Drei Festungen und tausend Affen
Auch die Umgebung von Jaipur ist einen Besuch wert. Indien 1994
 
Versuchen Sie, sich Jaivana vorzustellen - welches Aussehen würden Sie ihr geben? Schlank und dunkelhäutig? Tiefschwarze Augen in einem gemeißelten Gesicht? Mit den anmutigen Drehungen einer Tänzerin, mit schlangengleich sich bewegenden Armen und üppigen Brüsten, die Männer um den Verstand bringen können? Falsch! Grundfalsch sogar! Denn Jaivana ist nicht schlank, Jaivana ist dick. Ihre Rundungen sind hart. Sie ist steif und schwerfällig, und jeglicher Veränderung ihrer Position setzt sie ein kompromissloses Beharrungsvermögen entgegen. Denn Jaivana ist mitnichten eine indische Schönheit, wie ihr klingender Name glauben machen könnte. Jaivana ist eine Kanone. Ja, mehr noch - sie ist die größte, dickste und schwerste fahrbare Kanone, die jemals gebaut wurde.
 
Es ist der 28. Januar 1994, und wie schon am Tag zuvor, holt Harish uns nach dem Frühstück mit seinem Tuk-Tuk in unserem Guest House ab. Harish ist ein junger Inder aus der Wüste Thar, den wir für die Zeit unseres Aufenthaltes in Jaipur als Fahrer verpflichtet haben. Die Top-Highlights seiner Stadt haben wir bereits abgehakt, die "Pflicht" sozusagen: den Palast der Winde und das Observatorium Jantar Mantar. Heute steht die "Kür" auf dem Programm. Drei Forts gibt es in der Nähe der Stadt, drei mächtige Anlagen aus einer Zeit, als Rajasthan mit seiner heutigen Hauptstadt Jaipur noch kein hochkarätiges Reiseziel für Touristen aus aller Welt war, sondern Kaufleute mit ihren Karawanen durchs Land zogen und Handwerker einen prachtvollen Palast nach dem anderen aus dem Boden stampften. Und als Feinde mit Kampfelefanten an der Spitze hochgerüsteter Heere über die ansässigen Maharadschas herfielen, angelockt von deren sagenhaftem Reichtum. Verständlich, dass die Angegriffenen sich nach Kräften bemühten, den Angreifern den Spaß zu verderben, und das nicht zuletzt durch die Errichtung jener Forts, deren Besichtigung wir mit Harish für diesen Tag ausgemacht haben.
 
 
Jaigarh ist das erste von den dreien, und es ist das mit der Kanone. Das Fort liegt auf einer Anhöhe oberhalb der alten Hauptstadt Amber und ist so gebaut, dass seine Einnahme für jeden Angreifer eine harte Nuss sein musste. Nicht zuletzt die langen, im Vorfeld über die umgebenden Hügel sich hinziehenden Mauern sollten ihm das Leben schwer machen. Ihr Anblick erinnert an die Mauer der Chinesen, eine Miniaturausgabe zwar nur, aber errichtet für denselben Zweck. Wie viel Blut hier vergossen wurde, lässt sich nur vermuten. Doch nicht nur das Schreckliche bleibt der Fantasie des Besuchers überlassen. Das Gleiche gilt auch für das Schöne, das Märchenhafte, das wohl jeder bei der Erwähnung des Wortes "Maharadscha" im Hinterkopf hat. Den Reichtum vor allem - Herrscher, die sich mit Gold aufwiegen ließen und wie Onkel Dagobert in Schatztruhen wühlten. Vom Fort geht der Blick weit in das Land hinaus, gut für die damaligen Bewohner der Sicherheit wegen, gut aber auch für uns Heutige wegen der reizvollen Fotomotive. Die Besucher von Jaigarh sind größtenteils Inder, oftmals Großfamilien, die feiertäglich gekleidet und in bester Ausflugsstimmung dem Erbe ihrer Vorfahren nachspüren. Besonders Jaivana scheint es ihnen angetan zu haben, die große Kanone. Bei ihr ist die Zahl der Schaulustigen besonders groß, was auch nicht weiter verwundert, sind die Daten von Jaivana doch wahrhaft beeindruckend: Im Jahr 1720 in Jaigarh gebaut, bringt sie bei einer Rohrlänge von sechs Metern das Gewicht von 30 PKWs auf die Waage, 50 Kilogramm schwer sind die Kugeln, und um das massige Geschütz zu drehen, bedurfte es der vereinten Anstrengung von vier Elefanten. Aber Größe bedeutet nicht zwangsläufig Effektivität, weshalb sich die Frage nach dem praktischen Nutzen dieser Monsterkanone stellt. Unserem Reiseführer zufolge hat sie nur einen einzigen Schuss abgegeben, wobei die Kugel je nach Quelle 11, 22 oder gar 40 Kilometer weit flog. In der 40er Variante schlug sie ein Loch, das heute noch als Teich genutzt wird. Andere Angaben gehen von mehreren Schüssen aus, doch insgesamt scheint die Kanone eher dem gigantomanischen Denken ihres Auftraggebers geschmeichelt zu haben, als dass sie eine wirksame Waffe war. Ohne Zweifel hat jeder einzelne Kampfelefant des damaligen Maharadschas mehr Gegner ins Jenseits befördert als Jaivana.
Drei Forts haben wir mit Harish vereinbart - warum ich von dem zweiten, dem Nahargarh Fort, kein einziges Bild habe, daran kann ich mich heute nicht mehr erinnern. Fotografieren verboten? Vermutlich nicht. Aber lassen wir das dahingestellt und wenden uns gleich dem unterhalb von Jaigarh liegenden Amber Fort zu, dem bekanntesten der drei. Bekannt wegen der Fotos, auf die kein Indien-Rajasthan-Amber-Reiseprospekt verzichtet: Touristen, die sich von einem bunt geschmückten Elefanten von der Straße zum Palast hinaufschaukeln lassen. Wir verzichten auf das Schaukeln und legen das kurze Stück bis zu dem prächtigen Eingangstor zu Fuß zurück. "Prächtig" ist das Wort, das neben "wehrhaft" schon für Jaigarh so gut passte und nun auch für Amber. Ein Komplex, bei dem Kleckern wohl gar nicht erst zur Diskussion stand, sondern nur Klotzen - alles musste größer und imposanter sein als bei den Nachbarn. Auch die Frauen in den Harems der Maharadschas waren Teil dieses permanenten Wettstreits - und lebten dabei recht angenehm, findet ein Veranstalter von Indienreisen: "Die Damen führten kein schlechtes Leben, denn alle hatten ihre eigenen Tänzerinnen und Sklavinnen" - eine Formulierung, für die wohl jede Frauenbeauftragte dem vermutlich männlichen Verfasser dieses Satzes nur allzu gern etwas abschneiden würde. Aber die Zeiten haben sich ohnehin geändert. Die einstmals so mächtigen Herrscher haben ihre Macht verloren und sind ärmer geworden - was immer "ärmer" in diesem Zusammenhang auch heißen mag -, und dass ihre Festung die beste Zeit bereits hinter sich hat, ist nicht zu übersehen. Doch noch immer lässt sich erkennen, was für eine beeindruckende Anlage Amber Fort einmal war. Einen Eindruck davon vermittelt neben dem aus weißem Marmor erbauten Audienzsaal Diwan-e-Am, in dem die Herrscher Gesandte und Bittsteller empfingen, vor allem der Saal Sheesh Mahal mit Tausenden in die Wand eingelassenen winzigen Spiegeln. In einem ebenso ausgestatteten, aber abgedunkelten Nebenraum entzündet eine Inder eine Kerze, und sofort beginnen die Spiegel zu leuchten wie die Sterne am Firmament. Ich versuche, mir einen Abend am Hofe des Maharadschas vorzustellen: ein festliches Mahl, Musiker für die Unterhaltung, dazu die schönsten Tänzerinnen weit und breit, die mit ihren Reizen nicht geizen. Und wer weiß - vielleicht hieße eine von ihnen ja sogar Jaivana. Oder zumindest so ähnlich.
 
