Drei Wochen Peru (Teil 2)
Millionen Vögel und ein Mumienfriedhof. 2017
 
"Merda d'artista" nannte der italienische Konzeptkünstler Piero Manzoni in den 1960er Jahren ein spektakuläres Projekt - "Künstlerscheiße". Er füllte jeweils 30 Gramm seiner eigenen Fäkalien in 90 Dosen - geruchsfest, wie er versicherte -, markierte diese mit fortlaufenden Nummern und verkaufte sie für 40 Dollar das Stück. Sämtliche Dosen fanden Abnehmer, und während der Künstler mit gerade einmal 30 Jahren aus dem Leben schied, blieben seine "Kunstwerke" der Welt erhalten. Und sie gewannen an Wert: Im Jahr 2008 kam eine der Dosen bei "Sotheby's" unter den Hammer - für unfassbare 132.000 Euro. Eine wahrhaft bemerkenswerte Umsetzung der Redensart "aus Scheiße Gold machen".
 
Doch Manzoni war nicht der erste, dem eine solche spektakuläre Metamorphose gelang. Rund 100 Jahre vor ihm hatten es andere bereits geschafft, Fäkalien in klingende Münze zu verwandeln. Guano hießen diese Fäkalien, ein Wort aus dem Quechua, einer Sprache, die heute noch von jedem dritten Peruaner gesprochen wird. Über das Spanische fand das Wort Eingang in die deutsche Sprache, und zumindest Gartenbesitzer werden damit auch heute noch etwas anzufangen wissen. Guano ist ein stickstoff- und phosphorsäurehaltiges Düngemittel und war jahrzehntelang in der Landwirtschaft heiß begehrt, bis es dem deutschen Chemiker Fritz Haber im Jahr 1908 gelang, einen Kunstdünger herzustellen, der dem Guano in kürzester Zeit den Rang ablief. Erhältlich ist letzterer aber auch heute noch, und es gibt nicht wenige Gärtner, die auf ihn schwören. Woher ein großer Teil dieses weltweit gehandelten Düngers stammt, erfahren wir am Tag 4 unserer Peru-Reise.
 
 
Aufstehen um fünf, eine Stunde später holt uns ein Bus in dem kleinen Ort Huacachina an der peruanischen Pazifikküste ab und bringt uns ins nahegelegene Paracas. Von dort geht es per Boot weiter. Die aus drei Inseln und mehreren Felsen bestehenden Islas Ballestas sind unser Ziel, eine Fünf-Sterne-Touristenattraktion, wie wir bald feststellen, denn wir sind keineswegs das einzige Boot, das um die Inseln kurvt. Anlegen und Aussteigen ist auf keiner von ihnen möglich, die Inseln bilden ein Schutzgebiet, zu dem nur diejenigen Zutritt ab, die den Guano abbauen Aber der Reihe nach. Denn bevor uns die Führerin etwas über den Guano erzählt, zeigt sie uns auf einer ersten Insel ein riesiges Scharrbild, das sie einen "Kandelaber" nennt, weil er wie einer aussieht. Was sie wirklich darstellt, weiß niemand. Die Menschen, die das Bild vor hunderten von Jahren in den Boden geritzt haben, kannten keine Schrift, haben also auch keine Aufzeichnungen hinterlassen. War es ein Hinweis auf einen Piratenschatz, wie manche meinten, die nach Erklärungen suchten? Sollte es den Blitzstrahl eines Gottes darstellen? Eine Verbindung zu einem Sternzeichen? Was immer dieser merkwürdige "Kandelaber" auch sein mag - ein Geschenk für die örtliche Tourismusindustrie ist er auf jeden Fall, wenn auch längst nicht so bekannt wie die weltberühmten Nazca-Linien, das bedeutendste Highlight dieser Gegend.
 
