Wie man eine Ananas schält.
Eine Schiffsfahrt auf dem Irrawaddy. Burma 1985
 
Kurt Weill hat die Stadt mit dem klangvollen Namen in einem Lied erwähnt, nach ihm Frank Sinatra, Elton John und die Eagles und nicht zuletzt Robbie Williams - Mandalay. Eine Stadt in Burma, dem heutigen Myanmar. 700 Kilometer nördlich von Rangun gelegen, nimmt sie von den Einwohnerzahlen her nach der Hauptstadt den zweiten Platz ein, sie ist ein wichtiger Wirtschaftsstandort und ein Zentrum burmesischer Kultur. Knapp 300 Kilometer südwestlich liegt die historische Königsstadt Bagan mit über zweitausend mehr oder weniger gut erhaltenen Sakralgebäuden, eine der größten archäologischen Stätten Südostasiens. Es gibt mehrere Möglichkeiten, von der einen Stadt in die andere zu gelangen. Eine davon ist eine Schiffsfahrt auf dem Irrawaddy, und genau diese Tour ist es, die wir uns auf unserer Reise ausgesucht haben.
 
Es ist Abend, als wir am Flussufer von Mandalay aus der Fahrradrikscha steigen, und es ist bereits dunkel. Ein paar trübe Glühlampen erhellen die Szenerie, in der wir zahlreiche Reisende erkennen, viel Gepäck und zwei Schiffe, die vor Anker liegen. Wir - zu dritt, alle aus Berlin - sind nicht die einzigen Europäer an diesem Ort, zwei Österreicher planen dieselbe Fahrt, aber das ist es dann auch schon, denn im Jahr 1985 ist Burma noch ein Land, in dem Ausländer eine eher seltene Spezies sind. Acht Tage gewährt man uns, danach müssen wir das Land wieder verlassen. Ein Land, das für acht Wochen - ach, was sage ich: für acht Monate genug Sehenswertes zu bieten hätte! Aber die Regierung ist streng, und wir sind froh, dass wir überhaupt einen Blick in dieses fast vollständig abgeschottete Land werfen dürfen. Ein kurzer Aufenthalt in Rangun, eine Bahnfahrt nach Mandalay (siehe Bericht 11), und schon sind wir auf dem Weg zu unserem nächsten Ziel, nach Bagan.
 
Dass wir in einem Land fast ohne Touristen für die Einheimischen eine Attraktion sind, liegt auf der Hand. Ständig sind Blicke von Männern, Frauen und Kindern auf uns gerichtet. Die Situation hat etwas von einem Spießrutenlauf, allerdings ist es ein freundlicher, denn einige grüßen, und auch die, die uns nur anstarren, sehen alles andere als feindselig aus. Zwischen Säcken, Kisten und Käfigen mit Hühnern suchen wir unseren Weg. "Bagan?", erkundigen wir uns bei einem Uniformierten und deuten hilfesuchend auf die beiden Schiffe. Er zeigt auf eines von ihnen, und über ein paar schwankende Bretter gehen wir an Bord. Wieder fühlen wir uns wie Wesen von einem anderen Stern. Dutzende Augenpaare verfolgen jede unserer Bewegungen, als wir auf dem Deck nach einem Platz für uns Ausschau halten und uns schließlich mit unseren Rucksäcken, den Isomatten und Schlafsäcken an einer freien Stelle an der Reling niederlassen. Eine Kabine ist nicht mehr verfügbar, es gibt nur eine einzige auf dem Schiff, und die ist belegt. Also bleibt nur die Fahrt mitten unter der Bevölkerung auf Deck.
 
 
Nachdem wir uns eingerichtet haben, erkunden wir unsere Umgebung. Die Toilette ist schnell gefunden, wie zu erwarten war, ist sie spartanisch: ein Loch im Boden, das ist alles. Wenn alle gut zielen können, gewiss nicht die schlechteste Lösung, aber können sie das? Die nächste Frage: Gibt es Wasser? "Water?", wenden wir uns an einen jungen Mann, aber da wir nicht sicher sind, ob er das Wort versteht, unterstreichen wir es mit einer Waschbewegung unserer Hände. Er ist verunsichert, die Nächstsitzenden und -liegenden beginnen miteinander zu tuscheln. Kurz darauf steht der Kapitän vor uns und hält uns einen Eimer mit Wasser hin. Der Kapitän des Schiffes höchstselbst! Wir strahlen ihn an, sagen "Thank you!" und "Thank you very much!" und waschen - na, wo werden alle anderen dabei wohl hinschauen?! - uns die Hände. Wenig später ergibt sich für uns die unfreiwillige, aber äußerst wirkungsvolle Gelegenheit, allen neben uns und gegenüber von uns und auch allen anderswo Sitzenden wahrhaft großes Theater zu bieten.
 
