Buddha sieht alles.
Swayambunath ist das Hauptheiligtum der Buddhisten in Nepal. 1978-1987
 
Jemand tut etwas Schlechtes, und schon haben wir den Spruch parat: "Der liebe Gott sieht alles!" Die Existenz dieses "lieben Gottes" einmal vorausgesetzt und angenommen, er sähe tatsächlich alles, so haben wir bei diesem Spruch doch eher ein abstraktes Bild im Sinn. Wohl niemand käme auf die Idee, sich diesen alles sehenden Gott mit mehr als zwei Augen vorzustellen oder ihn solcherart abzubilden. Andere Religionen, die ebenfalls von der Annahme alles sehender Götter ausgehen, sind in dieser Hinsicht konkreter. So etwa die Römer mit ihrem Janus: zwei miteinander verwachsene Köpfe, die in entgegengesetzte Richtungen schauen und dementsprechend vier Augen besitzen. Oder die alten Slawen mit ihrem Gott Triglaw: drei Köpfe, sechs Augen. Aber es gibt auch noch eine größere Zahl Augen: acht Stück, also vier Paare, von denen jedes in eine der vier Himmelsrichtungen blickt. So zu sehen etwa in Swayambunath in Nepal, dem wichtigsten Heiligtum der dort lebenden Buddhisten. Eine Darstellung, die keiner abstrakten Vorstellungskraft bedarf, die vielmehr für jedermann ganz anschaulich die Botschaft zum Ausdruck bringt: Buddha sieht alles.
 
Groß sind seine Augen und von dicken schwarzen Brauen überwölbt, darüber befindet sich jeweils als ein Kreis das mystische dritte Auge, das die Gläubigen als das der Erleuchtung verehren. Unter jedem Augenpaar gibt es eine Nase in Form eines nicht vollendeten Fragezeichens, das für die nepalische Zahl "ek" steht, die Eins, dem Symbol für die Einheit aller Dinge. Danach ist allerdings Schluss mit der Darstellung des Buddha, denn es gibt weder einen Mund noch einen Hals oder einen Körper. Buddhas Augen zieren einen mit vergoldeten Platten belegten Würfel über einer Halbkugel, die das Universum symbolisiert. Oberhalb des Würfels weisen dreizehn goldene Ringe auf die dreizehn Stufen der Weisheit hin, ganz oben ein Schirm auf das Nirvana, das Ziel allen irdischen Strebens, die Belohnung für ein buddhagefälliges Leben. "Stupa" ist der Name für diesen Typ eines Bauwerks, wobei jener von Swayambunath - wie schon erwähnt - für die Buddhisten Nepals der bedeutendste ist. Lassen wir einmal dahingestellt, inwieweit Buddhas acht Augen tatsächlich alles sehen - wir jedenfalls sehen sie mitsamt dem Heiligtum, denn es liegt auf einem Hügel, und wenn die Sonne darauf scheint, leuchten das Weiß des Stupas und das Gold seines Aufbaus weit in das Tal von Kathmandu hinein. Kommt her, scheint dieses Leuchten zu sagen, und stattet mir einen Besuch ab, es lohnt sich, den Weg zu mir zu finden.
 
