Wo die Klapperschlangen wohnen
Auf einem Rundweg durch den Saguaro-Nationalpark. Arizona/USA 2011
 
Samstag, 30. April 2011, im Saguaro-Nationalpark im Südwesten der USA. Saguaros - das sind die Kakteen, die wir alle kennen, deren Namen aber vermutlich nur den wenigsten geläufig ist. Sie sind groß und stämmig, erinnern von der Form her oftmals an Leuchter, und in der Gegend von Tucson in Arizona gibt es so viele davon, dass man für sie einen Nationalpark eingerichtet hat. Oder um korrekt zu sein: zwei Nationalparks, die durch die Stadt voneinander getrennt sind. Den einen haben wir bereits in einem früheren Bericht kennen gelernt, nun sind wir in dem anderen unterwegs. Durch den Park führt eine Straße. Auf Parkplätzen kann man sein Auto abstellen und auf ausgeschilderten Rundwegen die Gegend erkunden. Genau das haben wir vor. Da ich die Saguaro-Kakteen im Licht der Nachmittagssonne fotografieren will, sind wir erst spät in Tucson aufgebrochen.
 
 
Der Rundweg beginnt unmittelbar hinter dem Parkplatz und ist leicht zu finden. Er schlängelt sich zwischen kleinen und großen Kakteen hindurch, die meisten von ihnen Saguaros, führt an Dornengestrüpp vorbei über ausgedörrte, nach Wasser lechzende Erde und über Steine von zumeist bräunlicher Färbung. Im Boden gibt es unzählige Löcher, viele von kleinem Durchmesser, manche sind größer. In diese Löcher, so hatte eine Tafel im Visitor Centre des Nationalparks die Besucher gewarnt, solle man nicht mit der Hand greifen. Wir fragen uns, wie verrückt jemand sein muss, um so etwas zu tun. Noch auf eine andere Gefahr hat uns die Warntafel hingewiesen - auf Bienen. Vor denen sollten wir uns unbedingt in Acht nehmen, hatte es mit einem dicken Ausrufezeichen geheißen. Kämen wir ihren Bauten zu nahe, so könnten sie unter Umständen äußerst aggressiv darauf reagieren. Durch das Einkreuzen afrikanischer Bienenvölker in die heimische Art sei eine Variante entstanden, die wegen ihrer Angriffslust nicht umsonst den Namen "Killerbienen" trage. Die einzig wirksame Abwehr im Falle eines angreifenden Schwarms, so hieß es auf der Warntafel weiter, sei das Weglaufen. In der Regel würden die Tiere nach einer Viertel oder einer halben Meile die Verfolgung aufgeben. Eine halbe Meile - das sind stolze 800 Meter! Ein toller Tipp, insbesondere angesichts der Tatsache, dass es in den USA mehr dicke Menschen gibt als sonstwo auf der Welt. Ihnen würden vermutlich noch vor den mordlustigen Bienen ihre Cholesterinwerte zum Verhängnis werden. Erfreulicherweise zeigt sich an diesem Tag kein Schwarm, nur einzelne Exemplare sind unterwegs, die uns indes vollständig ignorieren. Ebenso wie die fliegenden Ameisen, vor deren Bissen man uns ebenfalls gewarnt hat. Harmlos unter den fliegenden Vertretern des Tierreichs scheinen in dieser Gegend nur die Vögel zu sein, von denen es eine Menge gibt. Ihr Gesang ist das einzige Geräusch um uns herum - vom Wind einmal abgesehen, der mit wechselnder Intensität heranweht und gelegentlich Sandfähnchen aufwirbelt. Und der erfreulicherweise die selbst noch um diese Tageszeit herrschende Hitze ein wenig erträglicher macht.
 
Knapp zwei Kilometer sei unser Rundweg lang, so hatte am Parkplatz auf einer Infotafel gestanden. Einen halben Kilometer haben wir zurückgelegt, als die Beschilderung auf einmal abbricht. Wir befinden uns an einer Stelle, an der laut einer weiteren Tafel einst eine Familie gelebt hat. Im Jahr 1933, nach der Erhebung dieses Gebietes zum National Monument, habe der Staat ihnen ihr Plätzchen abgekauft und sie seien in eine andere Gegend gezogen. Wir fragen uns, wie diese Familie hier gelebt haben mochte und wovon sie sich ernährte. Wasser zumindest hatte sie in einem Fluss ein Stück unterhalb der Stelle, an der ihr Haus stand. Zur Zeit ist es im Park knochentrocken und das Flussbett ist leer, aber das dürfte sich bei Regen schnell ändern. Womit in einem solchen Fall zu rechnen war, hatten uns Verkehrsschilder auf unserer Herfahrt verraten, auf denen vor gelegentlichen Überflutungen der Straßen gewarnt worden war.
Wir schauen uns in dem Flussbett um und halten zugleich Ausschau nach dem weiteren Verlauf unseres Rundwegs. Nirgends gibt es einen Hinweis darauf, wo wir sind. Karin ist sich sicher, dass der Weg mit dem Flussbett identisch ist. Ich bin nicht davon überzeugt, weiß aber keine vernünftige Alternative, deshalb folge ich ihr. Während ich laufe, schweifen meine Blicke über den Boden. Löcher, wohin man auch sieht, von denen die meisten vermutlich Bewohner haben, die indes unsichtbar bleiben. Plötzlich vernehme ich ein Knacken im Gebüsch, etwas Großes läuft eilig davon, so dass ich nur noch das Hinterteil sehe. Ich erinnere mich an das Gespräch eines Besuchers mit einem Park-Ranger, dessen Zeuge wir im Visitor Centre geworden waren. Auch er hatte ein unbestimmtes Tier vorbeihuschen sehen und erkundigte sich nun, um was für eins es sich gehandelt haben könnte. Möglicherweise ein "deer", erwiderte der Ranger, also ein Reh oder ein Hirsch. Von der Färbung her, fügte er hinzu, könne es aber auch ein Coyote gewesen sein. Auch ein Puma? fragte der Besucher, vielleicht in Erinnerung an den Einführungsfilm im Visitor Centre, den wir ebenfalls gesehen hatten. Im Prinzip ja, antwortete der Gefragte. Aber das sei nicht sehr wahrscheinlich, da es in dieser Gegend nur noch wenige Pumas gebe. Dann schon eher ein Coyote.
 
