Elend -
die hässliche Seite Indiens. 1986 und 1994
die hässliche Seite Indiens. 1986 und 1994
Eine Müllkippe in Mumbai, dem ehemaligen Bombay, wie die Stadt vor ihrer Umbenennung im Jahr 1996 hieß. Der Müll einer Stadt mit 18 Millionen Einwohnern oder mehr stapelt sich zu Bergen, eine Landschaft aus Verwesendem, Schutt aller Art und fauligen Abfällen bis zum Horizont, kein Baum, kein Strauch, keine Häuser und Straßen, nur Müll, nichts als stinkender, ekelerregender Müll. LKWs schaffen ständig mehr von den Ausscheidungen der riesigen Stadt heran. Auf den Halden laufen Menschen mit Säcken umher und stochern nach allem, was sich zu Geld machen lässt, zu ein paar kleinen Münzen zum Überleben. Als Schutz vor der Sonne haben zwei Jungen - etwa sechs Jahre alt - eine Plane aufgestellt, um darunter eine Pause zu machen. Plötzlich taucht ein Mann vor ihnen auf, er gibt sich freundlich und hält ihnen zwei Flaschen Coca-Cola hin. Da die Jungen durstig sind, greifen sie nach den Flaschen und trinken. Danach folgen die beiden dem Mann in einen Bus, in dem bereits andere Kinder sitzen, und der Mann fährt mit ihnen an einen nicht näher bezeichneten Ort. Hier treffen sie auf weitere Jungen und Mädchen, dem Anschein nach geht es denen gut, offenbar freuen sie sich, dem Leben auf der Straße entronnen zu sein. Später werden einzelne Kinder aufgerufen, und der Mann fordert sie auf, ihm etwas vorzusingen. Als der Gesang eines Mädchens ihm gefällt, lächelt er sie an und lobt sie. Im selben Augenblick greift ein anderer Mann nach der Kleinen, presst ihr einen Lappen vor das Gesicht, und Sekunden später verliert die Kleine das Bewusstsein. Gleich darauf liegt sie auf einem Tisch. Ein weiterer Mann nähert sich ihr, in einem Löffel trägt er eine Flüssigkeit, die er zuvor über einem Feuer heiß gemacht hat. Mit routiniertem Griff schiebt er die Augenlider des Mädchens auseinander und brennt ihr mit der Flüssigkeit die Augäpfel aus. Aus der gesunden Kleinen ist eine blinde Sängerin geworden - für die Männer, die sie zum Betteln auf die Straße schicken werden, ein lukratives Geschäft.
"Slumdog Millionär" - ein mit acht Oscars ausgezeichneter Kinofilm des britischen Regisseurs Danny Boyle aus dem Jahr 2008, einer der großen Erfolge dieses Jahres. Uns schnürt es die Kehle zu. Wir haben gewusst, dass es so etwas in Indien gibt, wir sind blinden und verkrüppelten Kindern auf der Straße begegnet, aber nun, da wir das Gewusste in einer Filmszene von quälender Authentizität sehen, ist ein Punkt erreicht, an dem wir den Film abbrechen müssen. Wir werden ihn zu Ende sehen, aber in diesem Moment geht es nicht, deshalb koppeln wir uns ab von diesem Albtraum. Wir werfen die DVD aus dem Player aus und wählen einen anderen Film, der besser zu einem gemütlichen Samstagabend passt - "Wo die Liebe hinfällt", ein Kontrastprogramm, wie es kontrastreicher kaum sein könnte: amerikanische Familien, alle reich, alles vom Feinsten, tolle Häuser, schnelle Autos und schicke Kleider, zwar haben auch die Protagonisten dieses Films ihre Sorgen und Probleme, wer hat die nicht, doch es sind Sorgen und Probleme auf einem gänzlich anderen Niveau. Es ist, als wollte man einen Maulwurfshaufen mit den Gipfeln des Himalaya vergleichen. Wir sehen den (ziemlich dümmlichen) Film bis zum Ende, aber die ganze Zeit über spukt der "Slumdog Millionär" in unseren Köpfen, und die entsetzlichen Bilder wollen nicht weichen.