 
Jede Menge Bauten, jede Menge Architektur - offensichtlich ist Harish der Ansicht, dass die steinernen Hinterlassenschaften seiner Ahnen nicht alles sind, weshalb er uns als Abschluss der heutigen Tour einen Besuch im Tempel der Affen vorschlägt. Schon häufig sind wir in Indien Vertretern dieser Tierart begegnet, in nahezu jedem Heiligtum trifft man sie an und auch oft in Palästen, wo sie in friedlicher Koexistenz mit den Menschen ein recht angenehmes Leben führen. In dem vorgeschlagenen Tempel allerdings soll es besonders viele Affen geben, was nicht weiter erstaunt, ist dieser doch dem Affengott Hanuman geweiht, der sich bei den Hindus großer Beliebtheit erfreut. Wir zeigen uns von Harishs Idee angetan, und kurz darauf sind wir auch schon von etlichen Tieren umringt, die uns aufdringlich mustern. Hungrig sehen sie nicht aus, wohl aber verfressen. Klar, dass es in der Nähe einen Inder mit Erdnusstütchen gibt, und klar, dass die Affen wissen, was es mit diesen Tütchen auf sich hat. Kaum haben wir einige erstanden, machen die Tiere ihren Anspruch auf Fütterung geltend. Routiniert nehmen sie uns die Nüsse aus der Hand, immer geschickt eine nach der anderen. Zumindest bei Karin machen sie das so. Mir hingegen entwenden sie mit einem raschen Griff gleich die Tüte.
 
Wir wenden uns von den Affen ab und der Anlage zu, in der sie zu Hause sind. Eingebettet in eine Schlucht liegen mehrere Gebäude zwischen den Felsen, es herrscht Stille, ein idealer Ort für religiöse Übungen und Meditation. Wo sich zu anderen Zeiten ganze Busladungen von Touristen drängen, sind an diesem Tag nur wenige unterwegs. Die meisten Besucher sind Inder. Über Treppen geht es an zwei großen Wasserbecken vorbei bis zu einem kleinen ganz oben. Die Quelle ist heilig, die dieses Becken speist, ebenso wie die umstehenden Bauten und die steinernen Götterfiguren, die den Ort mit göttlicher Kraft aufladen. Ein paar Männer vollziehen rituelle Waschungen, andere starren weltvergessen vor sich hin oder rezitieren heilige Texte. Einer steigt in das Becken. Dass es weniger nach klarem Quellwasser aussieht als nach einer Dreckbrühe, scheint ihn nicht zu irritieren, selbst als er das Wasser in den Mund nimmt und es wieder zurückspuckt, nachdem er die heilige Kraft in sich aufgenommen hat. Und einmal mehr wird uns bewusst, dass wir - obwohl nur wenige Flugstunden von Deutschland entfernt - in einer ganz anderen Welt unterwegs sind.
 
Manfred Lentz
 
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