 
Klar, dass auch wir den Weg zu dem Heiligtum finden. Nicht um irgendwelcher spiritueller Erfahrungen wegen, die überlassen wir anderen, wohl aber aus touristischer Neugier. Wir verlassen Kathmandu, laufen an vereinzelt stehenden Häusern und Hütten vorbei und an Feldern, auf denen Bauern mit Wasserbüffeln ihre Arbeit verrichten, bis wir nach einer Weile Swayambunath erreichen. (In den Jahren seit unserem letzten Besuch sind beide Orte zusammengewachsen.) Der Hügel stellt eine kleine körperliche Herausforderung dar, nicht für diejenigen, die per Auto oder Bus bis zum Parkplatz knapp unterhalb des Heiligtums fahren, wohl aber für alle anderen und damit auch für uns, die über den Hauptweg mit seinen 365 Stufen den Hügel auf die traditionelle Weise erklimmen. Ich erinnere mich an die Legende in unserem Reiseführer. Danach war das Tal von Kathmandu einst ein von Bergen umgebener See, in dessen Mitte auf einem Hügel eine Lotusblüte schwamm. Über Jahrhunderte pilgerten Gläubige an die Ufer dieses Sees und verehrten die Blüte als ein göttliches Symbol. Eines Tages erschien der Bodhisattva Manjushri (eine Art Heiliger) und schlug mit seinem Schwert eine Bresche in die Berge. Das Wasser des Sees lief ab, der Hügel stand frei, und wo sich die Lotusblüte befand, wurde zu Ehren Buddhas ein Stupa errichtet. Über zweitausend Jahre ist das her, womit Swayambunath neben dem indonesischen Borobudur das älteste buddhistische Heiligtum der Welt ist.
 
Eine Frau rastet auf halber Höhe zu dem Stupa auf einem Stein. Vielleicht macht ihr der Aufstieg zu schaffen, vielleicht sucht sie auch nur die Ruhe zwischen den Chörten und den heiligen Statuen am Rande des Weges. Allerdings hat sie die Rechnung ohne die Affen gemacht, die es hier in so großer Zahl gibt, dass Swayambunath auch "der Affentempel" genannt wird. Einer Überlieferung zufolge ließ der bereits erwähnte Manjushri sich an diesem Ort die Haare schneiden, worauf aus jedem Haar ein Baum spross und sich seine Läuse in Affen verwandelten. Neugierig fixieren die Tiere die Frau, sie nähern sich, die Frau steht auf und packt ihre Tasche, doch das hätte sie besser nicht getan. In der Tasche könnte sich ja etwas Essbares befinden, scheinen die Affen zu denken, deshalb kommen sie ihr immer näher. Die Frau ruft um Hilfe, was einen Mann aufmerkam macht, offensichtlich einen, der mit dem Problem der Quälgeister von Swayambunath besser vertraut ist als sie und der deshalb einen Stock mit sich trägt. Er hebt ihn hoch und zielt nach den Tieren, was diese mit Zähnefletschen beantworten, aber sie treten den Rückzug an. Den Rest des Aufstiegs legt die Frau im Schatten ihres Retters zurück.
363 Stufen, 364, 365 - wir haben es geschafft! Einen Moment müssen wir verschnaufen, denn das letzte Wegstück war steil. Dann lassen wir unsere Blicke schweifen. Da sind sie, die Buddha-Augen, schräg über uns. So forschend, wie sie über die große Halbkugel spähen, könnte man beinahe annehmen, sie sähen tatsächlich alles. Was sich innerhalb der Halbkugel befindet, darüber schweigt unser Reiseführer. Dafür finden die anderen Kultbauten um so mehr Erwähnung, die sich um den Stupa herum gruppieren: ein Kloster, zahlreiche Chörten und Votivstupas sowie kleine und größere Tempel, darunter zwei im indischen Stil, die ein nepalischer König zur Erinnerung an seine Lieblingsfrau errichten ließ.
 