Indien 1986, kein Film, sondern die Wirklichkeit. In Madras haben wir unsere Reise begonnen, von dort ging es nach Kanyakumari an der Südspitze Indiens, anschließend durch die traumhafte Landschaft Keralas nach Goa, und die letzten Tage bis zu unserem Rückflug verbringen wir in Bombay. Wir wohnen in einem einfachen Hotel, keine Luxusherberge, dennoch eines, das die meisten Inder sich niemals leisten könnten. Wir begeben uns auf eine Sightseeing-Tour durch die Stadt, sehen das Gateway of India, das Symbol der britischen Kolonialherrschaft, statten dem altehrwürdigen Hotel "Taj Mahal"einen Besuch ab, das Jahre später Schauplatz eines schrecklichen Anschlags werden sollte, und natürlich lassen wir auch die in allen Reiseführern erwähnte Bucht von Bombay nicht aus. Einst, so steht dort zu lesen, soll sie prächtig gewesen sein und eine der besten Adressen der Stadt, doch wie es aussieht, ist das nur noch Geschichte. Viele Gebäude wirken heruntergekommen, die Bucht ist mit Müll übersät, und es stinkt. Wir beschließen, zu unserem Hotel zurückzukehren, weisen dabei alle Taxifahrer ab, denn wir wollen die wenigen Kilometer zu Fuß zurückzulegen. Die Straße führt auf einen Komplex neu errichteter Hochhäuser zu, gesichtslose Massenbehausungen für den Mittelstand, der sich in Indien seit Jahren entwickelt. Doch bevor wir die Häuser erreichen, kommen wir an einer Siedlung ganz anderer Art vorbei, an einem jener Slums, die es in Bombay ebenso gibt wie in allen anderen Millionenstädten Indiens. Natürlich haben wir schon Bilder von Slums gesehen, und natürlich haben wir gehört, wie die Menschen dort leben. Aber nun laufen wir am Rand eines solchen Slums entlang, und diese unmittelbare Begegnung ist etwas ganz anderes. Keine Häuser, versteht sich, nicht einmal der Terminus Hütten würde hier Sinn machen - was wir sehen, sind Behausungen der allerprimitivsten Art, eng aneinander gedrängt und willkürlich zusammen gefügt, mit Dächern und Wänden aus Wellblech und Brettern, mitunter auch nur aus Plastikplanen und Pappe. Weit hineinsehen können wir in dieses Elendsquartier nicht von der Straße aus, der wir folgen, aber wir spielen auch nicht mit dem Gedanken hineinzugehen, denn wir gehören zun den Reichen, und die hier hausen, sind die Ärmsten der Armen. Wir gehören zu den Reichen? Nein, gewiss nicht, wenn man europäische Maßstäbe anlegt. Wohl aber für diejenigen, die von der Hand in den Mund leben. Die Logik ist ganz einfach, und wir haben sie auf unseren Reisen immer wieder gehört: Wer eine so weite Flugreise unternehmen kann wie wir, wer wochenlang in einem fernen Land herumreisen kann, der muss ganz einfach reich sein! Und wo ein so verstandener Reichtum auf massives Elend trifft, da entsteht für die "Reichen" schnell eine bedrohliche Situation. Ich will einige Fotos machen, aber ich zögere, weil ich nicht weiß, ob es Probleme geben wird. Doch der Wunsch nach den Bildern siegt - schnell hebe ich die Kamera, mache ein paar Aufnahmen, und schon im nächsten Augenblick nehme ich die Kamera wieder herunter. Natürlich ist diese Aktion nicht unbemerkt geblieben, in diesem Umfeld fallen wir auf wie bunte Hunde. Aber es gibt keine Probleme - ein paar böse Blicke, ein paar unfreundliche Zurufe, das ist alles. Dennoch verspüren wir Erleichterung, als wir den Slum hinter uns haben und auf die Straße zu unserem Hotel einbiegen.
