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"Himmelfahrt light"
Per Lift in die Kuppel der Wiener Karlskirche. 2017
 
Nein, mit einem Lift sind wir noch nie in die Kuppel einer Kirche hinaufgefahren. Kuppeln kannten wir bis dahin nur von unten. Aus den jeweiligen Kirchenschiffen, wo man als kleiner Mensch ganz unten steht und die Augen aufwärts richtet, wo die Erbauer der Kirche den ganzen Kosmos der christlichen Heilsgeschichte entfaltet haben. Wo ein vielfältiges Ensemble von Bildern mit Geschichten aus der Bibel, Kruzifixe und die marmornen Statuen der Heiligen, Apostel und Engel sich die Wände hinaufziehen, bis sie allmählich immer schwerer erkennbar werden und schließlich ganz oben, in der Kuppel, nur noch wie Farbkleckse ausschauen. Wie Farbkleckse mit christlichen Aussagen zweifellos, die aber ebenso gut Teufelszeug oder Bordellszenen sein könnten, denn von unten - es sei denn, man hätte Adleraugen - sind Einzelheiten kaum zu erkennen. Warum, so habe ich mich in Kirchen oft gefragt, haben Künstler ihre Werke in solchen Höhen angebracht, wo kein Mensch sie ausreichend würdigen kann? "Zum Lob Gottes" hätten sie das getan, lautet eine oft zu hörende Begründung, denn Gott, so heißt es, sehe nun einmal alles. Was ja durchaus zutreffen mag, nur - so frage ich mich weiter - wäre Gott denn verärgert, enttäuscht oder vielleicht traurig, hätten sich die Menschen bei ihren Kunstwerken in schwindelnden Höhen beispielsweise auf bloße Ornamente beschränkt? Aber sei's drum, die Bilder sind da, und womit Maler dieser jahrhundertealten Fresken im Leben nicht gerechnet hätten - diesmal, in der Karlskirche in Wien, können wir sie tatsächlich sehen.
 
Doch bevor es in die Höhe geht, stehen wir erst einmal draußen und erfreuen uns an der Außenansicht dieser Kirche. Als eine der schönsten Barockkirchen von Wien gilt sie, ist von imposanten Ausmaßen und überrascht durch ihren Stil, den ich als Kunstbanause als einen komischen Stilmischmasch bezeichnen würden, der Fachleuten aber vermutlich als eine gelungene Symbiose verschiedener Stilrichtungen gilt. So lassen etwa die beiden Seitentürme an orientalische Pagoden denken, während das griechische Portal von zwei 40-Meter-Säulen flankiert wird, die sowohl an islamische Minarette denken lassen als auch an die Triumphsäulen im alten Rom. An Letzteren ringeln sich spiralförmig Reliefbänder in die Höhe, auf denen Szenen aus dem Leben des heiligen Borromäus dargestellt sind, des Namenspatrons dieser Kirche. Karl hieß der mit Vornamen, nach ihm ist diese Kirche benannt und nicht - wie häufig vermutet wird - nach ihrem Stifter Karl VI., dem einstigen deutschen Kaiser. Auf einer Bank gegenüber dem großen Wasserbecken vor der Kirche lassen wir uns nieder und holen unseren Reiseführer hervor, um Genaueres über die Karlskirche zu erfahren. Über die Kirche des Heiligen Karl Borromäus. Des Pestheiligen Borromäus.
 
 
Es war am 22. Oktober des Jahres 1713, als Kaiser Karl VI. im Stephansdom zu Wien das Gelöbnis abgab, seinem Namenspatron - eben besagtem Karl Borromäus - eine Kirche zu errichten, würde dieser die Stadt von der Pest befreien. Die hatte Wien zu jener Zeit wieder einmal im Griff, mehr als 8.000 Menschen waren der Seuche bereits erlegen, und täglich wurden es mehr. Einige Monate später fand die tödliche Epidemie dann tatsächlich ein Ende - angesichts des Gelöbnisses einer solch hochgestellten Persönlichkeit wie eines Kaisers möchte man sagen: erst einige Monate später -, und da man ganz im Denken der Zeit ihr Ende auf das Wirken des Heiligen zurückführte, nahm Kaiser Karl sein Kirchenprojekt in Angriff. Ein äußerst kostspieliges Projekt, wofür Karl das Geld nicht nur in Ländern eintreiben ließ, die ihm untertan waren, sondern auch als eine Strafe bei den Hamburgern, wo "der Pöbel die Kapelle der österreichischen Gesandtschaft demoliert hatte". 1716 konnte der Grundstein für die Kirche gelegt werden, gut zwanzig Jahre später war der Bau vollendet. Seit jener Zeit ist die Karlskirche eine der bekanntesten Kirchen von Wien.
 
