Cusco -
vom "Nabel der Welt" zum touristischen Highlight. Peru 2017
 
Neben uns, in der Mitte des Platzes, stehen drei Spanier vor dem Denkmal des Pachacutec, eines der tapfersten, kriegerischsten und zugleich weisesten Herrscher, den das Inkareich je gehabt hat. Einer der drei fotografiert, ein anderer liest aus einem Reiseführer vor. Was er sagt, verstehen wir nicht, da unser Spanischwortschatz minimal ist, lediglich mit einem weiteren Namen können wir etwas anfangen: Tupac Amaro. Als der Spanier ihn nennt, macht er dazu mit der Hand eine Bewegung, die das Abschlagen eines Kopfes andeuten soll. Seine Begleiter haben verstanden. Es folgt ein kurzes Gespräch zwischen den dreien, dann schlagen sie den Weg zu der Kathedrale auf der Nordostseite des Platzes ein. Drei Spanier in Cusco. Drei von unzähligen Touristen, die auf ihrer Peru-Reise in diese 3500 Meter hoch gelegene Stadt gekommen sind. Und das nicht zufällig, war Cusco doch einst das politische, wirtschaftliche und religiöse Zentrum des Inkareichs, das zur Zeit seiner größten Ausdehnung von Ekuador bis nach Chile reichte und 12 Millionen Menschen zählte. Als der "Nabel der Welt" galt den Bewohnern ihre Stadt. Hier residierten die Herrscher, unter ihnen die erwähnten Pachacutec und Tupac Amaro. Hier führten alle Wege des Reiches zusammen, ein Netz von 20.000 Kilometern Länge, von denen ein Teil bis in die Gegenwart erhalten ist und von den Touristen als "Inkatrails" geschätzt wird. Auch damals standen Spanier auf diesem Platz, allerdings war sonst alles ganz anders. Wo heute fliegende Händler wortreich ihre Waren anpreisen, gellten die Rufe von Soldaten; wo Kameras klicken, klirrten die Waffen; und von dem Wunsch nach einer friedlichen Begegnung mit den Bewohnern des Landes waren die Fremden aus der alten Welt so weit entfernt wie der Mond von der Erde. Die hier standen, hatten ganz andere Wünsche.
 
