Schönheit mit Verfallsdatum
Die Felsbögen im Arches National Park im
Die Felsbögen im Arches National Park im
US-Bundesstaat Utah. 2011
Moab steht auf dem Schild der kleinen Stadt im US-amerikanischen Bundesstaat Utah, ein Name, den Mormonen ihr einst gegeben haben. Er erinnert an ein in der Bibel erwähntes Land, in dem die Bewohner besonders strenggläubig waren, so wie die Mormonen es ebenfalls sein wollten. Heutzutage scheint die Strenggläubigkeit nicht mehr die dominierende Haltung in Moab zu sein, zumindest haben wir diesen Eindruck, als wir die breite Hauptstraße hinunterfahren. Wo einst gottesfürchtige, wohlgesittete und züchtig bekleidete Herrschaften unterwegs waren, deren Tagesablauf im wesentlichen von Arbeiten und Beten bestimmt war, ist es heute eine völlig andere Klientel, die dem Ort sein Gepräge verleiht. Moab, so entnehmen wir unserem Reiseführer, ist ein Mekka für Extremsportler. Für junge, oftmals flippige Menschen aus aller Welt auf der Suche nach Events mit dem besonderen Kick. So viele von ihnen sind es am Tag unserer Ankunft, dass wir viel Zeit brauchen, bis wir endlich ein Quartier gefunden haben. Ob Wildwasser-Rafting, Motocross-Touren, Mountainbiken in extremem Gelände oder halsbrecherische Fahrten mit dem Quad - hier, in dieser angesagten Location im Südwesten der USA, dürfte vermutlich mehr Adrenalin ausgeschüttet werden als an den allermeisten anderen Orten dieser Welt. Wir selbst sind keine Adrenalin-Junkies, wir sind stinknormale Touristen und nur deshalb in Moab, weil sich in unmittelbarer Nähe mit dem Arches Park eine US-amerikanische Fünf-Sterne-Sehenswürdigkeit befindet. Einer der bedeutendsten Nationalparks des Landes. So prominent, dass die meisten Zeitgenossen, auch wenn sie selbst noch nie dort waren, bereits das eine oder andere Bild von ihm gesehen haben. Vor allem vom ... Halt, nein, davon später.
Arch heißt zu Deutsch Bogen, und Bögen sind es - genauer: solche aus Fels -, die dem Park seinen Namen gegeben haben. Auf rund 2.000 beläuft sich ihre Zahl, von den kleinsten mit einem Durchmesser von mindestens drei Fuß, das sind etwa 90 cm (die kleineren werden gar nicht erst gezählt), bis zum gigantischen Landscape-Arch mit stolzen 93 Metern von einer Basis zur anderen. Doch nicht nur nach der Größe bemisst sich die Bedeutung eines Bogens, oft ist es auch seine Form, die ihn zu einem besonderen macht. Sehen kann man sie alle - neben einer Fülle weiterer beeindruckender Felsformationen -, wenn man die Straße von Moab aus in nördlicher Richtung verlässt und der Beschilderung folgt. Oder indem man den anderen hinterherfährt, denn der Besucherandrang in diesem Nationalpark ist enorm. Mehr als eine Million Menschen reisen jedes Jahr an, um die steinernen Kunstwerke der Natur zu bewundern, die meisten davon in den kühleren Monaten und weniger in den heißen, wenn das Thermometer in dieser wüstenartigen, nahezu schattenlosen Landschaft die 40-Grad-Marke überschreitet und die normalerweise völlig harmlosen Ausflüge zur Tortur werden. Rund 300 Quadratkilometer groß ist der Park, er liegt in einer durchschnittlichen Höhe von 1.500 Metern auf dem Colorado-Plateau, das von dem gleichnamigen Fluss seinen Namen hat. Erschlossen wird der Arches Park von einer gut ausgebauten Straße mit zahlreichen Haltepunkten, von denen aus meist leicht zu begehende Wanderwege zu den Highlights führen. Und Highlights gibt es in diesem Nationalpark nicht wenige.
Etwa den Double Arch, bestehend aus zwei großen Bögen, die beinahe rechtwinklig zueinander stehen, oder den Partition Arch, der sowohl durch seine Größe besticht als auch durch die spektakuläre Panorama-Sicht auf die Umgebung. Hohe Sandsteinwände ergänzen dieses Freilichtmuseum, pilzförmige Gebilde und bizarre Formationen wie der Balanced Rock, ein dicker Brocken, der auf einer Felsnadel "balanciert". Kein Wunder, dass Regisseure den Nationalpark immer wieder als Kulisse für ihre Filme ausgewählt haben, insbesondere für Western.
