Unwillkommene Gäste.
Vom Scheitern einer Sahara-Reise. Algerien 1991
Vom Scheitern einer Sahara-Reise. Algerien 1991
Der Stein, den der Junge wirft, ist faustgroß, und er fliegt direkt auf uns zu. Instinktiv ziehe ich den Kopf ein, aber er verfehlt sein Ziel. Adrenalin pumpt durch meine Adern. Ich trete auf die Bremse, springe aus dem Wagen und schreie den Jungen an, er solle sofort mit dem Werfen aufhören. Den interessiert meine Aufforderung nicht. Aber was noch schlimmer ist: Mehrere, nur wenige Meter entfernt vor ihren Häusern sitzende Erwachsene interessiert sie ebenfalls nicht. Keinerlei Reaktion, keine Zurechtweisung des Jungen, keine Bestrafung. Die Männer blicken zu mir herüber, als wäre nichts geschehen. Der Werfer hebt einen weiteren Stein auf und zielt auf unser Auto, doch da ich davor stehe, zielt er auch auf mich. Es dauert eine Sekunde, bevor mir diese Situation ganz bewusst wird, mit der ich - nachdem ich bereits mehrere Algerien-Reisen hinter mir habe - im Leben nicht gerechnet hätte. Schon sitze ich wieder in unserem VW-Bus und gebe Gas. Vor uns ein Speedbreaker, ich muss kurz abbremsen, als der zweite Stein uns nur knapp verfehlt. Ich drücke das Gaspedal weit mehr herunter, als es in einer geschlossenen Ortschaft erlaubt ist. Der Junge wird rasch kleiner, und als die Straße eine Kurve macht, ist er aus unserem Blickfeld verschwunden. Bestürzt sehen wir uns an. Der Himmel ist voll tief hängender Wolken, ein kräftiger Wind peitscht Sand über die Straße, und die Oase Al Aricha - ohnehin kein Wohlfühlort - erscheint uns wie der trostloseste Platz auf Erden. Al Aricha liegt im Norden Algeriens, für uns ist die Oase eine von mehreren auf unserem Weg von Marokko ins Zentrum der Sahara. Die lange Anfahrt von Berlin aus haben wir hinter uns, die Weiten Algeriens und die Rückfahrt liegen noch vor uns, doch um ein Haar wäre unsere Tour hier zu Ende gewesen, hätte der Junge unsere Windschutzscheibe getroffen. Mit Ersatz könnten wir in dieser Gegend wohl kaum rechnen. Ein halbes Jahr Vorbereitung, eine Menge Geld, viel Engagement - und aus ist es! Als die Dunkelheit hereinbricht, suchen wir uns abseits der Straße einen Platz für die Nacht. Es ist kalt und windig, und außerdem hat es zu regnen begonnen. Unsere Stimmung ist denkbar schlecht. Es ist der 15. Oktober 1991.
Eineinhalb Jahre zuvor in einer anderen Oase Algeriens: Wir haben einen kleinen Zoo besucht, kehren zu unserem Auto zurück und stellen fest, dass eine Radkappe fehlt. Der Betreiber des Zoos ist empört. Wütend zitiert er ein paar Jungen herbei, die in der Nähe herumlungern und die er offenbar verdächtigt, die Kappe abmontiert zu haben. Nachdem er zunächst mit zorniger Stimme auf sie eingeredet hat, greift er sich einen von ihnen und versetzt ihm eine Ohrfeige. Erschrocken laufen die Jungen davon. Unsere Radkappe haben wir dadurch zwar nicht zurück bekommen, aber hier hat sich jemand auf unsere Seite gestellt und den mutmaßlichen Übeltätern klar gemacht, wie man Fremde - Fremde sind Gäste! - behandelt. Das war im Januar 1990. Nun, im Oktober 1991, ist alles ganz anders. Niemand springt uns bei, als wir attackiert werden. Niemand hebt auch nur eine Hand für uns.