Für uns ist sie zunächst einmal ein Kostenfaktor, denn anders als bei Kirchen allgemein üblich, ist am Eingang eine Eintrittsgebühr zu zahlen. "Wie ... acht Euro kostet das?!", empört sich vor uns eine Besucherin an der Kasse. "Wir wollen hier lediglich ein Gebet sprechen, sollen wir dafür etwa bezahlen?" Der Mann an der Kasse setzt zu einer geduldigen Erklärung an, wie er das vermutlich schon tausend Mal getan hat, aber er bleibt hart, was die Besucherin schimpfend zum Weggehen veranlasst. Auch wir sind höchst überrascht über diese Summe, doch wir zahlen - nicht ohne den Empfänger unseres Geldes mit einem skeptischen "Hoffentlich lohnt sich diese Ausgabe!" zu bedenken. Gleich darauf sind wir drin.
Kirchenhistoriker und Architekturfreaks würden jetzt womöglich leuchtende Augen bekommen - für uns Laien ist die Kirche eindrucksvoll, allerdings nicht so, dass wir vor Ehrfurcht erstarren würden. Wobei der Hochalter durchaus ein echter Hingucker ist: eine lichtdurchflutete Komposition mit Wolken, von denen der Heilige Borromäus zum Himmel auffährt. Außerdem gibt es mehrere Seitenaltäre, eine riesige Orgel - ja, und dann ist da auch noch ein für einen Kirchenraum ganz ungewöhnliches Gestänge, das das sakrale Element von Sankt Karl um ein ganz und gar irdisches ergänzt: zwei hohe Gerüste, die oben durch eine Plattform miteinander verbunden sind und an die sich ein von unten allerdings nur undeutlich auszumachender Treppenaufgang anschließt. Dafür ist der Aufzug um so deutlicher erkennbar, der gerade von oben herab gleitet und gleich darauf mit einem metallischen Geräusch zum Halten kommt. Die Aufzugstür öffnet sich, mehrere Personen steigen aus, wir und einige andere Besucher steigen ein, und ehe wir es uns versehen, befördert uns - nein, leider kein Engel, was in dieser Umgebung passend gewesen wäre  -  ein Motor von Thyssen in die Höhe. "Unsere Himmelfahrt", murmelt einer der Aufzuginsassen und grinst.
 
Ein Lift, der die Besucher einer Kirche in die Kuppel befördert?! Wahrlich eine merkwürdige Konstruktion, allerdings eine, für die es eine einfache Erklärung gibt. Im Jahr 2002 stand eine Renovierung der Kuppelfresken an, also ließen die Verantwortlichen einen Aufzug installieren, der die Restauratoren an ihren Arbeitsplatz bringen sollte. Und der es außerdem - eine clevere Idee! - interessierten Besuchern der Kirche erlauben sollte, diesen gegen Zahlung eines Entgelts bei der Arbeit zuzusehen. Drei Jahre später war diese erledigt, die Fresken glänzten wie bei ihrer Entstehung, und eigentlich hätte der Aufzug nun abgerissen werden können, doch das tat man nicht. Hatten die Verantwortlichen doch Gefallen daran gefunden, dass sich mit diesem Aufzug Einnahmen erzielen ließen, weshalb sie beschlossen, den Aufzug noch einige Zeit in Betrieb zu lassen. Und diese "einige Zeit" erstreckt sich inzwischen bis heute. Nach wie vor können Besucher mit ihm in die Kuppel hinauffahren und die Fresken erkunden, während mit ihrem "Fahrgeld" weitere Restaurierungsarbeiten - und in einer solchen Kirche gibt es immer etwas zu restaurieren - durchgeführt werden. Rund 90 Prozent der anfallenden Kosten werden auf diese Weise gedeckt. Der Aufzug also als eine Kuh, die permanent Milch gibt - oder der Örtlichkeit angemessener: als eine Quelle, die niemals versiegt. Also blieb der Aufzug auch weiterhin in Betrieb, allerdings immer mit der Maßgabe, dass er eines Tages wieder abgebaut werden sollte. Dass diese andauernde Kombination von Religion und Technik bei den Verantwortlichen umstritten ist und viele Besucher davon schlichtweg entsetzt sind, liegt auf der Hand, bedeutet sie doch eine extreme Beeinträchtigung des historischen Kirchenraums. Wir allerdings sind froh darüber, dass der Aufzug noch existiert, ermöglicht er uns doch ein einzigartiges und kaum jemals wiederholbares Erlebnis. Eines, das die acht Euro Eintritt allemal wert ist.
 
 
Weniger als eine Minute dauert es, dann befinden wir uns 32 Meter über dem Boden der Kirche, und der Lift kommt zum Stehen. Zusammen mit den anderen Neugierigen steigen wir aus. So nahe waren wir dem Himmel in einer Kirche bisher nur im Petersdom, wo man in die Kuppel hinaufsteigen kann. Zum Greifen nah sind die frisch renovierten Fresken von hier aus, die die Künstler vor drei Jahrhunderten gemalt haben - 1250 Quadratmeter, auf denen sich die Bildergeschichten von dem Wirken des heiligen Borromäus entfalten, insbesondere die von seiner Fürsprache bei Gott, dass die Pest in Wien endlich ein Ende finden möge. Ein Ausflug in eine ganz besondere Welt ist es, was wir hier oben erleben. In eine Welt, die gewöhnlich kaum wahrnehmbar ist, die nun aber deutlich in all ihrer Pracht vor uns liegt. Mögen die Bilder in diesem Bericht einen Eindruck von diesem außergewöhnlichen Kirchenerlebnis vermitteln.
 
Manfred Lentz (Februar 2018)
 
 
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