Mönche mit roten Umhängen und gelben Mützen kommen uns entgegen. Mit einer durch unzählige Wiederholungen zur Perfektion gereiften Bewegung drehen sie die Gebetsmühlen, die den Stupa umgeben und schicken auf diese Weise ihre Gebete auf die Reise. "Look, the monkey!", sagt neben uns ein Tourist zu einem anderen und zeigt auf einen Affen, der auf einer Umfassungsmauer sitzt und aussieht wie ein Denker. Sollte er tatsächlich etwas denken, so denke ich meinerseits, dann handelt es sich vermutlich um irgendeine neue Lausbüberei. Der Blick auf die Stadt in seinem Rücken scheint ihm jedenfalls gleichgültig zu sein, das großartige Panorama des Tals mit den drei ehemaligen Königsstädten Kathmandu, Bhaktapur und Patan sowie ein Stück weit davon entfernt Pashupatinath, der Ort, an dem die Hindus ihre Toten verbrennen (siehe Bericht 31). Ein paar Männer und Frauen filmen, andere fotografieren, sie alle gehören zu einer Reisegruppe, die Swayambunath besucht, denn ohne hier gewesen zu sein, war man nicht wirklich in Kathmandu. Warum sie allerdings auf Stöckelschuhen herumstaksen und die Männer in Bügelfaltenhosen und blütenweißen Hemden, will sich uns in dieser Stadt, die viele nicht zu Unrecht "Kackmandu" nennen, nicht so recht erschließen. Während sie ihren Besuch im Eiltempo absolvieren, nehmen wir uns Zeit, bummeln umher und versuchen, so viel wie möglich von der Atmosphäre des Ortes in uns aufzunehmen: die Männer, die am Boden um ein Buch herum sitzen und daraus lesen; die Frau, die Butterlampen reinigt; die umherstreunenden Hunde und die allgegenwärtigen Affen; den Klang von Zimbeln und Glocken und dann und wann die Stimme eines Mönchs, der heilige Texte rezitiert.
 
 
Es ist naheliegend, dass an einem Ort wie diesem auch die Bettler nicht fehlen, und einer von ihnen streckt mir so fotogen die Hand entgegen, dass ich ein Bild machen muss. Weit weniger aktiv sind die Souvenirhändler. Die sitzen eher schlaff in oder vor ihren Läden, aber sie müssen sich auch nicht rühren, denn viele Touristen statten ihnen ohnehin einen Besuch ab. Hölzerne Masken, Götter aus Bronze, Vajras (Donnerkeile) und kleine Gebetsmühlen sowie Khukris, die gekrümmten Messer der Gurkhas, der berühmten nepalischen Soldaten - die ganze Palette der Nepal-typischen Souvenirs, die oftmals von solch hoher Qualität sind, dass man sie von den originalen Vorbildern nicht leicht unterscheiden kann. Wir schauen einer Frau zu, die einen Thanka ersteht, ein Rollbild, auf dem Szenen aus dem Leben des Buddha dargestellt sind. Unter anderem findet sich dort ein für die Legende bedeutsamer weißer Elefant. Ein "buddhistischer" gewissermaßen, im Unterschied zu dem anderen, dem "hinduistischen", den es hier ebenfalls gibt: den elefantenköpfigen Ganesha, den beliebtesten Gott der Hindus (siehe Bericht 3). Wie das? könnte man fragen. Eine heilige Stätte, an der Symbole zweier Religionen zu finden sind? Jawohl, in Asien ist so etwas möglich - Buddhismus und Hinduismus Seite an Seite und vielfach durchdrungen, so eng, dass es für einen Europäer geradezu unfassbar erscheint. Bei uns haben nicht einmal diejenigen dauerhaft in Eintracht miteinander gelebt, die an denselben Gott glaubten, Katholiken und Protestanten. Für Buddhisten dagegen ist ein solch enger Kontakt kein Problem, und für Hindus mit ihrem riesigen Pantheon von Göttern und Göttinnen erst recht nicht. Polytheismus macht tolerant, denn wenn man schon eine große Zahl von Wesen als übernatürliche verehrt, dann machen ein paar weitere nichts aus, mögen sie nun Buddha heißen, Jesus, Allah oder wie auch immer. Als Folge einer solchen Einstellung verspüren wir an diesem heiligen Ort eine Entspanntheit, wie wir sie an Stätten des Christentums noch nie verspürt haben. Hier hat jeder seinen Platz - der religionsstiftende Buddha ebenso wie alle Götter und Halbgötter einschließlich sämtlicher Inkarnationen. Sie alle sind Teil jenes Universums, das in der Halbkugel des Stupas seinen Ausdruck findet. In der Halbkugel mit den Augen Buddhas darüber. Mit den Augen, die alles sehen. Und die angesicht dieser Entspanntheit gewiss dann und wann lächeln.