Potjomkin in Jaipur
Ein Besuch in der rosaroten Stadt. Indien 1994
 
Als die russische Zarin Katharina II. im Jahre 1787 eine Reise durch neu eroberte Gebiete unternahm, ließ deren Gouverneur Grigori Alexandrowitsch Potjomkin angeblich entlang der Wegstrecke Scheindörfer aus bemalten Kulissen errichten, die der Zarin eine prosperierende Entwicklung vorspiegeln sollten. So heißt es zumindest, allerdings melden Historiker Zweifel am Wahrheitsgehalt dieser Geschichte an. Dennoch hat das vermeintliche Geschehen unter dem Stichwort "Potjomkinsche Dörfer" Eingang in unsere Sprache gefunden - als Bezeichnung für etwas, das mehr zu sein scheint, als es tatsächlich ist. An diesen russischen Gouverneur muss ich denken, als wir im Januar 1994 in der indischen Stadt Jaipur unterwegs sind. Was wir sehen, ist zwar kein ganzes Potjomkinsches Dorf, es ist nur ein einzelnes Bauwerk. Aber wenn dieses Etikett irgendwo einen Sinn macht, dann hier: beim Hawa Mahal, dem "Palast der Winde".
 
 
Wir sind in Delhi aufgebrochen, Rajasthan ist unser Ziel und Jaipur die erste Stadt, die wir erreichen. Rajasthan, das "Land der Könige" an der Grenze zu Pakistan, ist von der Fläche her beinahe so groß wie Deutschland, wobei die Wüste Thar einen erheblichen Teil davon einnimmt. In den Katalogen der Reiseveranstalter sind es Begriffe wie "Maharadschas", "wilde Krieger" und "prunkvolle Paläste", die diesem Teil Indiens zugeordnet werden. Geradezu märchenhaft soll der Reichtum der einstigen Herrscher gewesen sein. Heute ist er bescheidener, seit die Maharadschas im Jahr 1947 im Rahmen der indischen Unabhängigkeit ihre Macht verloren. Oder um es passender auszudrücken: seit ihnen die goldenen Flügel gestutzt wurden. Doch noch immer sind sie da. Gelegentlich treten sie zu offiziellen Anlässen in Erscheinung und erinnern damit an das Indien, das es nicht mehr gibt. Der Palast des Maharadschas von Jaipur ist es, zu dem der "Palast der Winde" gehört. Schon von Weitem erblicken wir ihn, als wir in der Altstadt herumbummeln, und natürlich erkennen wir ihn sofort, schließlich gibt es kaum ein Werbeplakat für Rajasthan, auf dem er nicht abgebildet ist - ein filigranes Gebäude mit einer wabenartigen Fassade und kunstvoll vergitterten Fenstern, 953 an der Zahl. Sie bewirken eine ständige, leicht kühlende Luftzirkulation, die dem Bauwerk seinen Namen gab (hawa = Wind, mahal = Palast). Aber eine Täuschung à la Potjomkin? Genau um eine solche handelt es sich, und wir sehen es, nachdem wir den Eingang durchschritten haben und die Augen nach oben richten: ein Palast, der lediglich aus einer Vorderfront besteht und dahinter im Wesentlichen nur Treppen und Laufgänge aufweist. Eine Kulisse. "Oh, what's that?!", vernehmen wir den Ausruf einer enttäuschten Touristin, und hätten wir uns nicht vorher über das Bauwerk informiert, wir hätten ihre Enttäuschung geteilt. Über steile Stufen steigen wir nach oben und machen dabei wiederholt vor den Fenstern mit den zierlichen Steinmetzarbeiten Halt. Die Blicke gehen hinunter auf die Straße, auf der reger Verkehr herrscht. Alles können wir von hier aus sehen, während wir selbst für die Menschen dort unten unsichtbar bleiben. Und genau dieser Umstand war der Grund für die Errichtung des Gebäudes: Vom "Palast der Winde" aus beobachteten die Damen des Hofes, die sich nicht unter das Volk mischen durften, das Geschehen außerhalb des Palastes, ohne selbst gesehen zu werden.
 
