Arequipa
Abwechslungsreiche Tage in der zweitgrößten
Stadt von Peru. 2017 (Teil 1)
 
Sie kennen das Bild, nahezu jeder kennt es, denn es ist ein Klassiker der abendländischen Malerei: ein großer Raum, ein langer Tisch mit der Längsseite zum Betrachter, auf der linken und auf der rechten Seite jeweils sechs Männer, dazu einer in der Mitte: Jesus. "Das Abendmahl" lautet der Titel des Bildes, gemalt wurde es von Leonardo da Vinci. Schaut man sich den Tisch näher an, so entdeckt man als "Mahl" Brot und Wein darauf. In einer Kirche in Cusco, der alten Inkahauptstadt, hängt ein Gemälde, das dasselbe Thema zum Gegenstand hat. Auch hier sitzen dreizehn Männer an einem Tisch, auch hier ist das Beisammensein gleichermaßen Abschied und Verweis auf das Kommende, allerdings gibt es auf ihrem Tisch nicht nur Brot, sondern - schlecht zu erkennen - auch noch Früchte oder Gemüse und - dies wieder eindeutig - ein cuy. Cuy ist ein Wort, das jedem Perureisenden während seines Aufenthalts in dem Land immer wieder begegnet. Ein cuy ist ein Meerschweinchen - jenes niedliche Tierchen, das vielen Kindern in Deutschland als lebendiges Spielzeug dient. In Peru spielt man nicht mit ihnen, man isst sie. Die Bevölkerung tut das nur zu besonderen Anlässen - der Jesus in Cusco ist ein Beweis dafür; die Touristen hingegen essen sie, wenn sich die Gelegenheit dazu bietet. Entweder weil ihre Neugier sie dazu treibt oder weil dieses kulinarische Erlebnis so exotisch und deshalb für die Lieben daheim so erzählträchtig ist: "Wie - Meerschweinchen habt ihr gegessen? Iiii, das könnte ich nicht! Das ist ja abartig!"
 
 
Wenn ich schreibe, "die Touristen essen sie", so ist das nicht ganz korrekt. Nur die experimentierfreudigsten unter ihnen tun das, sollte ich ergänzen. Nicht solche wie ich, denen schon bei dem Gedanken an ein cuy die Übelkeit hochsteigt, wohl aber Karin, die sich bereits an unserem vierten Peru-Tag in Arequipa - der zweitgrößten Stadt des Landes - ein Exemplar dieser Spezies vorsetzen lässt. Frittiert und als sei es unter eine Dampfwalze geraten, liegt das Tierchen zusammen mit gerösteten Maiskörnern, Kartoffeln und Salat auf ihrem Teller, der Kopf ist vollständig erhalten, desgleichen die Pfoten samt Krallen, lediglich Fell und Innereien hat man in der Küche entfernt. Eine interessante Mahlzeit zweifellos, allerdings eine, deren Nährwert gegen Null tendiert. Entschlossen macht sich Karin über ihr Meerschweinchen her, trennt die Extremitäten vom Körper, nagt hier ein winziges Knöchlein ab, knabbert dort an einem Pfötchen, immer auf der Suche nach Fleisch, aber so richtig fündig wird sie nicht. Zum Glück gibt es noch die Beilagen, wenigstens die dämpfen den gröbsten Hunger. Beilagen gibt es auch auf dem Gemälde in der Kirche, allerdings sind sie derart bescheiden, dass Jesus und seine Jünger vermutlich hungrig vom Tisch aufgestanden sind. Allenfalls unter symbolischen Gesichtspunkten hätte das Meerschweinchen für alle dreizehn gereicht. Wobei sich allerdings die Frage aufdrängt, ob die Versammelten, von denen ja keiner dem peruanischen Kulturkreis entstammte, ein solches Tier - ganz abgesehen von den strengen jüdischen Ernährungsvorschriften - überhaupt angerührt hätten.
Cuy in Arequipa, aber natürlich hat die Stadt ihren Besuchern sehr viel mehr zu bieten. So etwa die großartige Plaza de Armas, den Hauptplatz im Herzen der Stadt mit einer üppigen, sorgsam gepflegten Bepflanzung in der Mitte und prächtigen Bauten aus der Kolonialzeit ringsum. Auf drei Seiten kann man unter Arkaden flanieren, in denen sich Restaurants, Cafés und kleine Geschäfte befinden, die vierte wird in ihrer gesamten Länge von der zweitürmigen Kathedrale beherrscht, deren Anfänge bis ins 17. Jahrhundert zurückreichen. Kirchen sind den Menschen in Peru wichtig, es gibt sie in großer Zahl, und selbst außerhalb der Städte findet sich manch eine, die mit farbenprächtigen Gemälden, goldverzierten Altären und kunstvoll geschnitzten Heiligenfiguren drei Sterne in den Reiseführern aufzuweisen hat. Vier von fünf Peruanern sind katholisch, eine Folge der Eroberung des Landes durch die Spanier vor fünfhundert Jahren, die es als ihre gottgegebene Aufgabe betrachteten, die "Heiden" zu missionieren. Die Anbeter der Patchamama, der großen Erdmutter, und zahlreicher anderer "finsterer" Gottheiten. Gänzlich verschwunden sind letztere indes auch nach fünf Jahrhunderten noch nicht, vielmehr ist der Glaube an sie eine faszinierende Verbindung mit dem Christentum eingegangen, auf die man auf einer Rundreise durch Peru immer wieder stößt. Nicht nur bei dem Abendmahl-Cuy - auch viele nichtchristliche Symbole und Darstellungen an den Fassaden der Kirchen und der Altäre sind der Beweis dafür oder die Darstellung des "peruanischen Christus" als eines Mannes mit der dunklen Haut und der Physiognomie der Einheimischen. Eines Christus, der zudem häufig anstatt mit einem Lendenschurz mit einem Rock bekleidet dargestellt wird, einem bis zu den Füßen reichenden und wie frisch gestärkt aussehenden Rock, der nicht nur bei uns beim ersten Sehen ein irritiertes "Was ist das denn?!" auslöst. Dass es so viel Gold in den Kirchen des Landes gibt - gefühlt weit mehr als bei uns -, hat indes mit der peruanischen Urbevölkerung nichts zu tun. Zwar spielte auch bei ihr das glänzende Metall eine besondere Rolle, aber erst für die Spanier wurde es zu jenem zentralen Ziel der Begierde, hinter dem sie auf ihren Eroberungszügen in Südamerika her waren wie der sprichwörtliche Teufel hinter der Seele.
 
(Wird fortgesetzt)
 
 
Manfred Lentz (Dezember 2017)
 
 
Über Peru gibt es weitere Berichte auf meiner Webseite. Auf der Seite "Länder / Peru"
 sind sie aufgelistet. 
 
 
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am 1. und 15. jedes Monats