Top-Adressen der Wiener Museumslandschaft (Teil 1)
Das Naturhistorische Museum. Österreich 2017
 
So kann man sich täuschen. Die Wiener Innenstadt war Donnerstagnachmittag Österreichs Hitzepol , meldet die Zeitung Der Standard am 3. August, und nennt den Wert: 38,9 Grad, der bis dahin heißeste Tag des Jahres. Und am nächsten Tag sollen es nicht weniger werden. Das ist nicht die Temperatur, bei der man stundenlang auf Sightseeing in der Stadt herumspaziert, da geht man baden, liegt im Schatten, oder - wenn man den kurzen Aufenthalt in Wien optimal nutzen will - sucht sich einen Ort, an dem es etwas zu sehen gibt, an dem es aber auch temperaturmäßig gut auszuhalten ist: zum Beispiel ein Museum. Für ein solches entscheiden wir uns denn auch, konkret: für das Naturhistorische, eines der größten Museen Österreichs und mit 30 Millionen Sammlungsobjekten auch international eine Top-Adresse. Doch leider haben wir die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Dass es im Jahr 2017 in einem solch renommierten Gebäude eine Klimaanlage gibt, davon waren wir ganz selbstverständlich ausgegangen - aber es gibt keine. Mit der Folge, dass es dort drinnen noch unangenehmer ist als draußen. Die Luft ist abgestanden und heiß, der Schweiß läuft in Strömen, und die Feststellung erscheint nur allzu berechtigt, dass das Naturhistorische Museum an diesem Augusttag der ungemütlichste Ort in ganz Wien ist. Doch dann das Wunder: Als wir am Ende unseres Besuchs die ausgeliehenen Audioguides zurückgeben, schaut der Mann hinter dem Tresen auf seine Uhr und nickt uns anschließend anerkennend zu: Sechs Stunden waren Sie drin - keine schlechte Leistung, speziell an einem Tag wie diesem. So etwas schaffen die wenigsten Besucher.
 