Ihre Entstehung verdankt die auf der Erde einzigartige Landschaft einer Kombination aus unterirdischen Salzlagern, darüber liegendem Sandstein und der erodierenden Wirkung von Wasser und Eis in Verbindung mit extremen Temperaturen. Seit mehr als 100 Millionen Jahren läuft dieser Prozess, und bis heute hält das Wirken der Naturkräfte unvermindert an. Was wir uns nur schwer vorstellen können an diesem Tag, an dem wir im Park unterwegs sind: Die Temperaturen sind angenehm, von Wasser und Eis keine Spur, und der mild wehende Wind entbehrt ebenfalls jeglicher Dramatik. Obwohl die Zahl der Besucher im Park beträchtlich ist, bleibt angesichts von dessen Dimension für den Einzelnen immer noch genug Raum für Idylle. Truthahngeier kreisen über unseren Köpfen, Insekten surren umher, dann und wann hören wir das Zwitschern von Vögeln. Für uns sind dies die einzigen Zeugen tierischen Lebens, die sonstige Fauna versteht es offensichtlich hervorragend, sich vor uns zu verstecken. Die Maultierhirsche und die Kojoten etwa, die Stachelschweine, die Rotluchse und die niedlichen Erdhörnchen, die ich liebend gern digital eingefangen hätte, ganz im Gegensatz zu den Klapperschlangen, an deren Anblick ich mich lieber auf YouTube-Videos erfreue. Spärlich ist die Pflanzenwelt: diverse Arten von Gräsern, Kiefern und knorrige Wacholdersträuche, die dem Wechsel zwischen glühender Sommerhitze und eisigen Wintertemperaturen zu trotzen vermögen. Wiederholt stoßen wir auf abgestorbene Bäume, von denen manche wie die Skelette von Urzeittieren erscheinen. Hat es geregnet, was in dieser Landschaft naturgemäß nur selten geschieht, bilden Blumen einen Kontrast zu der sonstigen Ödnis. Und dann sind da auch noch die Linien und allerlei andere Muster in dem felsigen Gestein, die die Erosion hervorgebracht hat und die aussehen, als wären sie das Werk von Künstlern.
Und dann stehen wir vor dem berühmtesten aller Bögen des Nationalparks, und schon auf den ersten Blick ist uns klar, dass er eine solche Bezeichnung verdient hat. Die Rede ist vom Delicate Arch. Rund 20 Meter hoch und etwa 70.000 Jahre alt ist der Bogen aus rotem Sandstein, und schon von der Form her ist er eine eindrucksvolle Erscheinung. Doch das ist es nicht allein, worauf sein Ruhm sich gründet. Ganz wesentlich ist auch der Hintergrund, vor dem er seine Wirkung entfaltet - die fast 4.000 m hohen Berge der La Sal Mountains mit Schnee auf den Gipfeln, was in dieser wüstenähnlichen Landschaft beinahe skurril anmutet. Weil dieses Ensemble so eindrucksvoll ist, haben die Verantwortlichen in Utah es auf das Autokennzeichen ihres Bundesstaates gesetzt, auf dass jedermann immer wieder sehe, was Utah zu bieten hat. Bei den Touristen, die auf einem nicht ganz leicht zu begehenden Pfad zum Delicate Arch hinpilgern, um sich anschließend unter ihm ablichten zu lassen, ist diese Botschaft angekommen: ein perfekt geformter Steinbogen vor einem grandiosen Hintergrund, und unter dem Bogen ein kleiner Mensch - das ideale Urlaubsfoto für einen selbst und für die Lieben daheim. Laut Reiseführer gehört der Delicate Arch zu den am meisten fotografierten Naturdenkmälern der Welt, und wenngleich Reiseführer oft schummeln und ihre jeweiligen Inhalte in den Rang von Weltsensationen erheben - in diesem Fall dürften sie mit ihrer Behauptung durchaus richtig liegen.
Ein Highlight, aber eines mit Verfallsdatum - das ist dieser Bogen, nicht anders als alle übrigen Bögen im Park. Dass sie eines Tages einstürzen werden wie der Wall Arch im August 2008 - von der Größe her die Nummer zwölf im Park -, das ist ebenso sicher wie der Umstand, dass sie bis dahin noch unzählige weitere Besucher aus aller Welt anziehen werden. Die Natur hat diese eindrucksvollen Gebilde geschaffen, aber sie hat ihnen auch ein Ende gesetzt, vielleicht erst in Tausenden oder in Zehntausenden von Jahren, aber irgendwann werden nur noch Trümmer an die gegenwärtigen Attraktionen erinnern. Felsbrocken, die die Erosion anschließend noch weiter abschmirgeln wird, bis am Ende nur noch Sand übrigbleibt, während gleichzeitig neue Bögen entstehen, die unsere Ururururenkel eines Tages vielleicht besuchen werden. Ob der Mensch in diesen natürlichen Prozess eingreifen sollte, ob er mit technischen und chemischen Mitteln den Verfall zumindest der berühmtesten Bögen aufhalten sollte, um sie für spätere Generationen zu bewahren - diese Frage ist schon in den 1950er Jahren gestellt worden und seither immer mal wieder. Bisher haben sich die Verantwortlichen stets für ein Nein entschieden. Man wolle die Natur vor den Menschen schützen, so lautet ihr Credo, aber ansonsten wolle man sie sich selbst überlassen. Sollte sich an dieser Haltung nichts ändern, so wird es eines Tages keinen Delicate Arch mehr geben und auch nicht die anderen heute so berühmten Bögen. Doch das ist noch sehr, sehr lange hin, weshalb jeder, der ihnen irgendwann einen Besuch abstatten will, ganz entspannt bleiben kann. Oder anders gesagt: In diesem Fall tut Eile einmal nicht not.
Manfred Lentz (April 2017)
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