 
Im Jahr 1492 waren die Spanier unter Christoph Kolumbus auf Kuba an Land gegangen und von dort weiter nach Mittel- und Südamerika vorgedrungen, angetrieben von der Suche nach dem sagenhaften Goldland El Dorado, von dem die Legenden berichteten. Um dieses Ziel zu erreichen, war ihnen jedes Mittel recht. Im Namen der spanischen Krone mordeten und plünderten sie, scheuten vor keinen Grausamkeiten zurück und brachten den Ländern, über die sie herfielen, den hunderttausendfachen Tod. Nachdem sie 1526 unter ihrem Anführer Francisco Pizarro in das heutige Peru gelangt waren, nahmen sie dort sechs Jahre später den Inkaherrscher Atahualpa gefangen. Gegen ein Lösegeld würden sie ihn freilassen, erklärten die Spanier, ein Angebot, auf das der Inka sich einließ. Er bot ihnen Gold an - so viel, wie der Raum fassen konnte, in dem er sich befand, und darüber hinaus noch gewaltige Mengen an Silber. Wochenlang brachten Lamakarawanen daraufhin aus allen Teilen des Reiches das Gewünschte herbei, doch obwohl Atahualpa sein Versprechen gehalten hatte, rettete ihn das nicht vor dem Tod durch die Garotte - einem Halseisen, wie die Spanier es auch in ihrer Heimat benutzten und mit dem er erdrosselt wurde. Im November 1533 zog Pizarro mit seinen Truppen in Cusco ein, und nur wenige Jahrzehnte später hatte das Inkareich aufgehört zu bestehen. Galeerenweise wurden seine Reichtümer nach Europa geschafft, während gleichzeitig große Teile der nach den Kämpfen noch übrig gebliebenen Bevölkerung von der Grippe und den Pocken dahingerafft wurden - Krankheiten, die bis zur Ankunft der Spanier in diesem Teil der Welt unbekannt gewesen waren.
Rund 300 Jahre später war es mit der spanischen Herrschaft über Peru vorbei. 1821 erlangte das Land seine Unabhängigkeit von der einstigen Kolonialmacht. Spanier, die jetzt noch kamen, waren vor allem Kaufleute und Wissenschaftler, die der Geschichte des Landes nachspürten, dann auch Touristen in wachsender Zahl, eine Entwicklung, die immer neue Rekorde erreichte. Und das nicht zuletzt deshalb, weil die Spanier - und hier muss man über die einstigen Herren des Landes auch mal etwas Positives vermelden - in der Zeit ihrer Herrschaft einzigartige Kunstwerke geschaffen haben, die zusätzlich zu den Sehenswürdigkeiten der vorspanischen Reiche die Besucherzahlen in die Höhe treiben. Selten haben wir so prunkvolle Kirchen gesehen wie in Peru, protzend mit dem geraubten Inkagold, das die Spanier in den Dienst ihrer mitgebrachten Religion gestellt haben. Und so stehen denn Pizarros Nachfahren heute zusammen mit Chilenen, US-Amerikanern, Franzosen und Deutschen vor den Werken sowohl einheimischer als auch spanischer Künstler und kommen aus dem Staunen kaum heraus, etwa bei den Kathedralen von Cusco und Arequipa. Highlights jeder Peru-Reise ebenso wie das, was die Inka vor der Ankunft der Spanier geschaffen haben. Das weltberühmte Machu Picchu etwa, das einem dabei als erstes einfällt, und über das ich in einem gesonderten Beitrag berichten werde. Auch Sacsayhuamán gehört dazu, die alte Inkafestung am Rande von Cusco. Gewaltige Steine wurden hier zu zykloplischen Mauern zusammengefügt, der größte von ihnen neun Meter hoch und fünf Meter breit, ein Gewicht von mehr als 200 Tonnen. So passgenau wurden diese Steine verbaut, dass nicht einmal die Klinge eines Messers zwischen ihnen Platz fände. Wie die Baumeister der Inka diese Leistungen vollbracht haben, ist bis heute nicht restlos geklärt, verfügten sie doch weder über Wagen für den Transport solch gewaltiger Blöcke, da sie das Rad nicht kannten, noch über Werkzeuge aus Eisen für ihre Bearbeitung.
Doch ist das alles auch schon lange Vergangenheit, so ist die Erinnerung an das einstmals so große und mächtige Reich der Inka bis heute geblieben. Ja, im Gegenteil - sie ist heute sogar stärker denn je, seit eine gewachsene Tourismusindustrie die Inka vermarktet. Während wir über das Gelände  von Sacsayhuamán schlendern, sind Arbeiter mit dem Aufbau von Bühnen und Sitzreihen beschäftigt, Vorbereitungen für eine Show für Tausende von Besuchern, die in den nächsten Tagen stattfinden soll. Sie bildet den Abschluss des Inti Raymi, eines großen, einen ganzen Monat andauernden traditionellen Inka-Festes zur Verehrung der Sonne, das als "heidnisch" einst streng verboten war, im Jahr 1944 aber wiederbelebt wurde. Im Mittelpunkt der Feierlichkeiten steht Pachamama, die große Erdmutter, die dem Volk der Inka das Leben geschenkt und es anschließend - wenn auch nicht sehr wirkungsvoll, wie wir wissen - beschützt hat. Bereits seit Tagen finden Veranstaltungen auf der Plaza de Armas statt, dem Hauptplatz von Cusco mit dem Denkmal des eingangs erwähnten Pachacutec. Begleitet von laut tönender Musik ziehen Tanzgruppen in den Kostümen der Inkazeit an Tausenden von Schaulustigen vorbei. Wir erleben die Vorführungen der Kinder, darunter der jüngsten, die in ihrem farbenprächtigen Aufputz besonders reizvoll aussehen und deshalb auch besonders fotogen sind. Alle Versammelten sind aufgeregt - die Kinder wegen ihres Auftritts, die Eltern, denen man ihr Engagement anmerkt, mit dem sie die Nachkommenschaft ausstaffiert haben und nicht zuletzt die Touristen, von denen viele wie aufgescheuchte Hühner auf der Suche nach der günstigsten Perspektive für ein Foto herumhasten. Aber was ist das auch für eine großartige Szenerie: der historische Platz dieses einstigen "Nabels der Welt"; die mächtige Kathedrale und die Jesuitenkirche; die Arkaden mit den Geschäften und Restaurants, unter denen für gewöhnlich die Touristen flanieren, die jetzt allerdings weitgehend verwaist sind, weil jedermann den Tänzern und Musikern zuschauen will; und über allem ein blauer, mit ein paar Wolken angereicherter sonnendurchfluteter Himmel. Das ultimative Bild für einen Werbeprospekt.
 
 
Nein halt, das "fast ultimative" Bild, sollte ich schreiben, denn es gibt etwas, was das Ganze noch eine Spur großartiger machen würde. Etwas, das wir auf dem Rückweg von dem Spektakel entdecken: Lamas, geführt von Frauen mit großen Hüten, bunten Röcken und Tüchern auf dem Rücken, in denen wahlweise ein Kind steckt oder ein gerade gemachter Einkauf. Ich bedeute den Frauen, dass ich ein Foto machen will, aber vorher soll ich bezahlen. Auf wenn das "Geld gegen Bild" normalerweise nicht unsere Sache ist - wer könnte in einer solchen Situation widerstehen, wo die Alternative doch wäre: kein Foto, denn Frauen mit Lamas, die original und unverfälscht zufällig in der Landschaft stehen, wird man als Drei-Wochen-Tourist schwerlich finden. Also zahle ich, die Gruppe stellt sich in Pose auf, zwei Lamas, zwei Frauen und Karin dazwischen. So schön kann Reisen sein!
 
Manfred Lentz (März 2018)
 
 
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