Nemrut Dagi
Gestürzte Götter und ein Grab unter Geröll.
 Türkei 1981
 
Kennen Sie das Königreich Kommagene? Wohl eher nicht. Haben Sie schon einmal von Antiochos I. gehört? Vermutlich ebenfalls nicht. Und dennoch wird Ihnen vielleicht etwas bekannt sein, was mit beiden zu tun hat: die Köpfe großer Steinfiguren - Mensch, Adler und Löwe - unterhalb der Spitze eines Berges von eigentümlichem Aussehen. Es dürfte wohl kein internationales Reisebüro geben, das dieses Ziel nicht im Angebot hätte, und ganz gewiss gibt es keinen Türkei-Reiseprospekt, der auf das Anpreisen dieses touristischen Juwels verzichten würde. Im Jahr 1987 hat die UNESCO die Anlage zum Weltkulturerbe erklärt - eine Kultstätte mit einem Grabmal auf einem Berg, dem Nemrut Dagi.
 
 
Sommer 1981. Ich bin mit einem Busunternehmen auf einer dreiwöchigen Rundreise in der Türkei unterwegs. Nach Aufenthalten in Istanbul, Ankara und bei den bizarren Felsformationen von Göreme haben wir den östlichsten Punkt unserer Tour erreicht, etwa einhundert Kilometer von der syrischen Grenze entfernt, unweit des Euphrats. "Kurdisches Land" steht in unserer Reisebeschreibung. Nahe der Provinzhauptstadt Adiyaman lassen wir den Bus stehen und wechseln in geländegängige Fahrzeuge. Der Weg ist steinig und steil, wir werden kräftig durchgeschüttelt, dennoch genießen wir die Fahrt durch die eindrucksvolle Landschaft. Die Berge des Taurus, ein langgestreckter Gebirgszug, der sich fast durch die gesamte südliche Türkei zieht. Im Gegensatz zu den grünen Tälern sind die Höhen von Ziegenherden kahlgefressen und beinahe baumlos. Mit 2150 Metern ist der Nemrut Dagi die höchste Erhebung in weitem Umkreis, und er ist der Grund, weshalb wir hier sind. Schon von weitem fällt die ungewöhnliche Spitze des Berges auf. Sie hat die Form einer Pyramide und ruft den Gedanken an eine Haube hervor, die man ihm aufgesetzt hat. Als das Gelände unwegsamer wird und die Straße schließlich endet, verlassen wir die Fahrzeuge und legen den restlichen Aufstieg zu Fuß zurück. Obwohl der Tag noch nicht alt ist, brennt die Sonne bereits kräftig. Je näher wir der "Haube" kommen, um so mehr löst sich das zunächst homogene Bild auf und Details werden sichtbar. Von Fotos kannten wir den Anblick bereits, doch nun stehen wir davor, und die Realität zieht uns in ihren Bann. Bei der "Haube" handelt es sich nicht um gewachsenen Fels, wie es zunächst ausgesehen hatte, vielmehr besteht sie aus übereinander liegenden zumeist faustgroßen Steinen. Ein Berg aus Geröll sozusagen, 45 Meter hoch, an der Basis mit einem Durchmesser von 150 Metern. Eine künstliche Aufschüttung auf dem höchsten Gipfel in diesem Gebiet.
 
Dies allein wäre schon eine Reise zum Nemrut Dagi wert, doch das ist noch nicht alles. Hinzu kommen die aus Stein gehauenen Köpfe, die ich eingangs erwähnt habe. Es gibt Begegnungen mit Sehenswürdigkeiten, bei denen man beeindruckt ist, und es gibt Begegnungen, die einen schlichtweg überwältigen. Diese hier gehört in letztere Kategorie. Für mich jedenfalls, der ich fasziniert da stehe und erlebe, wie die Monumente - vor dem Hintergrund des künstlichen Hügels und eingebettet in eine großartige Landschaft - ihre Wirkung entfalten. Köpfe von Menschen oder zumindest solche mit menschlichem Antlitz, dazu Adler und Löwe, alle von gewaltigen Ausmaßen. Erdbeben haben die Köpfe von den Körpern getrennt, auf denen sie einst saßen. Das ursprüngliche Aussehen der steinernen Riesen ist noch immer gut erkennbar, auch wenn der Zahn der Zeit deutliche Spuren hinterlassen hat. Und als wäre dieses eine Ensemble noch nicht genug, gibt es auf der gegenüberliegenden Seite der "Haube" gleich noch ein zweites von der derselben Art.
Der Zahn der Zeit ... Unser Reiseleiter ruft seine Schäfchen zusammen und beginnt zu erzählen. Dies alles, sagt er und beschreibt mit seinen Armen einen weiten Kreis über die Landschaft, sei vor zweitausend Jahren das Königreich Kommagene gewesen. Kein großes Königreich, aber immerhin hat es den Herrscher hervorgebracht, auf den diese einzigartigen Monumente zurückgehen: Antiochos I. Keiner von den global players seiner Zeit, da gab es andere, etwa Cäsar in Rom oder die Könige der Perser, denen Antiochos nicht mal ansatzweise das Wasser reichen konnte. Was ihn allerdings nicht davon abhielt, sich in Bezug auf seine Abstammung auf einige ganz Große zu berufen, darunter den Perserkönig Dareios und Alexander den Großen. Aber selbst mit diesem erlesenen Hintergrund gab sich Antiochos nicht zufrieden. Er ging noch einen Schritt weiter, oder vielleicht sollte man besser sagen: er ging noch Tausende Schritte weiter, denn er tat etwas, wovon es keine Steigerung mehr gab: Er erklärte sich selbst zu einem Gott. Und da für einen Gott nur das Beste genug sein konnte, ließ er für die Verehrung seiner Götter - und damit auch für sich selbst - jene Kultstätte auf dem höchsten Berg seines Reiches errichten, vor der wir nun stehen.
 