Der Ärger geht weiter. Am Tag nach den Steinwürfen geraten wir auf freier Strecke - man könnte es auch "mitten im Nichts" nennen - in eine Polizeikontrolle. Um uns herum ist die Welt noch immer ungemütlich und grau. Wir müssen an die Seite fahren und den Motor abstellen, dann wird unser Auto durchsucht. Vor allem für Haschisch (aus Marokko) und Schwarzgeld interessieren sich die beiden Polizisten, und um das zu finden, machen sie sich ohne jede Hemmung über unser Gepäck her. Keine Spur von "Würden Sie mal bitte diese Kiste öffnen!" - hier herrscht ein ganz anderer Ton. Irgendwann stößt einer der Polizisten auf Zigaretten die wir - selbst Nichtraucher - zum Verschenken mitgenommen haben. Da ich seine Frage bereits ahne, biete ich ihm eine Schachtel an. Er steckt sie ein, erwähnt dann - sozial, wie er nun mal ist - seine Kollegen, also auch die gar nicht anwesenden, und verstaut gleich mehrere Schachteln in seinem Mantel. Protestieren wir? Natürlich nicht, dafür gibt es viel zu viele Einzelteile, in die man unseren VW-Bus für eine vertiefte Durchsuchung zerlegen könnte. Also lächeln wir, sagen "Klar, die Zigaretten können Sie haben!" und denken uns den Rest. Schließlich dürfen wir weiterfahren, nachdem sie bei der Suche nach illegalem Besitz nicht fündig geworden sind.
Nicht einmal 24 Stunden später eine weitere Polizeikontrolle. Der Wind hat den Sand zu Dünen aufgeweht, hier und da gibt es Gräser, die den unwirtlichen Bedingungen trotzen. Eigentlich eine reizvolle Landschaft - ihretwegen sind wir in die Sahara gefahren -, wären da nicht die beiden Polizisten, die sich noch ruppiger geben als ihre Kollegen am Tag zuvor. Der eine bezieht Posten vor unserem Auto und hält dabei eine Maschinenpistole im Arm. Ob er wohl fürchtet, wir könnten über seinen Kollegen herfallen, der sich im Wagen zwischen unseren beiden Sitzen niedergelassen hat? Was wir nur allzu gern tun würden, so unfreundlich und herrisch wie der ist. Wieder sind es Haschisch und Schwarzgeld, die den Vertreter der Staatsmacht interessieren. Nachdem er bereits unser Gepäck durchwühlt hat, brütet er nun über unserer Devisenerklärung und lässt sich das Geld vorzählen, jede einzelne Münze. Weil alles stimmt, wird seine Laune noch schlechter. Vielleicht hätte er ja eine Belohnung erhalten, wenn er uns ins Gefängnis gebracht hätte, aber die löst sich nun in Nichts auf wie eine Fata Morgana. Nach einer Weile gibt er uns die Devisenerklärung und unsere Papiere zurück, die er ebenso penibel kontrolliert hat, fragt - na klar, auf seinen Wunsch haben wir nur gewartet! -, ob wir ihm ein paar Büchsen Cola schenken würden und verlässt gleich darauf mit unserem "Geschenk" unser Auto. Ob der draußen Wartende erleichtert ist, dass sein Kollege den Einsatz überlebt hat, können wir nur vermuten, denn er verzieht keine Miene. "Passez!", sagt der mit den Büchsen "Fahren Sie weiter!" Eine Aufforderung, der wir nur allzu gerne nachkommen. Als wir die Polizisten im Rückspiegel nicht mehr sehen, wischen wir uns Schweißperlen von der Stirn. 1000 DM Schwarzgeld liegen zwischen unseren Sitzen, die wir wegen des extrem ungünstigen offiziellen Wechselkurses mitgenommen haben, der Polizist hat gewissermaßen darauf gesessen. Das war knapp, verdammt knapp! Ein paar Kilometer weiter halten wir an und legalisieren vorsichtshalber das Schwarzgeld, indem wir unsere Devisenerklärung ein wenig "nachbearbeiten".
Und noch einmal kommt es dicke, am darauffolgenden Abend in Ghardaia, der wohl schönsten Oase Algeriens. Wir wollen durch die Altstadt bummeln, eine Atmosphäre wie in 1001 Nacht (siehe Bericht 4), aber da die Altstadt recht unübersichtlich ist und wir uns nur schwer zurechtfinden würden, vereinbaren wir mit ein paar Jungen, uns zu führen. Doch kaum haben wir die ersten Schritte gemacht, stellt sich uns ein alter Mann in den Weg und erklärt, um diese Zeit hätten wir an diesem Ort nichts mehr zu suchen, wir sollten verschwinden. Und während er das sagt, funkelt er uns unfreundlich an. Da wir unsicher sind, was uns bei einer Fortsetzung unseres Bummels erwarten würde, kehren wir um - zutiefst enttäuscht, denn gerade auf dieses Erlebnis hatten wir uns bei der Vorbereitung unserer Reise ganz besonders gefreut!