"Pink City" lautet ein verbreiteter Name von Jaipur - "rosarote Stadt". In der Tat sind viele Gebäude in der Altstadt einschließlich des "Palastes der Winde" von dieser Farbe. Im Jahr 1876 erhielten sie diesen Anstrich in Vorbereitung auf einen Besuch des Prince of Wales, des britischen Thronfolgers. Rosa sei die Farbe der Gastfreundschaft, hieß es dazu in einer Erklärung. Was die Frage provoziert, ob Jaipur denn so viel gastfreundlicher sei als die anderen Städte Rajasthans? Wohl kaum. Aber die Tourismusindustrie hat die damalige Erklärung als ein willkommenes Geschenk nur allzu gern aufgegriffen und nutzt sie für ihre Werbung.
Eingereiht in den nicht abreißenden Strom der Passanten bummeln wir bei angenehmen 22 Grad die Hauptstraße hinunter. Quirlig ist es um uns herum, die halbe Stadt ist auf den Beinen - Männer mit klapprigen Karren, die Obst, Betel und Nüsse verkaufen, barfüßige Lastenträger, Handwerker, die am Straßenrand ihre Arbeiten verrichten, bettelnde Frauen mit Babys auf dem Arm, Schulmädchen, deren strenge Uniformen so gar nicht zu dem farbenprächtigen Durcheinander passen wollen, dazu eine Unzahl von Fahrrädern und Rikschas, Autos und Bussen, und als wäre das alles noch nicht exotisch genug, sind da auch noch die heiligen Kühe und die vor Wagen gespannten Kamele. Gewissermaßen als Krönung reitet ein drahtiger Mahout auf einem Elefanten durch das Bild.
 
Weitere Elefanten sehen wir später, keine lebenden, sondern Abbildungen auf Marmorreliefs an den Grabmälern verstorbener Maharadschas. Es ist eine Sehenswürdigkeit abseits der Haupttrampelpfade des Tourismus, zu der uns Harish mit seinem Tuk-Tuk - einer dreirädrigen Motorrikscha - gefahren hat. Für die Tage unseres Aufenthaltes in Jaipur haben wir ihn "in unsere Dienste genommen". Harish entstammt einer armen Familie aus der Wüste Thar. Für ihn sind wir ein Top-Job angesichts der Tatsache, dass er nicht jeden Tag genügend Fahrgäste hat, um dem Besitzer des Tuk-Tuk die vereinbarte Miete zu zahlen. Harish zeigt auf ein Grab: "Dieser Maharadscha", erklärt er in gebrochenem Englisch, "hat 145 Kinder gehabt: 144 Jungen und ein Mädchen. Sie sind alle an Malaria gestorben." Wir runzeln die Stirn angesichts dieses bemerkenswerten Geschlechterverhältnisses, sagen aber nichts, sondern bestaunen stattdessen die Pavillons aus indischem und italienischem Carrara-Marmor (eine Information unseres Reiseführers), die so zierlich sind, dass sie beinahe schwerelos erscheinen. Unsere Augen wandern über die Reliefs mit den Elefanten - Kriegselefanten natürlich und keine zum Arbeiten, was hätte ein kriegerischer Herrscher mit solchen auch zu schaffen gehabt! Man könnte die abgebildeten Tiere auch Kampfmaschinen nennen, dazu bestimmt, gegeneinander anzurennen und sich mit den Stoßzähnen zu attackieren, blutend und brüllend vor Schmerz und kaum noch zu bändigen im Schlachtgetümmel, doch hier sieht alles wie geleckt aus, ein geradezu ästhetisches Bild eines Kampfes. Wie viele dieser Elefanten mögen an Altersschwäche gestorben sein? Ein Tierschutzgedanke aus einer Zeit, für die die hier Ruhenden wohl nur ein unverständiges Achselzucken gehabt hätten. Wenn überhaupt.
Anfang 2011 verstarb der letzte Maharadscha von Jaipur, der noch vor der Abschaffung der Privilegien auf den Thron gekommen war. In Jaipur wurde eine zweitägige Staatstrauer ausgerufen, alle Schulen und Regierungsgebäude blieben geschlossen, die Feuerbestattung wurde live im indischen Fernsehen übertragen. Kurz darauf wurde sein Enkel, ein zwölfjähriger Schuljunge, feierlich zu seinem Nachfolger gekrönt. Macht hat er nicht, dennoch verehrt ihn die Bevölkerung als den Repräsentanten einer Dynastie, die vor mehr als tausend Jahren zur Herrschaft gelangte und diese bis in die jüngste Vergangenheit innehatte. Als neuer Maharadscha ist der Junge Erbe eines gewaltigen Vermögens aus Ländereien, Palästen und Antiquitäten.
Besichtigen macht hungrig, aber dieses Gefühl ist in indischen Städten leicht zu befriedigen - vorausgesetzt, man hat das Geld zum Bezahlen. "Jaipur Meals" heißt das Restaurant wenig fantasiereich, die Gäste sind Inder, wir sind die einzigen Touristen. Wie alle anderen bestellen wir Thali: mehrere metallene Schälchen mit Gemüse, Fisch und kleinen Beilagen, die auf einem runden Tablett serviert werden, das ebenfalls aus Metall besteht und ebenfalls Thali heißt. Dazu gibt es Reis und Chapatis, die traditionellen Fladenbrote. Zwischen den Tischen läuft ein Junge mit einem Satz Schüsseln herum und füllt nach, was die Gäste wünschen. "All you can eat" würde man dieses Verköstigungsprinzip heute nennen. Zum Abschluss gibt es eine Süßspeise in Kloßform. Bemerkenswert ist die Art des Servierens: Der Kellner entnimmt einer Schüssel zwei Klöße und zerbröselt sie zwischen seinen Händen über unseren Tellern. Vielleicht erweist sich ja eine unserer Impfungen als hilfreich, sagen wir uns optimistisch, und langen so beherzt zu, dass der Kellner - er beobachtet uns aus der Nähe - sichtlich seine Freude an uns hat.
 