Karin ist von dem Tier nicht irritiert, da sie es nicht bemerkt hatte. Unbeirrt stapft sie durch das Flussbett und ist nach wie vor der Meinung, wir seien auf dem richtigen Weg. Und dabei gibt es keine Markierung und auch sonst keinen Hinweis. Im Westen steht die Sonne schon recht tief über den Saguaros, und ihre Schatten werden zunehmend länger. Nach einer Weile wird das Flussbett schlecht begehbar, deshalb wenden wir uns dem Ufer zu. Dort gibt es verschiedene Möglichkeiten weiterzulaufen. Wir entscheiden uns für eine davon, kurz darauf folgen weitere Abzweigungen, aber auch hier nicht der geringste Hinweis auf unseren Rundweg. Vielleicht, gebe ich zu bedenken, wäre es am besten, an dieser Stelle umzudrehen. Noch würden wir zu unserem Auto zurückfinden, doch je häufiger wir die Richtung wechselten, um so schwieriger dürfte das werden. Karin, die sich sonst überlicherweise meiner Führung anvertraut, ist weiter von dem eingeschlagenen Weg überzeugt. Sorgenvoll beobachte ich, wie die Sonne immer mehr Löcher in den Schatten entlässt. Sechs Arten von Klapperschlangen gibt es hier, dazu Skorpione, die Killerbienen und die beißenden Ameisen, und wie Coyoten auf verirrte Touristen reagieren, will ich mir gar nicht erst ausmalen. Und nicht zu vergessen die Pumas, auch wenn es dem Ranger zufolge nur wenige Exemplare im Park gibt. Dass uns überdies eine kalte Nacht bevorstünde, ist gemessen an all dem anderen geradezu eine Bagatelle und überhaupt nicht der Rede wert. Die Halbwüstenbewohner wären unser Problem, von denen die meisten nachtaktiv sind, die sich hier weit, weit besser zurechtfinden als wir, die sich lautlos bewegen, die wir nicht sehen würden, sondern allenfalls spüren, aber das wäre auch schon der worst case, und an den will ich nicht einmal denken.  Humboldt fällt mir ein, seine Exkursionen in die gefährlichsten Gebiete der Erde, und auf einmal fühle ich mich wie er... oder nein, ich will nicht übertreiben, auf einmal fühle ich mich wie Humboldt light. Erlebte man dieselbe Situation in einem heimischen Wald, so würde man sich an einen Baum lehnen und den Tagesanbruch abwarten. Auch nicht gerade gemütlich. Aber hier?!
 
 
Karin kennt keine solchen Gedanken. Ohne nach Alternativen Ausschau zu halten, schreitet sie aus, als hätte sie diesen Nationalpark selbst angelegt, als kenne sie jeden Stein, jeden Busch und wüsste bei jedem ausgestreckten Arm eines Saguaros, in welche Richtung er wies. Auf meine Bedenken reagiert sie regelmäßig - böswillig könnte man auch sagen: penetrant - mit einem knappen "Das ist der richtige Weg". Und obwohl ich mich schwer tue, es zuzugeben, muss ich bekennen - sie hat Recht. Irgendwann stehen wir vor einem Stein mit einem Richtungspfeil. "Da lang!", erklärt sie mit derselben Selbstverständlichkeit, mit der sie es bei einem Straßenschild auf dem Berliner Ku'damm tun würde. Kurz darauf folgt ein zweiter Pfeil, den sie schon gar nicht mehr kommentiert, danach weitere, und als ein letzter auf den Parkplatz weist, der bereits sichtbar vor uns liegt, fällt mir ein Stein vom Herzen. Schöner als Beethovens Götterfunken klingt in meinen Ohren das Geräusch, als ich den Motor anlasse. Im Schein der Abendsonne setzt sich unser Wagen in Bewegung. Als wir den Parkausgang erreichen, holt ein Ranger gerade die amerikanischen Fahne ein. Schluss für heute, im Saguaro-Nationalpark bricht der Feierabend an. Und während wir in Richtung Tucson davonrollen, kriechen hinter uns die Klapperschlangen aus ihren Löchern ...
  
      Manfred Lentz
 

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