Steinwürfe auf unser Auto und mich, ruppige Polizisten und nun auch noch Ghardaia ... Bringt man die Ereignisse auf einen Nenner, so lautet der: Ihr seid unwillkommene Gäste, am besten wäre es, ihr würdet verschwinden! Aber, so fragen wir uns, warum ist das so? Eineinhalb Jahre zuvor waren wir mehrere Wochen in der Sahara unterwegs, alles war bestens, man hat uns freundlich behandelt, und die wenigen Kontakte mit der Polizei bestanden im wesentlichen aus netten Plaudereien. Alles war so, dass wir am Ende unserer Reise entschieden, im nächsten Jahr wiederzukommen. Und nun ist auf einmal alles ganz anders. Wir zerbrechen uns die Köpfe und finden schließlich eine mögliche Erklärung: Es ist die große Politik, die diesen Wandel bewirkt hat. Neun Monate vor unserer Reise hat der zweite Golfkrieg begonnen, der Einmarsch der USA und ihrer Verbündeten in den Irak und die Befreiung Kuwaits. In der arabischen Welt wurde dies vielfach als ein Kreuzzug gegen den Islam missinterpretiert, und es entstand jene antiwestliche Haltung, die mit dem Stichwort Islamismus umschrieben werden kann und die in der Folge Al-Kaida hervorbrachte und zu den Anschlägen des 11. September führte. Auch in Algerien war die politische Situation offenbar bereits äußerst angespannt: Nur zwei Monate nach unserem Aufenthalt begann ein Bürgerkrieg zwischen der Regierung und islamistischen Gruppen, in dessen Verlauf 100.000 Menschen den Tod finden sollten. Die Stimmung gegenüber der westlichen Welt war gekippt, und damit befanden wir uns auf einmal aus dem Blickwinkel so mancher Algerier im feindlichen Lager. Eine Folge dieser veränderten Situation war im übrigen auch, dass viele Westler begannen, islamische Staaten zu meiden - ein Umstand, den wir auf unserer Rückreise durch Marokko noch zu spüren bekommen sollten, wo es um diese Zeit nur wenige westliche Touristen gab und wir von den dadurch beinahe arbeitslos gewordenen einheimischen Souvenirhändlern geradezu überrannt wurden.
Am Abend nach Ghardaia stehen wir irgendwo in der Wüste. Es ist finster, und wir schauen den Lichtern der Fahrzeuge nach, die in einiger Entfernung noch auf der Straße unterwegs sind. Unsere Stimmung ist auf einem Tiefpunkt. Zum wiederholten Mal reden wir über das Geschehene. Irgendwann kommen wir dabei auf unsere Alkoholvorräte zu sprechen, einige Pappen mit Wein und zwei Flaschen Rum zum Aufwärmen für den abendlichen Tee. Alkohol und Islam, das ist uns klar, sind eine ebenso schlechte Kombination wie der Teufel und das Weihwasser im Christentum, und das unbeschadet der Tatsache, dass wir auf unserer vorherigen Saharafahrt wiederholt von Einheimischen auf Alkohol angesprochen wurden, nicht zuletzt von Polizisten. Doch nun, angesichts der veränderten Stimmung im Land? Vielleicht würden wir ja schon bald in eine neuerliche Polizeikontrolle geraten, und irgendein übereifriger Staatsdiener würde unsere Alkoholvorräte zum Problem machen. Eine Weile zögern wir, dann nehmen wir die beiden Flaschen, genehmigen uns noch einen Abschiedsschluck und gießen den Rest anschließend in die Wüste. Der Verlust schmerzt - nicht der Rum an sich, sondern das, wofür er stand: gemütliche Abends in unserem Auto mit dem Duft von Tee mit Rum, während draußen der Wind pfeift und die winterliche Kälte das Land fest im Griff hat ...
Am nächsten Morgen brechen wir unsere Reise ab und machen uns auf den Rückweg.
Die neuen Berichte auf reiselust.me erscheinen jeweils
am 10., 20. und 30. jedes Monats
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