Rajasthan, acht Jahre später. Ein paar Wochen haben wir uns diesen Teil Indiens angesehen und haben das Herumreisen genossen, nun kehren wir mit der Bahn von Mount Abu nach Delhi zurück, wo unser Rückflug starten soll. Bereits etliche Kilometer vor der indischen Hauptstadt tauchen die ersten primitiven Behausungen neben der Bahnstrecke auf, schnell werden es mehr, und bald folgt eine nicht enden wollende Aneinanderreihung von Slums, die sich beiderseits der Gleise hinziehen. Der Zug hat die Geschwindigkeit gedrosselt und fährt nurmehr im Schritttempo - vermutlich, um die vielen Menschen nicht zu gefährden, die beständig die Schienen überqueren -, und wir haben die Gelegenheit, in die Siedlungen hineinzuschauen. Wieder erblicken wir ein Gewirr aus Wellblech und Brettern, wieder ist es dieselbe Enge, dieses Dicht an Dicht unzähliger Menschen, halbnackte Männer, Frauen in billigen Saris und Scharen von Kindern. Wir müssen an einen Bienenschwarm denken, an einen Ameisenhaufen, der sich in unablässiger Bewegung befindet, nur ist es in diesem Fall die Bewegung von Menschen. Und das alles im Dreck. "Selbst den mitreisenden Indern fällt es schwer", notiere ich in mein Tagebuch, "den Gestank zu ertragen. Sie schließen die Fenster. Teilweise sieht es aus wie auf einer Müllkippe. Furchtbar und deprimierend!" Es ist Februar, und die Temperaturen sind angenehm. Aber wie mag es während der heißen Jahreszeit sein, wenn das Thermometer 40°C erreicht und noch mehr? Oder während der Monsunzeit, wenn es wie aus Eimern schüttet, und sich die Erde in einen stinkenden Morast verwandelt, wenn die hygienischen Verhältnisse unerträglich werden und Krankheiten und Tod um sich greifen? Wie schon acht Jahre zuvor sind wir froh, als wir den Horror endlich hinter uns haben und der Zug in den Bahnhof von Alt-Delhi einfährt.
Weitere Bilder ziehen an mir vorbei, während ich diese Zeilen schreibe: die Schläfer auf nackter Erde, die nicht einmal ein Heim aus Pappkartons besitzen; unsere "Hausbettler", denen wir jedesmal etwas gegeben haben, wenn wir unsere Hotels verließen; der Verwachsene im südindischen Srirangam, von einem anderen in einem Wägelchen gezogen, Fleischlappen als Arme, ein paar Anhängsel an Stelle der Beine, letztlich nur ein Kopf mit einem Rumpf, das war alles. Während ich dies in mein Notebook tippe, sitze ich in meinem gemütlichen Heim, ein Glas Rotwein steht neben mir, und in meinem Kopf spuken all die schrecklichen Bilder, die des Films ebenso wie die des wirklichen Indiens. 1986 in Bombay sind wir geflüchtet, die letzten zwei Tage vor unserem Rückflug haben wir uns in die klinisch reine Welt der Hotels zurückgezogen, in jene stressfreien Exklaven, in denen es die hässliche Seite Indiens nicht gab. Zwei Tage haben wir gelebt wie in einem Hochsicherheitstrakt. Heute schäme ich mich dafür. Und ich schäme mich, dass wir den "Slumdog Millionär" unterbrochen haben, weil wir die Bilder nicht aushalten konnten. Was für eine verrückte Welt - Millionen Kinder, Millionen Erwachsene ertragen ein solches Leben, und wir tun uns schwer, auch nur mit dem Anblick dieses Lebens fertig zu werden! Man muss sich nicht mit solchen Bildern belasten, mag manch einer sagen. In der Tat - man muss es nicht, doch das Wegschauen und Ausblenden ist feige. Aber wenn du all dieses Scheußliche ansiehst, sagt mir eine innere Stimme, dann ändert das auch nichts. Recht hat die Stimme! Anschauen allein nützt in der Tat nichts, so lange nicht der Wille hinzukommt, bei der Überwindung der Zustände zu helfen. Etwa so, wie es der Gründer der "Mascheski Foundation" getan hat, über deren Tätigkeit ich auf reiselust.me kürzlich einen Gastbeitrag eingestellt habe (siehe Bericht 59). Anschauen und helfen, das ist die Logik, alles andere ist Feigheit und folgenloses Lamentieren. Ich nehme die DVD, schiebe sie erneut in das Laufwerk und drücke auf Play. "Slumdog Millionär" - die Geschichte von den Kindern in Bombay geht weiter.
Der nächste Bericht auf reiselust.me erscheint voraussichtlich am
Dienstag, den 1. Oktober 2013