Nach Leh.
Eine Taxifahrt durch den Himalaya. Indien 1985
Eine Taxifahrt durch den Himalaya. Indien 1985
Mehr als 1,3 Millionen Mann haben die Inder unter Waffen. Gefühlt die Hälfte von ihnen ist unterwegs, als wir von Srinagar nach Leh fahren, der Hauptstadt Ladakhs.
Es ist das Jahr 1985. Wir sind in Indien, genauer: im Bundesstaat Jammu und Kaschmir, und wollen nach Ladakh, eine der Regionen dieses Bundesstaates. Ladakh ist der nördlichste Teil Indiens. Es liegt im Himalaya, grenzt an Tibet bzw. China, und seine Bewohner unterscheiden sich von den übrigen Bewohnern Kaschmirs dadurch, dass sie nicht Moslems sind, sondern Buddhisten. Kaschmir - das ist jene Unruheprovinz, deren staatliche Zugehörigkeit zu Indien seit der Aufteilung Britisch-Indiens im Jahre 1947 vom Nachbarn Pakistan bis heute infrage gestellt wird. Ein Umstand, der in der Vergangenheit wiederholt zu Kriegen geführt hat. Und genau diese Spannungen sind der Grund, weshalb im Jahr 1985 so viel Militär in diesem Gebiet unterwegs ist.
Wir sitzen in einem Taxi. Hussain ist unser Fahrer, ein stolzer Kaschmiri mit pechschwarzem Haar und Falkenaugen, der uns in die ladakhische Hauptstadt Leh bringen soll. Sieben Tage haben wir für diesen Ausflug angesetzt, der Preis beträgt 3.500 Rupien, das sind etwa 900 DM. Eine Menge Geld, aber die Tour - so unsere Informationen - soll lohnenswert sein. Abgeschlossen haben wir den Deal auf unserem Hausboot im kaschmirischen Srinagar (siehe Bericht 43). Prakash, einer der Männer, die sich dort um unser Wohl kümmerten, hat ihn vermittelt. lm Jahr 1985 ist eine solche Fahrt trotz ständiger Grenzstreitigkeiten zwischen den verfeindeten Nachbarn noch gut machbar. Heute, 28 Jahre später, sieht das anders aus. Der Konflikt um Kaschmir hat sich nicht beruhigt, ganz im Gegenteil: In den vergangenen Jahren gab es immer wieder Zusammenstöße zwischen Indien und Pakistan. Hinzu kam der islamistische Terrorismus - Anschläge moslemischer Extremisten auf staatliche Einrichtungen in Srinagar und in anderen Teilen Kaschmirs, die Ermordung führender Politiker sowie Selbstmordattentate, denen zahlreiche Menschen zum Opfer fielen. Nach wie vor verlangt das moslemische Pakistan die Abtretung Kaschmirs durch Indien, eine Forderung, die die Regierung in Neu-Delhi stets abgelehnt hat. Eine schwierige und höchst gefährliche Situation, nicht zuletzt deshalb, weil beide Staaten über Atomwaffen verfügen.
Zurück ins Jahr 1985. Souverän lenkt Hussain sein Taxi durch den dichten Verkehr Srinagars und biegt auf die Ausfallstraße Richtung Leh ein. Die Landschaft, durch die wir fahren, ist für uns alles andere als exotisch. Nicht umsonst wird Kaschmir auch "die Schweiz Asiens" genannt, denn in der Tat sind die Ähnlichkeiten der Geografie - auch die des Klimas - nicht zu übersehen: Berge mit Wäldern und schneebedeckten Gipfeln, wie man sie ebenso im Wallis oder im Berner Oberland antreffen kann. Da die Straßen in gutem Zustand sind, kommen wir zügig voran, vorerst jedenfalls, denn auf einmal ist Schluss. An den Namen des winzigen Ortes erinnere ich mich nicht mehr - ein paar Häuser, ein einfaches Gasthaus und überall Fahrzeuge: eine beträchtliche Anzahl Pkws, dazu Lastwagen sowie etliche Busse. Und quer über der Fahrbahn eine Schranke. Die Straße, erklärt unser Fahrer, führe hoch hinauf in die Berge, auf weiten Strecken sei sie unbefestigt, vor allem aber oftmals so schmal, dass zwei Fahrzeuge nicht einander ausweichen könnten. Deshalb müssten wir den Gegenverkehr abwarten, erst dann sei eine Freigabe in unserer Richtung möglich. Das also ist der Grund für das Gasthaus, geht es mir durch den Kopf. Gewiss eine gute Einnahmequelle in dieser ansonsten recht einsamen Gegend.