Es beginnt damit, dass wir Hunger haben. Da wir weitsichtig waren, haben wir vorgesorgt und holen nun aus unseren Rucksäcken zwei Ananas hervor. Die Folge ist, dass die schon beinahe Eingeschlafenen wieder aufwachen, die in Gespräche Vertieften ihre Unterhaltungen unterbrechen und die wenigen im hinteren Teil des Schiffs, denen unsere Anwesenheit bis dahin verborgen geblieben war, von den anderen auf das anstehende Ereignis hingewiesen werden: Europäer zerteilen eine Ananas! Nein sie lachen nicht, diese Männer und Frauen aus dem Land der Millionen Ananaspflanzen, die mit diesen Früchten aufgewachsen sind, deren Muttermilch womöglich gar Ananasmilch war, sie machen auch keine abfälligen Bemerkungen über uns, sie schauen nur andächtig zu, wie wir drei Ahnungslosen mit unserem Messer eine Ananas vergewaltigen. Schließlich erhebt sich einer von seinem Platz, entweder haben wir seine Schmerzgrenze erreicht oder es ist reine Hilfsbereitschaft, die ihn treibt. Er streckt die Hand nach der zweiten Frucht aus, wir reichen sie ihm, und gleich darauf setzt er sein Messer an. Ein schneller Schnitt hier, ein schneller Schnitt da, ritsche-ratsche mehrmals um die Ananas herum, dann noch das harte Stück in der Mitte, und schon hat sich die widerspenstige Frucht in einen handlichen Imbiss verwandelt. Wir lächeln den Künstler an, er isst ein Stück, wir tun es ihm gleich, und nun lächeln alle um uns herum und nicken uns aufmunternd zu. Und obwohl wir einander so fremd sind, obwohl wir aus völlig unterschiedlichen Welten stammen - für einen Augenblick sind wir uns auf einmal ganz nah.
Zwei Stunden vor Mitternacht wird das Licht ausgeschaltet, und der Mond über dem Fluss ist fortan die einzige Beleuchtung. Unsere Mitreisenden legen sich zum Schlafen nieder. Wir genießen noch eine Weile die einzigartige Stimmung, aber irgendwann übermannt auch uns die Müdigkeit, und wir rollen uns auf die Seite. Doch was den Einheimischen vermutlich eher wenig ausmacht, erweist sich für unsere verwöhnten Körper als eine Qual. Das Deck ist hart und überdies abschüssig, woran auch unsere Isomatten und Schlafsäcke nicht viel zu ändern vermögen. Unruhig wälzen wir uns herum, suchen immer wieder nach der optimalen Position und sind endlich im Reich der Träume, als uns das durchdringende Tuten eines Schiffhorns jäh aus dem Schlaf reißt. Ein Blick auf die Uhr verrät, dass es gerade mal 4 ist. Über den Bergen kriecht die Dämmerung empor, der Kapitän hat den Motor anwerfen lassen, und aus einem Lautsprecher dringt Sprechgesang - ein religiöser? -, und das in voller Lautstärke natürlich, denn alle anderen sind wach. Wie wir feststellen, beachten sie uns schon ein bisschen weniger als noch am Abend, eine Sache der Gewöhnung, die über die Dauer der Fahrt noch zunehmen dürfte.
 
Mit seinen 2.170 Kilometern gehört der Irrawaddy zu den längsten Flüssen der Erde, an manchen Stellen ist er so breit, dass man meinen könnte, man befände sich auf einem See. Vermutlich hat der gegenwärtige Monsun seinen Beitrag dazu geleistet, dass der Fluss weiträumig über die Ufer trat. Den Kapitän scheint das nicht zu irritieren, er findet seinen Weg, zweifellos eine Frage ständiger Übung. Bald nach der Abfahrt stoppt unser Schiff zum ersten Mal, nicht in einem Hafen, denn den gibt es hier nicht, sondern nahe dem Ufer. Über wackelige Bretter verlassen mehrere Fahrgäste das Schiff, andere begeben sich an Bord, darunter einige, die schwere Lasten auf den Köpfen balancieren. Händler erscheinen und bieten den Passagieren Bananen und gekochte Eier an, frisch Gebackenes und lange, dicke Zigarren, wie sie in Burma so gern geraucht werden, auch von den Frauen. Gegen Mittag bricht die Sonne durch den Dunst und das Thermometer klettert auf 32°C, nicht viel angesichts des Fahrtwinds, doch wegen der hohen Luftfeuchtigkeit sind wir beständig feucht und verklebt.
 