Die Führerin verbreitet sich noch über weitere Einzelheiten zu dem "Kandelaber", als unser Boot bereits abdreht und mit schnellem Tempo auf eine andere Insel zuhält. Und dann kommen sie auch schon in Sicht: Millionen von Seevögeln, die diese und die benachbarten Inseln bevölkern, Kormorane und Seeschwalben, Guano-Tölpel, Pelikane und Pinguine sowie diverse andere Arten. Da die aus Kalkstein bestehenden Inseln völlig kahl sind, drängt sich die Frage nach dem Grund für die Anwesenheit dieser riesigen Vogelschwärme auf. Zum zweiten Mal auf unserer Reise fällt der Name Humboldtstrom. In Lima haben wir bereits gelernt, dass diese aus der Antarktis stammende kalte Meeresströmung für das dortige monatelange neblige Wetter verantwortlich ist. Hier nun sorgt sie für ein geradezu überreiches Vorhandensein von kleinen und kleinsten Meerestieren, die sich in dem kalten Wasser äußerst wohl fühlen. Was wiederum die Vögel erfreut, denn für diese bedeuten die Tierchen einen reich gedeckten Tisch. Womit wir der eingangs erwähnten Redewendung "aus Scheiße Gold machen" bereits recht nahe sind: All diese Vogelschwärme fressen, verdauen und - das Wichtigste - sie scheiden aus, und das in solchen Dimensionen, dass auf den Inseln über die Jahre eine mehrere Meter dicke Schicht davon angewachsen ist, die mit dem Quechua-Wort Guano belegt worden ist. Was es in unseren Gartencenters unter diesem Namen zu kaufen gibt, ist also nichts anderes als die Verbindung von Vogelkot mit dem Kalkstein der Inseln.
Seemöwen umschwirren uns, Papageientaucher und Kormorane, überall fliegt, segelt und landet es, stürzt senkrecht ins Meer und taucht mit Fischen wieder auf, beginnt zu fressen oder die Brut zu versorgen, und jedes Mal, wenn einer der Vögel die Beute verdaut, wächst der Inselschatz namens Guano ein winziges Stück höher. Über jeweils sieben Jahre liegen die Inseln völlig unberührt, dann machen sich Männer über den angesammelten Guano her, ernten ihn und transportieren ihn ans Festland, von wo er den Weg in die Welt findet. In der Vergangenheit gab es im übrigen neben den Gärtnern noch eine zweite Gruppe, die an dem Vogelkot höchst interessiert war: das Militär. Wegen des Gehaltes an Calciumphosphat war Guano auch für die Herstellung von Sprengstoff geeignet, was eine Internetseite drastisch, aber zutreffend zu der Formulierung angeregt hat "aus Kacke Bomben bauen". Heute ist die militärische Nutzung kein Thema mehr, aber zur Zeit unserer Großväter waren die Lieferungen von den Islas Ballestas eben auch zu diesem Zweck ein heiß begehrtes Gut.
 
Ein riesiger "Kandelaber", über den die Experten nichts Genaues wissen ... Eine Tagesreise später nahe der Kleinstadt Nazca sind es ebenfalls Scharrbilder, die die Fachwelt vor Rätsel stellen. Kilometerlange Linien gehören dazu, außerdem riesige Tiere wie etwa ein Affe, ein Kolibri und eine Spinne. Was diese Bilder besonders rätselhaft macht, ist die Tatsache, dass man sie alle nicht vom Boden aus, sondern erst aus größerer Höhe deutlich erkennen kann. Von einem Flugzeug aus, weshalb auf dem Flugplatz von Nazca kleine Propellermaschinen bereitstehen, um die interessierten Besucher aus aller Welt über die Zeichen aus der Vergangenheit zu fliegen. Auch wir hatten mit dem Gedanken an einen solchen Flug gespielt, doch ließ uns eine Information über zahlreiche verunglückte Flüge auf der Webseite des Auswärtigen Amts in Berlin von diesem Vorhaben Abstand nehmen. "No gracias", lautet denn auch unsere Antwort an den Taxifahrer, der uns vom Busbahnhof in Nazca zu unserem Hotel bringt und uns so ganz nebenbei einen Flug vermitteln will, ebenso wie die Antwort an den Mann an der Rezeption und den Kellner in einem Lokal. Nein, wir wollen nicht fliegen. Wir haben uns eine andere Sehenswürdigkeit ausgesucht: einen außerhalb der Stadt gelegenen Mumienfriedhof.
 
