Raues Land.
Auf der Hochebene Causse Méjean
in Südfrankreich. 2005
 
Über uns kreist ein Geier, ein Gänsegeier, um genau zu sein. Deutlich sind die zweifarbigen Flügel zu erkennen, groß sind sie selbst aus der Entfernung, eine Spannweite von zwei Metern oder mehr. Dazu der keilförmige Schwanz und der kleine Kopf mit dem langen nackten Hals und der Halskrause, locker, dicht und flaumig, was man wissen, aber nicht erkennen kann, denn dazu ist der Vogel zu weit entfernt. Seine Flügelschläge kommen langsam und betonen einmal mehr seine Größe. Gänsegeier sind Aasfresser wie alle anderen Geier. Sie verfügen über scharfe Augen und können ihre Beute aus großer Höhe ausmachen. Beispielsweise ein Schaf, von denen es hier weit mehr gibt als Menschen.
 
Wir befinden uns auf dem Causse Méjean im Süden Frankreichs zwischen dem Massif Central und den Ebenen des Languedoc. Causses - das ist die französische Bezeichnung für Hochebenen, von denen es in diesem Landstrich etliche gibt, darunter den Causse Méjean, den größten und mit 800 bis 1200 m zugleich den höchstgelegenen. Aus Kalkstein bestehend, wird diese Hochebene von Flüssen begrenzt, die sich über Hunderttausende von Jahren in das Gestein eingeschnitten und tiefe Schluchten gegraben haben wie im Norden und Westen die beinahe 500 m tiefe Schlucht des Tarn. Der Kalkstein ist es auch, der dafür verantwortlich ist, dass es sich bei den Causses um karges Land handelt. Zwar fallen Niederschläge durchaus reichlich, aber sie versickern in dem porösen Gestein, und nur in wenigen Senken, in denen eine dünne Schicht fruchtbarer Erde angespült wurde, ist genügend Feuchtigkeit vorhanden, um einen bescheidenen Ackerbau zu ermöglichen. Der Rest des Causse Méjean ist - sieht man einmal von einigen Pinienwäldern im Westen ab - kahles, steindurchsetztes, weitgehend baumloses Weideland, auf dem Schafe grasen.
 
 
Mit einem dieser Schafe machen wir nähere Bekanntschaft. Schon von weitem sehen wir es zappeln, es sieht so aus, als würde es festgehalten, und als wir näherkommen, sehen wir, dass das tatsächlich der Fall ist. Das Schaf hat sich im Stacheldraht eines Weidezauns verfangen und versucht nun mit hektischen Bewegungen, sich daraus zu befreien. Klar, dass wir dem Tier helfen wollen, aber da wir mit dem Befreien von zappelnden Schafen nicht die geringste Erfahrung haben, beschränkt sich unsere Hilfe zunächst auf die Theorie. Erst zwei zufällig daherkommende Wanderer ergänzen unsere theoretischen Überlegungen durch praktisches Handeln. Vielleicht betreiben sie zu Hause ja eine Schaffarm, denken wir, vielleicht sind sie Hobbyschafzüchter oder Tierärzte oder was auch immer - auf jeden Fall haben Sie das Schaf nach einigen Anläufen aus dem Stacheldraht befreit, dabei von uns in der Schlussphase unter-stützt, worauf das Tier ohne zu zögern mit gerupftem Fell davonrennt. Zufrieden angesichts unserer guten Tat, blicken wir ihm hinterher, während hoch oben in den Lüften der Geier vermutlich verärgert mit den Augen rollt.
 
