Blumenkohl und Tigergebiss -
die Tropfsteinhöhle Aven Armand in Südfrankreich. 2005
 
 
So oder ähnlich könnte es gewesen sein: Ein Reisender ist unterwegs auf dem Causse Méjean, einer fast menschenleeren Hochebene im Süden Frankreichs zwischen dem Massif Central und dem Languedoc (siehe Bericht 026). Als die Dunkelheit naht, wird ihm bewusst, dass er es nicht mehr bis zur nächsten Behausung schaffen wird. Ob er will oder nicht, er wird die Nacht im Freien verbringen müssen, auch wenn der Wind kräftig weht und es in dieser Gegend wilde Tiere gibt. Dichtes Buschwerk erregt seine Aufmerksamkeit. Er drängt sich hinein und sucht nach dem bestmöglichen Schutz, als er auf einmal unmittelbar vor sich eine schwarze Leere erblickt. Gerade noch kann er sie in dem dämmrigen Licht erkennen, aber es ist zu spät zum Ausweichen. Seine Füße verlieren den Halt, er gerät ins Rutschen, und während er einen verzweifelten Schrei ausstößt, stürzt er auch schon hinab in eine lichtlose Tiefe. Danach ward er nicht mehr gesehen. Für die Bauern, die von dem Reisenden wussten, ist die Sache klar, sie kennen die alten Geschichten, die schon die Väter erzählten. Von der Erde verschluckt, sagen sie. Und mit gedämpfter Stimme fügen sie hinzu, wobei jedem eine Gänsehaut über den Rücken läuft: vom Teufelsschlund.
 
 
Szenenwechsel. Es ist das Ende des 19. Jahrhunderts. Edouard Alfred Martel, ein namhafter Höhlenforscher, durchstreift die Hochebene auf der Suche nach Zugängen in die Unterwelt. Gelegentlich begleitet ihn ein Schmied aus Rozier namens Louis Armand, der mitunter auch auf eigene Faust unterwegs ist. An einem Septembertag im Jahr 1897 kehrt Armand aufgeregt vom Causse Méjean zurück und berichtet Martel, dass er etwas Spannendes entdeckt habe, ein großes Loch im Boden, das bei den Bauern der Umgebung der Teufelsschlund heiße. Ein Name, der angsteinflößend klinge, der ihn aber nicht beunruhige, schließlich sei er keiner von diesem abergläubischen Bauernvolk. Und so steht er denn gleich am nächsten Tag zusammen mit einigen anderen an dem Loch und wirft Steine in das Dunkel. Sie fallen tief hinab in eine Höhle, die dem Klang des Aufschlagens zufolge riesig sein muss. Dem Schmied Armand als ihrem Entdecker wird das Vorrecht zuteil, sie als erster erkunden zu dürfen. Man bindet ihn an ein Seil und lässt ihn hinab, und was er dort unten im Licht blakender Fackeln sieht, lässt sein Herz einen Sprung machen. Erregt berichtet er Martel. Dieser ist nicht nur ein bedeutender Höhlenforscher, sondern auch ein guter Geschäftsmann und begreift schnell, was sich mit der Entdeckung anfangen lässt. Eine gründliche Erforschung der Höhle beginnt. Ein Zugang für ein größeres Publikum wird geschaffen, es werden Wege angelegt und mit Licht für eine optimale Ausleuchtung experimentiert, und im Jahr 1927 wird die Höhle schließlich der Öffentlichkeit übergeben. Ihr Entdecker ist zu diesem Zeitpunkt bereits tot, doch sein Name lebt weiter in ihrem Namen: Aven Armand, die Karsthöhle Armand.
"Attention!", ruft der Fahrer, und die Türen der Standseilbahn schließen sich. Eng an eng stehen wir mit etlichen weiteren Passagieren, als der Wagen sich ruckelnd in Bewegung setzt. Seit den 1960er Jahren fährt diese Bahn durch den 200 m langen Tunnel. Als wir aussteigen, beginnen sofort jene "Ah!"s und "Oh!"s, die uns über die gesamte Dauer der Führung begleiten sollen. Wobei diese Äußerungen nur allzu verständlich sind, denn in der Tat ist das Gesehene jede einzelne wert. Vor allem, als wir nach einem kurzen Wegstück von einem Balkon in den Hauptsaal schauen. Rund 110 m misst er in der Länge, er ist 60 m breit und im Mittel 45 m hoch und damit so gewaltig, dass er glatt die Pariser Kathedrale Notre Dame in sich aufnehmen könnte. Aber es ist nicht die Größe, die Martel seinerzeit dazu veranlasst hat, von einem Traum aus 1001 Nacht zu sprechen - es sind die (heute perfekt angestrahlten) Gruppen von Stalagmiten, die den gesamten Raum einnehmen und von denen ein Ensemble schöner  ist als das andere. Von Weiß bis Rostrot changieren die Farben, viel Orange ist dabei, das den "Forêt vierge", den Dschungel aus Steinen in ein wunderbar warmes Licht taucht. Mehr als 400 Stalagmiten hat man gezählt, der größte erreicht eine Höhe von 30 m und gilt als der höchste der Welt. Mannigfaltig sind ihre Formen, sie rufen Erinnerungen hervor und legen Vergleiche nahe, aber noch bevor wir unserer Fantasie freien Lauf lassen können, erfahren wir schon ihre Namen: die Palme etwa und die Draperie für eine Reihe, die an Vorhänge denken lässt, der Faltenumhang und die Medusen, der Blumenkohl und das Tigergebiss - oder wie letztere wohlklingender auf Französisch heißen: le chou-fleur und la machoire du tigre.
 
 
Auf einem Rundweg erkunden wir das Gewirr der unterirdischen Steinwelt, deren Existenz eine einfache Erklärung hat - das Zusammenspiel von Wasser und Kalkgestein über einen langen Zeitraum hinweg -, aber eine ungeheure Wirkung. Eine knappe Stunde später bringt uns die Bahn zurück ans Tageslicht, wo bereits die nächsten Besucher auf eine Führung warten. Die Höhle Aven Armand ist nicht nur ein regionales, sondern auch ein nationales Highlight und zugleich - hier darf man der Werbung wohl trauen - eine der schönsten der Welt. Zumindest eine der am schönsten erschlossenen ist sie, um es korrekt zu formulieren. Auf Konzerte in der Höhle macht ein Plakat aufmerksam, zweifellos ein ganz besonderes Erlebnis, bei dem sich die Großartigkeit der Natur mit der menschlichen Fähigkeit verbindet, etwas Vorgefundenes einfallsreich in Szene zu setzen. Wir verlassen das Besucherzentrum und treten hinaus in die warme südfranzösische Sonne. Unsere Blicke wandern dorthin, wo sich der ursprüngliche Zugang zur Höhle befindet. Vom Teufelsschlund mit seinen unheimlichen Geschichten zum steinernen Paradiesgarten für Touristen aus aller Welt - wenn das keine positive Entwicklung ist!