Tee und Gebackenes, erst einmal, danach noch ein zweites Mal - nur langsam verstreichen die nächsten beiden Stunden. Doch dann sind sie da. Eine Staubwolke kündigt sie an sowie das Dröhnen zahlreicher Motoren, das so gar nicht in dieses Bergidyll passen will. Es dauert lange, bis die Kolonne vorüber ist und wir an der Reihe sind. Motoren werden angelassen, Gänge eingelegt, und ein Fahrzeug nach dem anderen fädelt sich auf die vor uns liegende Straße ein. Auf die Straße nach Leh. Wie oft schon haben wir den Namen dieser Stadt gehört, nun endlich sind wir auf dem Weg dorthin. Wir sind voll gespannter Erwartung.
Dass der Straßenbau im Himalaya ein Problem ist, haben wir vermutet. Jetzt erfahren wir, dass es sich tatsächlich so verhält. Die Straße ist unbefestigt, so wie unser Fahrer sie uns beschrieben hat, überall loser Sand und viel kleines Gestein, mitunter herabgestürzte Felsblöcke, die niemand wegräumt, so lange sie sich umfahren lassen. Was oft keine Kleinigkeit ist, denn die Straße ist nicht nur unbefestigt, sie ist an vielen Stellen auch sehr schmal. Dass es keine Leitplanken gibt, muss wohl nicht sonderlich betont werden. Dafür gibt es Blicke in Abgründe, die uns, die wir in einem wohlgeordneten Land leben, wiederholt erschauern lassen. Hussain hingegen scheint das nicht zu irritieren. Gelassen umfährt er alle Hindernisse und steuert gekonnt durch den losen Sand, während wir von Minute zu Minute an Höhe gewinnen. Sieht man einmal von diesen Umständen ab, so ist die Fahrt durch die Bergwelt des Himalaya allerdings ein großes Erlebnis. Eine Landschaft beinahe im Urzustand ihrer Entstehung, menschenleer bis auf ein paar Hirten, die ihre Schafe und Ziegen auf die nächste Weide treiben oder einem jener Steinkreise entgegen, die den Herden während der Nacht Schutz vor Raubtieren gewähren sollen.
Und dann ist da auf einmal das Militär. Woher die Truppentransporter kommen, wissen wir nicht, sie sind plötzlich da, und von der Zahl her müssen es Hunderte sein. Fast hat es den Anschein, als wolle die indische Armee in einen neuerlichen Krieg ziehen. Da die Fahrzeuge langsamer sind als wir, setzt Hussain zum Überholen an, womit eine Horrorfahrt beginnt. Der Lärm ist dabei noch das geringere Problem, das aggressive Röhren von Motoren, die offensichtlich einer Zeit entstammen, als Schalldämpfung noch kein Thema war. Schlimmer sind die Abgase, und noch wesentlich schlimmer ist der aufgewirbelte Staub. Wenn das Wort Staubhölle jemals eine Berechtigung hatte, dann hier! Er ist so fein, dass er durch sämtliche Ritzen dringt, er raubt uns den Atem, lässt uns Taschentücher vor den Mund halten und legt sich als pudriger Überzug auf unsere Kleidung und unsere Gesichter. Wir verfluchen die indische Armee, jeden einzelnen Transporter, ja schließlich sogar unsere Fahrt, aber genau so gut hätten wir die Sonne oder den Wind verfluchen können - es nützt nichts! Zumindest so lange nicht, bis die unbefestigte Straße nach Stunden endlich in eine asphaltierte übergeht und bei den Überholmanövern "nur" noch der Lärm und die Abgaswolken übrig bleiben. Völlig entnervt erreichen wir kurz vor Anbruch der Dunkelheit Kargil und finden Unterkunft in einem kleinen Guesthouse. Ein einfaches Essen, dann fallen wir in unsere Betten. In den Schlaf begleitet uns das anhaltende Getrippel kleiner Pfoten oberhalb unserer Zimmerdecke. Andere Lebewesen in diesem Guesthouse scheinen uns noch näher zu sein, jedenfalls lassen die roten Stellen auf unseren Körpern am nächsten Morgen darauf schließen.