Eine Stunde später treffen wir auf einen Menschen, was in dieser Gegend durchaus erwähnenswert ist. Es handelt sich um einen Bauern, der mit seinem Traktor an uns vorbei-fährt. Wir grüßen mit freundlichem Winken, er grüßt zurück, aber er tut das auf eine Art, die uns sagt, dass er mit Stadtmenschen wie uns wenig anfangen kann. Der Bauer ist einer von rund 450 Bewohnern des Causse, was bei einer Fläche von 340 Quadratkilometern gerade einmal 1,3 Personen pro Quadratkilometer bedeutet. Der Causse ist ein einsames Land - ein paar kleine Weiler, eine Reihe Einzelgehöfte, dazwischen nichts weiter als Natur. Eine harte Natur, die den hier lebenden Menschen einiges abverlangt. Die andere indes magisch anzieht, nicht wegen der Härte natürlich, die erfahren sie ohnehin nicht, sondern wegen der Einsamkeit und der Stille, die so recht im Gegensatz stehen zu der Welt, aus der sie kommen. Längst schon haben lärmgeschädigte Städter und Naturburschen die Causses entdeckt und damit die Entstehung einer touristischen Infrastruktur bewirkt, die so manchem Einheimischen eine neue berufliche Existenz verschafft hat. Wanderwege führen zu den sehenswerten Stellen, auf Gestüten werden Pferde zum Ausritt angeboten, man kann Touren mit Eseln unternehmen, ein Vergnügen, das vor allem Familien mit Kindern anzieht. Gite d'Etapes, kleine Gasthäuser, bieten Unterkunft und Verpflegung. Wer schon immer mal Prze-walski-Pferden auf der Weide zusehen wollte, der ist hier ebenso richtig wie der Liebhaber von Blumen und sonstigen Pflanzen, von denen manche im übrigen trotz des rauen Klimas von überraschender Schönheit sind.
Ein Steinkreuz steht am Weg, uralt und verwittert, darauf breitet ein nur noch schwer erkennbarer Christus die Arme aus, ein Zeichen für die Gläubigkeit der Menschen. Ein Stück weiter begegnen wir dem Chaos, oder wie es mit vollständigem Namen heißt: Chaos Nîmes-le-Vieux, eine bizarre Ansammlung von großen Felsbrocken, die den Eindruck erwecken, als hätten spielende Riesenkinder sie über die Landschaft verstreut. Zwischen den Felsen weiden auch hier wieder Schafe, ein unablässiges Gras-Ausrupfen und Kauen und Wiederkäuen, das den ganzen Tag über anhält, während die Schatten der Steine über die Grasnarbe kriechen und beständig sich wandelnde Muster malen. Wie schon zuvor an diesem Tag treffen wir auch in seinem weiteren Verlauf nur wenige Menschen, einen Alten in seinem Gärtchen, später drei Frauen vor einer Kirche, die ein Schwätzchen halten. Ihre Worte dringen nicht bis an unsere Ohren, der Wind weht sie davon, bevor sie uns erreichen - der Wind, der an diesem Tag ohne Unterlass über die Hochebene streicht und dabei alle Geräusche in sich aufsaugt. Aber was macht das schon aus an diesem Ort, wo alles so fest gefügt ist und der Wandel eine Schnecke zu sein scheint. Zeitlosigkeit als Gesetz - wir wähnen uns in einem fernen Land irgendwo in einem abgeschiedenen Winkel der Welt, und dabei sind wir doch mitten in Frankreich.
 
Dann der Abstieg. Wir nehmen die Straße nach Florac, aber ach: als eine Straße im üblichen Sinn kann man sie kaum bezeichnen. Sie ist schmal, besteht fast ausschließlich aus Serpentinen und schlängelt sich beinahe 500 Höhenmeter ohne Leitplanken den Abhang hinunter. Steil sieht das von oben aus, sehr steil, und als wir das erste Stück auf dieser Straße zurückgelegt haben, an deren Anfang ein Schild warnt "Très difficile et dangereux" ("Sehr schwierig und gefährlich"), da empfinden wir sie als noch um einiges steiler. Unsere Blicke gehen ins Tal, und es ist, als säßen wir in einem Flugzeug. Jetzt nur kein Gegenverkehr, hoffen wir, unsere Reifen wären doch allzu nahe am Abgrund, aber wir haben Glück, und nur ein Radfahrer kommt uns entgegen. Einer jener sportsüchtigen, voll durchtrainierten und von eisernem Willen angetriebenen Menschen, die eine solche Strecke nicht als Belastung, sondern als eine Herausforderung empfinden. Wir stellen uns vor, wie er nach vollbrachter Auf- und Abfahrt von seinem Rad springt und zu einem Kajak hastet, um in den nächstliegenden Stromschnellen seine Vielseitigkeit unter Beweis zu stellen. In denen des Tarn beispielsweise, dem Fluss, dem wir nun immer näher kommen, einem jener Flüsse, die die Hochebenen zerschneiden und die die Schluchten geschaffen haben, im Fall des Tarn sogar eine besonders schöne, die manche als den Grand Canyon Europas bezeichnen. Mehrmals unterbrechen wir unsere Abwärtsfahrt und genießen - wenn auch mit Schweiß auf der Stirn - die spektakulären Ausblicke, bis wir endlich in Florac den Boden der Schlucht erreicht haben. Schon ein paar Minuten später sitzen wir in einem Restaurant, ein Glas Wein, eine Speisekarte wie von Lukullus geschrieben, genau das, was wir an diesem Land - neben anderem - so sehr schätzen. An der Wand hängt ein Plakat, "Aven Armand" steht darauf, eine Grotte im Causse Méjean, laut Plakat eine der schönsten Europas, deren Besuch wir für den nächsten Tag bereits eingeplant haben (siehe Bericht 045).
 
 
Die Sonne zieht sich hinter die Hochebene zurück, und der Himmel beginnt sich zu färben. Von den anderen Tischen dringen Gesprächsfetzen an unsere Ohren, Musik tönt aus einem Lautsprecher, Autos und Motorräder durchqueren den Ort und gelegentlich ein Moped von der Art, wie sie nur erdacht sein können, um die Menschheit zu quälen. Was für ein Kontrast zu der Stille, von der wir gerade noch umgeben waren! Ein wenig genervt sehen wir uns an: Auch wenn es nicht unsere Welt ist, aber schön war es schon dort oben auf dem Causse Méjean.