seinem "Sesam öffne dich!" vor der Schatzhöhle stand.
Die Tür wird aufgesperrt, und was wir sehen, lässt uns staunend innehalten. Mit einem solchen Ambiente hatten wir weiß Gott nicht gerechnet! Vor uns liegt ein Patio (ein Innenhof) mit einem kleinen Brunnen in der Mitte, mit Grünpflanzen sowie vier schlanken Bäumchen, an denen Orangen hängen. Aus bunten Steinen zusammengesetzte Mosaiken im traditionellen marokkanischen Stil bedecken den Boden. Um den Patio herum gruppieren sich mehrere Räume, die Türen sind mit floralen Ornamenten bemalt, die Rahmen mit Stuckarbeiten verziert, wie wir sie bisher nur aus Palästen oder Moscheen kannten. Ein freundlicher Marokkaner - er stellt sich als Aziz vor - führt uns über eine Treppe in das erste Stockwerk, dessen Mitte ganz von den Kronen der Orangenbäumchen aus dem Patio ausgefüllt ist und an dessen Rändern sich Gästezimmer befinden, darunter das für uns bestimmte. Auch hier wieder islamisches Dekor, das auf Anhieb anheimelnd wirkt. Über diesem Stockwerk befindet sich ein zweites, auf dem man uns während unseres Aufenthaltes das Frühstück servieren wird, noch höher gibt es ein Türmchen mit einem weiteren Gästezimmer. In dieses werden wir in den folgenden Tagen hinüberwechseln, eine wohlmeinende Geste des Besitzers, die uns eine eigene Terrasse mit einer großartigen Aussicht auf Marrakesch beschert. Alles um uns herum ist farbenfroh gestaltet, hinzu kommt das viele Grün, und außerdem ist da noch diese nur von Vogelgezwitscher durchbrochene Stille, mit der wir mitten in der von tausend Geräuschen erfüllten Altstadt nicht gerechnet hätten. Auch wenn ich Gefahr laufe, ein Klischee zu bemühen - uns erscheint diese Unterkunft, die in den nächsten Tagen unser Zuhause sein wird, wie ein wunderbares kleines Paradies.
 
 
"Riad al Borj" ist der Name unserer Unterkunft, wobei das Wort Riad die Bezeichnung für diesen Typus eines großzügig angelegten Stadthauses ist. Nach außen hin weitgehend abgeschlossen, bietet ein traditioneller Riad der in ihm lebenden Familie alle erdenklichen Annehmlichkeiten einschließlich eines Gärtchens mit Wasser und Grün, also genau dem, was für die Menschen in diesem heißen Teil der Erde besonders kostbar ist. Dass diejenigen, die ein solches Gebäude einst errichteten und in ihm lebten, nicht zu den Armen der Stadt gehörten, liegt auf der Hand. Dennoch gab es eine Zeit, in der viele Riads verfielen: als nach der Erlangung der Unabhängigkeit im Jahr 1956 zahlreiche Franzosen Marokko verließen und ein Teil der neu entstehenden einheimischen Elite auf der Suche nach einem "modernen" Lebensstil den bisherigen Wohnsitz aufgab und aus der Altstadt in die Neustadt zog. Ein Ende fand dieser Niedergang der Riads erst gegen Ende der 1990er Jahre, als Ausländer deren Reiz entdeckten, angetrieben von Filmen und Romanen, die Marrakesch in leuchtenden Farben schilderten. Wobei die Begeisterung für die Stadt alles andere als neu war. Bereits früher hatten Menschen aus westlichen Ländern für Marrakesch geschwärmt, Aussteiger etwa, die sie bereits seit den 1950er Jahren für ihre persönliche Entfaltung entdeckt hatten, aber auch Prominente wie Winston Churchill, Coco Chanel oder der Schriftsteller Elias Canetti. Popgruppen hatten ihr Songs gewidmet wie Crosby, Stills & Nash mit ihrem "Marrakesh Express", einem Zug, der die sehnsüchtig Suchenden in die Stadt trägt, um dort eine andere, eine faszinierende Welt zu entdecken. Marrakesch, das war das Idealbild des Orients, war die Wiederbelebung der Welt aus "1001 Nacht", in der alles ganz anders war als in den nüchternen, auf Effizienz und permanenten Fortschritt getrimmten westlichen Industriegesellschaften. Entsprechend begannen Ausländer, sich in diesen Sehnsuchtsort einzukaufen.
 