"Eindrucksvoll!" - "Was für ein magischer Ort!" - "Irgendwie größenwahnsinnig!" Die Reaktionen meiner Reisegruppe geben ein breites Spektrum möglicher Kommentare wieder, zumindest solche heutiger Zeitgenossen, denn zu Zeiten des Antiochos dürften diese wohl anders ausgefallen sein. Wobei sich über dieses "anders" natürlich nur spekulieren ließe. Ohne Spekulationen kommt man hingegen bei der Frage aus, wen die Statuen darstellen sollen. Ihre Identität ist gesichert, seit ein deutscher Ingenieur Ende des 19. Jahrhunderts den Kultplatz wiederentdeckt hat und in der Folgezeit Archäologen aus mehreren Ländern sich an seine systematische Untersuchung gemacht haben. Eine der Statuen, fährt unser Reiseleiter in seinen Erläuterungen fort, zeige Antiochos selbst, eine die Landesgöttin Kommagene, die drei übrigen stellten drei weitere Gottheiten dar. Dann wendet er sich einigen großen Reliefsteinen zu, aber wie das bei einer Gruppe so ist: Einige interessieren sich sehr für seine Ausführungen, andere eher weniger, und so wenden sich schon bald mehrere der Umstehenden von ihm ab und der merkwürdigen Bergspitze zu, die auf jeden Betrachter eine geradezu magische Anziehungskraft ausübt. Auch ich stehle mich davon, da die Zeit unseres Aufenthaltes begrenzt ist. Dass für die Errichtung des Heiligtums rund 300.000 Kubikmeter Fels bewegt werden mussten, vernehme ich noch mit halbem Ohr, während ich bereits auf den Geröllberg zugehe. Dem "Tumulus", wie die offizielle Bezeichnung lautet. Drei Prozessionswege führen auf die Spitze hinauf, ich steuere den nächstliegenden an. Heute, im Jahr 2014, da ich diese Zeilen schreibe und dazu die alten Fotos noch einmal auf mich wirken lasse, kommt mir die damalige Situation geradezu unwirklich vor: ein zweitausend Jahre altes Monument, ein äußerst empfindliches noch dazu, denn wie leicht könnten Steine abrutschen, auf das man Touristen so einfach hinauf laufen lässt! Heutige Archäologen und Konservatoren von Altertümern dürften bei diesem Gedanken wohl mit den Augen rollen, und tatsächlich ist die Besteigung des Tumulus' seit Jahren verboten. Doch 1981 sah die Welt noch anders aus, und deshalb folge ich dem eingetretenen Weg nach oben. Unter meinen Füßen knirschen die Steine aneinander, gelegentlich rutscht einer ein Stück weit herunter. Vermutlich könnte ein strauchelnder Tourist eine kleine Steinlawine auslösen - oder vielleicht wäre es richtiger zu sagen: Wer weiß, wie oft das in der Vergangenheit bereits geschehen ist! Auf halber Höhe mache ich Halt, einerseits in Erinnerung an meinen gescheiterten Aufstieg auf die Mykerinos-Pyramide im Jahr zuvor, andererseits, weil der Ausblick auch von hier aus schon großartig ist: um mich herum Steine ohne Ende, unten die Statuen der Götter und ein beinahe grenzenloser Blick in die Ferne!
 
 
Während ich so da stehe und alles betrachte, stelle ich mir dieselbe Frage, die sich vor mir vermutlich schon unzählige Besucher gestellt haben: Was befindet sich eigentlich unter dieser Aufschüttung aus Geröll? Dass man eine Grabanlage in dem Tumulus vermutet, nämlich die von Antiochos I., habe ich gelesen. Doch wie sieht sie aus? Wie groß ist sie und aus welchem Material? Liegt der selbsternannte Gottkönig darin in einem märchenhaften Sarg? Wie verhält es sich mit möglichen Grabbeigaben? Standen sie denen der Ägypter nach, etwa denen des Tut-ench-amun, in dessen Grabkammer man ungeheure Schätze gefunden hat, oder haben sie diese womöglich gar übertroffen? Wurden Teile des königlichen Gefolges mitbestattet? Ist der Beigesetzte einbalsamiert und dadurch bis heute gut erhalten? Tausend offene Fragen, und gewiss haben die Erforscher dieses Monuments sich diese Fragen auch schon tausend Mal gestellt. Und doch hat der Berg sein Geheimnis bis heute nicht preisgegeben. Natürlich könnte man den Spaten ansetzen, doch würde man auf diese Weise die fragile Abdeckung des Grabes für immer zerstören. Wiederholt hat man es mit zerstörungsfreier Technik versucht, hat den Tumulus mit Strahlen durchleuchtet auf der Suche nach verborgenen Strukturen, aber ein Durchbruch ist bis heute nicht gelungen. Noch immer bewahrt der Nemrut Dagi sein Geheimnis. Womit er auch weiterhin im Gespräch bleiben wird, ebenso wie Antiochos I., der selbsternannte Gott eines kleinen Reiches, der ansonsten wohl so ziemlich zu dem Uninteressantesten gehören würde, was die Weltgeschichte zu bieten hat. So aber lebt er fort in Bildern und Büchern und in der Erinnerung unzähliger Besucher, und mit ihm auch sein geheimnisvolles Grab, über das alle gern Genaueres wissen würden. So wie ich.
           
                                                                                                            Manfred Lentz
 

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