Auf den Spuren der Römer
Drei Tage auf dem "Hadrian's Wall Path" unterwegs. Großbritannien 2009 (Teil 1)
 
"Wir wandern ohne Sorgen singend in den Morgen ...". Es ist dieser Text, der mir in den Sinn kommt, als wir nahe dem nordenglischen Städtchen Corbridge aus einer Taxe steigen und unsere Wanderung beginnen. "In den Morgen" wandern wir zwar nicht ganz, denn es ist bereits Vormittag, dafür ist "ohne Sorgen" zutreffend, was nicht zuletzt darauf zurückzuführen ist, dass wir ohne Gepäck unterwegs sind. Wir sind zu zweit, Karin und ich, allerdings arbeiten Strippenzieher hinter den Kulissen daran, dass unsere Wanderung tatsächlich sorgenfrei ablaufen kann. Das ist zum einen die schottische Reiseagentur, die die Drei-Tages-Tour für uns geplant hat, das ist die liebenswerte Familie Brown in Corbridge - wer würde bei ihnen nicht sofort an Miss Marple denken! -, bei der wir die Nacht vor unserer Wanderung verbracht haben und auf deren Grundstück unser Auto auf unsere Rückkehr wartet. Und das sind die Betreiber der anderen Unterkünfte, die in den nächsten Tagen sowohl für unsere Verpflegung als auch für unsere Nachtruhe zuständig sein werden und die außerdem tagsüber unsere beiden Koffer von einer Station zur nächsten fahren sollen, damit wir ausschließlich mit leichtem Gepäck unterwegs sein können: ein wenig Proviant, etwas zu trinken und - ja, leider! - Warmes zum Anziehen und Regenbekleidung, denn was der Liedtext vermuten lässt - ein schöner Morgen mit blauem Himmel und strahlender Sonne -, das trifft in unserem Fall leider nicht zu. Es ist kühl und windig, und der Himmel hängt voller Wolken, aus denen es dann und wann auf uns nieder regnet. Doch das soll unsere gute Laune nicht stören. Wir werden jeden einzelnen der drei Tagen genießen, und so laufen wir denn erwartungsvoll los.
 
 
Wir sind in Großbritannien, etwa dort, wo die Grenze zwischen England und Schottland verläuft. "Hadrian's Wall Path" nennt sich der Wanderweg, von dem wir ein Teilstück zurücklegen wollen. Der Hadrianswall ist ein Grenzbefestigungssystem, das der römische Kaiser gleichen Namens nach einer Inspektionsreise in diesen entlegenen Teil seines Imperiums im zweiten nachchristlichen Jahrhundert gegen die feindlich gesinnten Stämme im Norden Britanniens hat errichten lassen. Ein ansehnliches Projekt quer über die Insel von einer Küste zur anderen, eine 117 Kilometer lange, bis zu 5 Metern hohe Steinmauer mit 320 Türmen, rund 100 Kastellen und einem vorgelagerten Grabensystem. Eine stabile Anlage, von der auch nach beinahe zweitausend Jahren noch immer ganze Streckenabschnitte - in unterschiedlichem Zustand - vorhanden sind. Steinerne Zeugen einer bewegten Geschichte. UNESCO-Weltkulturerbe und eine der bekanntesten Touristenattraktionen Nordenglands.
Den ersten Kilometer haben wir zügig zurückgelegt, die Euphorie des Anfangs, doch bald werden wir langsamer, schließlich müssen wir - ungeübte Wanderer, die wir sind - drei Tage lang durchhalten. Nur mit kleinen Rucksäcken auf den Schultern läuft es sich herrlich. Auch hört der anfängliche Regen bald auf, stattdessen kommt ein unangenehmer Wind auf. Wir sind halt in Schottland bzw. in dessen unmittelbarer Nähe, sagen wir uns - allerdings um die Unbilden des schottischen Wetters zu wissen und sie zu erleiden, ist zweierlei. Trotzdem marschieren wir tapfer Kilometer um Kilometer - durch eine Landschaft, die mit ihren sanft gewellten Hügeln, den weiten Wiesen und dem Wald an die Gemälde des englischen Landschaftsmalers John Constable erinnert. "Wo ist die Eichel?" ist die Frage, die wir uns wiederholt stellen. Die Eichel ist das Symbol, mit dem die Touristikmanager den Hadrian's Wall Path markiert haben - nicht sehr originell, ein stilisierter Hadrian oder zumindest ein Römerutensil wären authentischer gewesen, aber ihren Zweck erfüllt die Eichel natürlich auch. Von der Mauer ist anfänglich eher weniger zu sehen, den Grenzverlauf gibt der Graben vor, den die Römer auf deren Nordseite angelegt haben, und wo dieser mitunter schlecht zu erkennen ist, führt uns eben besagte Eichel. Wiederholt geht es über Wiesen, auf denen Schafe gleichgültig gegenüber dem nasskalten Wetter grasen. Hier und da müssen wir mit Hilfe doppelseitiger Tritte Steinmauern überwinden, solche neueren Datums, mit denen die Farmer ihre Feldgrenzen markieren. In diesen Mauern - ebenso wie in den vereinzelten Gehöften - dürften viele jener Steine verbaut worden sein, um die die Römermauer in den vergangenen zwei Jahrtausenden geschrumpft ist. Ein Gedanke, bei dem sich wohl jedem Archäologen der Magen umdrehen dürfte.

Die folgenden Fotos habe ich am Hadrianswall aufgenommen. Sie zeigen Rekonstruktionsversuche der alten Anlage auf der Grundlage der heute verfügbaren Informationen. Welche Grenzen diesen Versuchen gesetzt sind, zeigt das dritte Bild: Ausgehend von der Fundsituation sind verschiedene Arten von Grenztürmen denkbar. Die beiden letzten Fotos zeigen einen Tempel, der dem Gott Mithras geweiht war. Auch hier handelt es sich um eine Fantasie des Zeichners auf der Basis der Fundsituation.

Später setzt erneut Regen ein, und mit Regen geht unser erster Tag auch zu Ende. Nach 18 Kilometern auf dem "Hadrian's Wall Path" verlassen wir den Weg und biegen zu einer Farm ab, einem einsam stehenden Gehöft in einer einsamen Landschaft. "Greencarts Farm" steht auf einem Schild. Es ist vor allem die Schafzucht, mit denen die Besitzer ihr Geld machen, daneben betreiben sie einen Campingplatz und haben Einnahmen aus der Beherbergung von Gästen. Zu essen gibt es hier nichts für uns, dafür fährt uns die Farmersfrau - alles ist bestens organisiert - zu einem Pub in einem Örtchen namens Humshaugh, in dem Pie und Steak und ein süffiges Landbier auf uns warten. Als uns die Farmerin nach zwei Stunden wieder abholt, schweben wir ein Stück weit über der Landschaft, und kaum haben wir unsere Unterkunft betreten, sinken wir erschöpft in unsere Betten. Manch einer würde lachen über unsere zurückgelegten 18 Kilometer, doch wir sind Strecken dieser Länge nicht gewöhnt. Mit einem letzten Gedanken an Römer, Pikten und wie aus ihrer einst blutigen Grenze ein höchst friedfertiger Wanderweg wurde, schlafen wir ein.
 
(Wird fortgesetzt)
 
Manfred Lentz (Januar 2018)
 
 
Über Großbritannien gibt es auf meiner Webseite weitere Berichte. Auf der Seite "Länder / Großbritannien" sind sie aufgelistet. 
 
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am 1. und 15. jedes Monats