Der Schiffsmotor dröhnt, aus dem Schornstein quillt dicker Rauch, wir sitzen auf unseren Isomatten und Schlafsäcken, mit den Rücken an die Reling gelehnt. Bequem ist anders, aber dafür schnuppern wir am Leben der einfachen Bevölkerung, so wie zuvor schon auf unserer Bahnfahrt von Rangun nach Mandalay. Nach mehreren weiteren Stopps und nachdem wir zwei Drittel der Gesamtstrecke bis Bagan hinter uns haben, geht unser Schiff gegen 17 Uhr bei einem Ort namens Pakokku vor Anker. Schluss für heute, verraten uns die Gesten der anderen, erst morgen geht es weiter. Aha, denken wir, nun also die zweite Nacht auf dem Deck, und das mit Knochen, die noch von der ersten Nacht schmerzen. Doch wir werden nicht klagen, da sind wir uns einig, wir werden unseren Mitreisenden beweisen, dass wir mit einem Lächeln auf den Lippen sämtliche Beschwernisse ertragen können. "No problem!" steht auf unseren Gesichtern geschrieben, auch diese zweite Nacht auf dem Schiff wird wirklich "No problem!" sein. Plötzlicht spricht uns ein Halbwüchsiger an, sein Englisch scheint nur aus einem einzigen Wort zu bestehen, aber dieses Wort elektrisiert uns: "room." Und während er es mehrmals wiederholt, zeigt er auf den Ort, vor dem wir ankern. Wohl noch nie haben wir so schnell unsere Matten zusammengerollt und unsere Schlafsäcke verstaut, dieses Wort pumpt Adrenalin durch unsere Adern, wir eilen zum Ausstieg, hasten die schwankenden Bretter hinunter und folgen dem Jungen ins Dorf. Nach einem Preis für den "room" haben wir nicht gefragt, ja, um der Wahrheit die Ehre zu geben: wir haben nicht einmal daran gedacht. Fünf Minuten später erfolgt unser Einzug ins Paradies: ein Zimmer in einer einfachen Hütte, eine Dusche, weiche Betten und überdies eine Speisekarte auf Englisch. Burma, wir lieben dich!
 
 
Am nächsten Morgen sind es nicht die Hähne, die uns aus dem Schlaf reißen, denn die sind noch nicht wach. Es ist unser Wecker, der uns um 3.30 Uhr hochfahren lässt. Auch die meisten Menschen liegen noch in tiefem Schlaf, ebenso wie die Wasserbüffel und Schweine, und selbst die Hunde geben keinen Laut von sich, als wir durchs Dorf laufen und uns wieder auf unser Schiff begeben. Dort herrscht ebenfalls noch Ruhe - bis um 4.30 Uhr das Schiffshorn die Nacht zerreißt. Wenig später wird der Anker gelichtet, und das Schiff nimmt wieder Fahrt auf. Wir pendeln in einem Zustand zwischen neugeboren und "einige Stunden mehr hätten es noch sein dürfen". Bemerkenswert ist das Erwachen der Burmesen. Es ist eine Mischung aus Husten und einem anhaltenden Rotzen, das von ganz unten aus den Körpern zu stammen scheint und das so durchdringend ist, dass wir zum ersten Mal einen Ahnung davon bekommen, was eine akustische Folter ist.
 
Es ist 6 Uhr, und die ersten Tempel kommen in Sicht. Jahrhundertelang war Bagan der Mittelpunkt eines bedeutenden Reiches, heute ist es mit seinen vielen, zum Teil noch sehr gut erhaltenen Tempeln ein Highlight, das auf keiner Burma-Reise fehlen darf. Auch nicht auf unserer. Eine Stunde später stoppt das Schiff, und einer von der Mannschaft bedeutet uns mit Zeichen, dass wir am Ziel sind. Schon halten kleine Boote auf uns zu, wir klettern hinein, und kräftige Hände rudern uns hinüber ans Ufer. Als wir aussteigen, blicken wir noch einmal zum Schiff zurück, das sich gerade wieder in Bewegung setzt. "You want guesthouse?", ertönt eine Stimme hinter uns. Wir drehen uns um. Ein Mann schaut uns forschend an, neben ihm steht eine Pferdekutsche. Nach dem alten Dampfer nun als ein zweites originelles Gefährt. "Yes, we're looking for a guesthouse", antworten wir. "I have", sagt der Mann und winkt uns in seine Kutsche. Gleich darauf schaukeln wir mit einem PS über die Landstraße, und die nächste Etappe unserer kurzen Burma-Woche beginnt.

Der nächste Bericht auf reiselust.me erscheint voraussichtlich am
Samstag, den 23. November 2013