Es war im Jahr 1799, als der "Palast der Winde" errichtet wurde. Rund siebzig Jahre zuvor entstand Jantar Mantar, ein Observatorium, das die UNESCO wegen seiner Bedeutung für die Entwicklung der Astronomie zum Weltkulturerbe erklärt hat. Um es ganz deutlich zu sagen: Wir haben nicht die geringste Ahnung von der Funktionsweise dieser Anlage, wir können lediglich zur Kenntnis nehmen, dass sie Fachleuten zufolge zu ihrer Zeit ein wahrer Geniestreich war. 14 "Instrumente" gibt es hier - mit einem gelblichen Gips überzogene Dreiecke, Kreise und Säulen aus Ziegelstein, mit deren Hilfe sich die Positionen und die Bewegungen der Himmelskörper bestimmen lassen und mit denen man die Zeit bis auf zwei Sekunden genau ablesen kann. Bis auf zwei Sekunden! Und dabei sieht alles so grobschlächtig aus, eher wie ein Spielplatz für Riesenkinder oder wie eine skurrile Schöpfung eines übersättigten Potentaten. Jantar Mantar ist eine Anlage so groß, dass man darin spazieren gehen kann, und zugleich ist sie so leistungsfähig, dass es beinahe ein Wunder ist. Indisches Hightech aus einer vergangenen Zeit. Hervorgebracht von demselben Volk, dem wir unser Dezimalsystem der Zahlen zu verdanken haben. Und eine der bedeutendsten Erfindungen überhaupt: die Null.
 
 
Die Dämmerung hat bereits eingesetzt, als wir zu unserem Tuk-Tuk zurückkehren. Neben Harish sitzt ein weiterer Mann auf dem Vordersitz, vielleicht ein Freund, der ihm Gesellschaft leistet, vielleicht ein Mitfahrer mit einem ähnlichen Ziel wie wir. Überraschende Begleiter sind bei indischen Fahrern nicht ungewöhnlich. Wie jedes Mal berührt Harish kurz den Glück bringenden Ganesha an seinem Innenspiegel und lässt dann den Motor an. Routiniert steuert er sein Gefährt durch die Stadt, weicht den kreuz und quer laufenden Passanten aus, den Löchern im Asphalt und den mitten auf der Fahrbahn liegenden Kühen, die hier wie überall im Land Narrenfreiheit haben. Niemand hupt sie an, niemand scheucht sie beiseite und natürlich fährt ihnen auch niemand über den Schwanz. In einem Baum beziehen Geier gerade ihre Schlafplätze, für uns ein sehr fremdartiger Anblick. Nach kurzer Fahrt haben wir unser Guesthouse erreicht. Mit den Worten "See you tomorrow!" verabschieden wir uns von Harish. Bevor wir das Haus betreten, schütteln wir den allgegenwärtigen Staub aus unserer Kleidung. "See you tomorrow!" Ein neuer Tag, eine neue Tour. Schließlich hat Jaipur noch einiges zu bieten.
                     
Manfred Lentz
 

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