 
Sechs Stunden unter den geschilderten Bedingungen ... Was für unsere Kondition spricht, für unsere Entschlossenheit, aus der Wien-Woche das Meistmögliche herauszuholen, aber vor allem spricht diese Zeit für das Museum. Für sein Angebot, das uns so lange ausharren ließ. Und in der Tat ist es ein Angebot, das man nur als großartig bezeichnen kann. Schon das Gebäude selbst ist ein Erlebnis: ein Prunkbau, der leicht als Palast würde durchgehen können, mit Marmor, reichen Stuckdekorationen und Ölgemälden an den Decken. Dass das von dem österreichischen Kaiser Franz Joseph I. in Auftrag gegebene Gebäude aus einer Zeit stammt, in der Begriffe wie Computer und interaktiv noch unbekannt waren (der Bau wurde 1889 eröffnet), merkt man außer an dieser Gestaltung auch an den noch aus der Gründerzeit des Museums stammenden hölzernen Vitrinen, in denen ein Großteil der Exponate präsentiert wird. Die Krokodile etwa, von denen sich gleich ein Dutzend eine riesige Vitrine teilt, die Säugetiere - 70.000 besitzt das Museum -, solche obskuren Lebewesen wie Borsten- und Eingeweidewürmer oder die Mineralien, darunter kostbare Edelsteine aus der Schatzkammer der Erde. Oder aus der Schatzkammer des Himmels, denn auch von dort gibt es Exponate: Meteoriten. Mit rund 7.000 Exemplaren zählt die Wiener Sammlung zu den größten der Welt. Dicke Brocken sind darunter, sie stehen stellvertretend für die noch wesentlich dickeren Brocken, die unsere Erde in der Vergangenheit immer wieder getroffen haben. Was Geschosse dieser Art aus dem All anrichten könnten, zeigt ein Simulator, der - ausnahmsweise interaktiv, weil erst vor wenigen Jahren installiert - den Einschlag (Impakt) eines Meteoriten über Wien simuliert: Ein Exemplar mit einem Durchmesser von zehn Kilometern, und nicht nur Wien wäre Geschichte, sondern große Teile unseres Planeten.
Womit wir bei den Sauriern wären, die es ebenfalls in diesem Museum gibt. Ganze Skelette und riesige Knochen sind zu bestaunen, die Nachbildung eines gefiederten Sauriers - wie man heute weiß, gab es Arten mit Federn -, dazu ein lebensgroßes Modell eines Allosaurus, das sich nicht nur bewegt, sondern obendrein urtümliche Laute ausstößt. Inwieweit dieses Gebaren authentisch ist, mag dahingestellt sein - authentisch ist in jedem Fall der Zusammenhang zwischen dem Aussterben der Saurier und den Meteoriten, denn der Einschlag eines Geschosses mit einem Durchmesser von zehn Kilometern vor 65 Millionen Jahren war es, der den Riesenechsen den Garaus gemacht und damit die Voraussetzung geschaffen hat, dass die Säugetiere und nicht zuletzt die Menschen auf den Plan treten konnten. Die wiederum in einer anderen Abteilung des Museums gezeigt werden, unsere frühesten Vorfahren bis hin zum Homo sapiens, also uns, die wir höchst interessiert an unserer langen Ahnenreihe vorbeiwandern. Und uns dabei in einen aus dieser Reihe verwandeln - jüngst installierte Computertechnik macht s möglich. Karin entscheidet sich für eine Metamorphose als Homo erectus. Du lebst vor 2 Millionen bis 70.000 Jahren in Afrika und Asien, aber vielleicht auch in Europa , bekommt sie als Erklärung. Du hast ein großes Gehirn und kannst viele verschiedene Werkzeuge herstellen. Du sorgst für alte und schwache Mitglieder deiner Gruppe. Diese menschlichen Eigenschaften ermöglichen es dir, in verschiedenen Lebensräumen zu überleben und helfen deiner Art, länger als andere frühe oder moderne Menschen zu überdauern. Eine beeindruckende Fotospielerei, diese Metamorphose - aber wenn ich mir die Aufnahme ansehe, bin ich heilfroh, dass die menschliche Evolution in diesem Entwicklungsstadium nicht Halt gemacht hat.
 
 
Eine Riesenmuschel, auch Mördermuschel genannt, weil zwischen ihren Schalen Perlentaucher eingeklemmt worden und ertrunken sein sollen; eine japanische Monsterkrabbe wie aus einem Horrorfilm; das Modell eines Terrorvogels in Originalgröße ( Die letzten starben vor 17.000 Jahren aus ) ... Irgendwann betreten wir einen kleinen Raum mit gedämpftem Licht, in dem sich eines der absoluten Highlights dieses an Highlights wahrlich nicht armen Museums befindet: die Venus von Willendorf. Ein kleines Figürchen, gerade mal 11 cm hoch, das eine Frau mit breitem Becken und großen Brüsten zeigt, also jenen Körperteilen, die die Rolle der Frau als Hervorbringerin von neuem Leben betonen. Knapp 30.000 Jahre alt ist die Figur, einer der kostbarsten Funde aus der Steinzeit weltweit. Viel Zeit können wir uns allerdings nicht für sie nehmen, denn noch immer liegen große Teile des Museums unentdeckt vor uns. Allein in der Zoologischen Abteilung oder in der Ökologie könnte man Tage verbringen.
 
Als wir das Museum verlassen, bemerken wir kaum einen Temperaturunterschied zu dem Gebäude. Wien kocht in diesen Tagen, ob drinnen oder draußen. Von der gegenüberliegenden Seite des Platzes grüßt das Schwestermuseum , ein weitgehend identischer Bau, der zur selben Zeit entstanden ist und ebenso prunkvoll ausgeführt wurde wie das Naturhistorische Museum. In ihm ist die Kunst zu Hause, und laut unserem Reiseführer gilt dieses Museum als eines der führenden weltweit. Was für uns, die wir auf der Suche nach den Highlights von Wien sind, nichts anderes bedeutet als für den nächsten Tag eine Einladung.
 
(Wird fortgesetzt)
 
Manfred Lentz (Oktober 2017)
 
 
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