Tag zwei unserer Fahrt. Erleichtert registrieren wir, dass die Militärfahrzeuge verschwunden sind, womit endlich wieder die Natur in den Vordergrund tritt. Viele hohe Berge, zwei Pässe, einer davon über 4.000 Meter hoch, gelegentlich Siedlungen und Felder in den Tälern, die wie Inseln in dieser ansonsten völlig kahlen Landschaft liegen. Manche würden sie trostlos nennen. Bald hinter Kargil erreichen wir endlich Ladakh und damit die Welt des Buddhismus, jener Religon, der nur ein kleiner Teil der Inder - weniger als ein Prozent - zugehörig ist. Manimauern mit heiligen Texten, Tschörten und Gebetsfahnen am Wegesrand sind unverkennbare Zeichen. Irgendwann taucht Lamayuru auf, das oft beschriebene und noch öfter fotografierte Kloster, das zu den touristischen Highlights im nördlichen Indien gehört. Und das so malerisch vor einer grandiosen Bergkulisse auf einem Hügel liegt, dass es uns, als wir es hinter einer Kurve auftauchen sehen, für einen Moment den Atem verschlägt. Hussain hält an, wir steigen aus und stehen tief beeindruckt vor dieser Szenerie, die ein Gemälde sein könnte. Eine Pilgergruppe kommt uns entgegen, als wir zum Kloster hinüberlaufen. Hier ist alles ganz anders, als wir es aus dem übrigen Indien kennen. Völlig anders auch als in jenem Teil Kaschmirs, aus dem wir aufgebrochen sind. Was wir sehen, ist eine ganz eigene Welt. Bilder vom Dalai Lama künden von der geistigen Nähe zu Tibet, wir treffen Mönche mit kahlgeschorenen Köpfen und roten Roben, bestaunen die farbenprächtigen Wandmalereien und die geschmückten Buddhastatuen mit den Opfergaben der Gläubigen davor. "Om mani padme hum", hängen die heiligen Worte in der Luft, "Oh du Juwel in der Lotusblüte" - das älteste und bis heute populärste Mantra des Buddhismus.
Nach einem Abzweig am Ufer des Indus ein zweites, rund 1000 Jahre altes Kloster: Alchi. Auch hier wieder Gebetsmühlen, Buddhas und Bodhisatvas, vor allem aber viele großartige Bilder, die aufgrund der extremen Trockenheit in diesem Gebiet noch immer fantastisch erhalten sind. Gegen Abend taucht nach 450 Kilometern schließlich Leh vor uns auf, die rund 30.000 Einwohner zählende Hauptstadt Ladakhs. Hussain hat seine Sache gut gemacht auf einer Strecke, die keine Kleinigkeit war. Die nächsten Tage werden wir in Leh verbringen, außerdem zwei weiteren Klöstern in der Umgebung einen Besuch abstatten. (In einem späteren Bericht werde ich darauf zurückkommen.)
An dieser Stelle noch ein paar Sätze zu unserer Rückfahrt einige Tage später. Alles geht glatt, keine Spur mehr vom Militär, lediglich auf halber Strecke droht ein Hindernis, unsere Fahrt zu verzögern. Der Grund ist ein Bergrutsch, ein Ereignis, das in dieser Gegend keine Seltenheit ist. Die Straße ist gesperrt, schweres Gerät zum Räumen bereits im Einsatz, allerdings - so die Auskunft des Verantwortlichen - werde es noch Stunden dauern, bis wir an dem Hindernis vorbeifahren dürfen. Eine Frage der Sicherheit, sagt er und deutet in das tief unter uns liegende Tal. Wir werden unruhig. Stundenlang warten, um anschließend womöglich im Dunkeln bis zum nächsten Ort zu fahren? Auf dieser Straße? Doch wir wären nicht in Indien, gäbe es nicht eine Lösung für das anstehende Problem. In diesem Fall eine gemeinsame: Wir sind für die Geldscheine zuständig, die den Verantwortlichen zum Wegschauen veranlassen, Hussains Aufgabe ist es, den Wagen vor dem Abgrund zu bewahren. Eine Aufgabe, die er souverän meistert. So souverän, dass uns beim Weiterfahren der Gedanke beschleicht, einen solchen Deal mit zwei unbedarften Touristen hätten die beiden nicht das erste Mal durchgezogen ...
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