Einer von ihnen ist der Besitzer unseres Riads, ein französischer Lehrer, der während eines längeren beruflichen Aufenthalts in Marrakesch seine Liebe zu dieser Stadt entdeckte und für den sprichwörtlichen "Appel und ein Ei" einen heruntergekommenen Riad erwarb. Mit Geld und viel Engagement hauchte er ihm anschließend jenes Leben ein, das uns bei unserem Besuch zum Staunen bringt. Inzwischen ist es ein illustrer Kreis, der das Gleiche gemacht hat - hängen gebliebene Touristen, russische Milliardäre, deutsche Rentner und nicht zuletzt Prominente. Deren Liste ist lang und reicht von Mick Jagger, Paul McCartney und dem Starmodel Naomi Campbell über Sting und die Beckhams bis zu dem Media-Markt-Gründer Walter Gunz und dem Ex-Telekom-Vorstand Bernd Kolb. Auch der Modeschöpfer Yves Saint Laurent ließ sich von Marrakesch verzaubern, allerdings lebte er nicht in der Medina, sondern in der Neustadt, wo er den Garten "Jardin Majorelle" anlegte, der heute zu den Highlights der Stadt gehört. Gab es im Jahr 1999 erst 150 ausländische Hausbesitzer in der Medina, so stieg deren Zahl innerhalb weniger Jahre auf über 1.000 an. Viele der Riads wurden von ihren Besitzern zum eigenen Gebrauch hergerichtet, die meisten indes werden als Hotels genutzt und an Touristen vermietet. So wie unserer.
 
 
Wir stehen auf der Dachterrasse des "Riad el Borj" und lassen unsere Blicke über die Stadt schweifen. Um uns herum erstreckt sich die Medina mit ihrem Häusergewirr, dazwischen ragen die Minarette mehrerer Moscheen empor, von denen die Muezzine fünf Mal am Tag die Gläubigen zum Gebet rufen. Ein Ereignis mit Atmosphäre, ein authentisches Stück Orient - das allerdings durchaus auch lästig sein kann, wenn man Tag für Tag lange vor Sonnenaufgang von einem minutenlangen lauten Sprechgesang aus dem Schlaf gerissen wird. Am Horizont sind die Viertausender des Hohen Atlas mit ihren schneebedeckten Gipfeln zu erkennen, davor wiegen sich hier und da Palmen im Wind. Angesichts eines solchen Szenarios ist es kein Wunder, dass der Marrakesch-Tourismus seit Jahren beständig zunimmt. Seit 2006 haben sich die Übernachtungskapazitäten beinahe verdoppelt, und noch mehr sind im Entstehen, viele davon in weiteren sanierten Riads in der Altstadt. Dabei profitiert das Königreich zu einem erheblichen Teil von der inneren Stabilität, die es verglichen mit anderen islamischen Staaten zu einem Ausnahmeland macht. Von wenigen Zwischenfällen abgesehen, hat der Terrorismus bis heute einen Bogen um Marokko gemacht, und der König und seine Regierung unternehmen alles, damit es so bleibt. Sollte ihnen das gelingen, wird die Bedeutung Marrakeschs als Reiseziel in den nächsten Jahren wohl weiter zunehmen - dieser "Perle des Orients" mit ihren Bauwerken aus einer großen Vergangenheit, mit ihrer quirligen Altstadt und den farbenfrohen Märkten, mit der einzigartigen Lage zwischen Meer, Hochgebirge und der Sahara sowie mit ihren freundlichen Menschen. Und nicht zuletzt mit ihren Riads, diesen kleinen Palästen mit der Atmosphäre aus "1001 Nacht".
 
Manfred Lentz (März 2017)
 
 
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