 
Ägyptische Mumien haben wir bereits in natura gesehen, indianische hingegen kennen wir bisher nur von Bildern. Hier begegnen wir ihnen nun erstmals live. Und nicht etwa - was uns zutiefst erstaunt - in einem Museum, wo sie sich hinter Glas und gesichert durch Alarmanlagen den Besuchern präsentieren, sondern völlig ungeschützt auf dem Originalfriedhof in den Originalgräbern, wo sie einstmals bestattet wurden. Nicht von den Inka - ist die Rede von Peru, so denken wohl die meisten zuerst an die Inka,  doch deren Kultur war nur eine von vielen. Vor ihnen gab es etliche andere, und eine von denen hat vor über 1.000 Jahren diesen Mumienfriedhof angelegt. Vertiefungen in der Erde deuten darauf hin, dass an diesen Stellen bereits gegraben wurde, in der Regel allerdings nicht von fachkundigen Archäologen, die in mühevoller Kleinarbeit alle Ergebnisse ihrer Grabungen akribisch notiert haben, sondern von Grabräubern. Männern - oder vielleicht waren auch Frauen dabei -, die klammheimlich die Gräber geöffnet und alles entwendet haben, was ihnen verkäuflich erschien: die Mumien selbst, aber auch die Grabbeigaben, darunter vermutlich einzigartige Kunstschätze, die auf Nimmerwiedersehen in irgendwelchen Privatsammlungen verschwanden. Etwa ein Dutzend Gräber stehen offen, die Beigaben sind bis auf weniger wertvolle Dinge verschwunden, aber etliche Mumien sind nach wie vor erhalten. Es ist ein verstörender Anblick, wie sie da in ihren Gräbern hocken: die Reste ihrer Körper in Tücher gehüllt, weiß gebleichte Totenschädel, bei mehreren von ihnen sind noch die Haare erhalten. Lange Haare, sehr lange, die darauf hindeuten, dass diese Menschen nicht arbeiten mussten, es sich also um Angehörige einer Oberschicht handelte. Dass die Mumien bis heute so gut erhalten sind, liegt an der extremen Trockenheit dieser Gegend, in der im Jahr gerade einmal zwei Millimeter Regen fallen. Erstaunt über die offene Präsentation der Toten wenden wir uns an den jungen Peruaner, der uns über die Begräbnisstätte führt: "Hier kann doch jedermann kommen und die Mumien aus ihren Erdkammern stehlen", zeigen wir uns besorgt. Genau so sei es, bestätigt uns unser Gegenüber, hier gebe es nur einen alten Mann und einen Hund, die für die Bewachung des Friedhofes zuständig seien, das sei alles. Worauf er sichtlich zornig das Desinteresse der Regierung beklagt, diese großartigen Schätze aus der Vergangenheit des Landes zu schützen. Es ist ein Vorwurf, den wir in den nächsten Tagen noch des öfteren hören sollen: Eigentlich sei Peru ein reiches Land, insbesondere auch an Bodenschätzen reich, aber es werde von unfähigen und korrupten Politikern regiert, die es versäumten, den Reichtum des Landes im Interesse des Volkes zu verwalten. Bleibt zu hoffen, dass bei diesem einzigartigen Mumienfriedhof am Ende nicht wieder die Grabräuber das Rennen machen werden.
 
(Wird fortgesetzt)
 
Manfred Lentz (September 2017)
 
 
Der erste Bericht über Peru findet sich unter der Nummer 174.
 
 
Die neuen Berichte auf reiselust.me erscheinen jeweils
am 1. und 15. jedes Monats