Eine Schatztruhe als Kirche
Der Petersdom in Rom. 2013
 
Denkt euch, wir haben ... nein, nicht das Christkind gesehen, das wäre die ganz große Nummer gewesen, der Megaevent sozusagen. Aber seinen Stellvertreter haben wir gesehen, was ja auch nicht schlecht ist. Er saß unter dem großen Baldachin im Petersdom in Rom, umgeben von mehreren Priestern und beschützt von Schweizergardisten, vor ihm und zu seiner Rechten und Linken einige tausend Menschen aus aller Welt - Pilgergruppen, zu deren Begrüßung diese Audienz anberaumt war, aber auch ganz normale Touristen, die es zufällig zu diesem Zeitpunkt in das Gotteshaus verschlagen hatte. Solche wie uns. Dicht gedrängt stehen wir inmitten der Menge und fixieren jenen Mann, der wegen der Entfernung recht klein aussieht, kraft seines Amtes aber einer der ganz Großen dieser Welt ist. Man schreibt das 1992, und der Stellvertreter ist Johannes Paul II. Der Papst.
 
Mehr als zwanzig Jahre später sind wir abermals in Rom, im Jahr 2013, aber auf den Papst müssen wir diesmal verzichten. Zumindest auf den Papst in persona. Auf Abbildungen dagegen haben wir ihn in diesen Tagen bereits tausendfach gesehen, auf gerahmten Fotos in jedwedem Format und auf unzähligen Ansichtskarten, auf T-Shirts und Schirmen, auf Kerzen und  Streichholzschachteln, ja, selbst auf Flaschenöffnern ist er allgegenwärtig. Man müsste schon mit geschlossenen Augen durch die Stadt gehen, um das warmherzige Großvatergesicht mit dem gutmütigen Lächeln zu übersehen. Das Gesicht jenes Papstes, der erst seit einem Monat im Amt ist, der es aber bereits in diesem kurzen Zeitraum geschafft hat, nicht nur seine Anhänger, sondern auch viele, die der Kirche fern stehen, in seinen Bann zu schlagen: Franziskus, Nachfolger von Benedikt XVI., der wiederum der Nachfolger "unseres" Papstes aus dem Jahr 1992 war. Ein Multifunktions-Papst wie seine beiden Vorgänger und wie die rund 300 Päpste davor: Oberhaupt der römisch-katholischen Kirche und Bischof von Rom, Haupt des Bischofskollegiums sowie monarchischer Souverän der Vatikanstadt, des autonomen Kleinstaates innerhalb Roms. Vor allem aber ist er der irdische Stellvertreter "des Christkindes", Jesu Christi also, und in dieser Funktion ist er der Nachfolger des Apostels Petrus. Des "Felsens", auf dem Jesus einem viel zitierten, aber gefälschten Satz zufolge seine Kirche hat gründen wollen.
 
 
Ein Mann von solcher Bedeutung benötigt für seine Auftritte ein passendes Ambiente, und das hat er. Schon der Weg, auf dem wir und alle anderen Besucher sich ihm an diesem sonnigen Apriltag im Jahr 2013 nähern, ist eine spektakuläre Inszenierung. Wir kommen vom Castel Sant'Angelo, dem einstigen Mausoleum des römischen Kaisers Hadrian, der späteren Burg mehrerer Päpste. Vor dem Castel das übliche Spektakel: Verkäufer bieten Getränke und Souvenirs an, Touristen lassen sich mit Hadrians Soldaten fotografieren, ein Straßenmusikant bringt gekonnt seine Gitarre zum Glühen. Nur ein kurzes Stück weiter beginnt die Via della Conciliazione, eine 500 Meter lange Prachtstraße, die auf gerader Linie zum Petersdom - der Basilica Papale di San Pietro in Vaticano - und damit zum Papst führt. Massen von Touristen sind an diesem Tag unterwegs, junge und alte, Menschen aller Hautfarben und aller Sprachen aus jedem Winkel der Welt. Rund 20.000 sind es an einem gewöhnlichen Tag, an den kirchlichen Feiertagen sind es noch mehr. Das Ziel immer vor Augen, bewegen wir uns alle gemeinsam auf den Petersdom zu, der in der Sichtachse der Straße in jener vollkommenen Großartigkeit in den Himmel ragt, mit der ihn die Baumeister des 16. und 17. Jahrhunderts geschaffen haben. Michelangelo war einer von ihnen. Von ihm stammt vor allem die gewaltige Kuppel, die dem Gebäude sein unverkennbares Aussehen gibt. Obwohl der Dom nah erscheint, ist der Weg zu ihm weit, denn die Dimensionen, in denen hier gebaut wurde, sind riesig. Ebenfalls riesig sind die Ausmaße des Platzes, der sich zwischen der Straße und dem Gotteshaus erstreckt. Wie ausgebreitete Arme umfassen zwei mächtige Kolonnaden die Piazza San Pietro, den Petersplatz, der 150.000 Menschen Raum bietet und der an den Festtagen den Hintergrund für die Bilder abgibt, die um die Welt gehen. 140 überlebensgroße Heiligenstatuen blicken von den Säulenreihen auf die Menschen herab. Im Zentrum des Platzes ragt ein Obelisk auf, in dessen Spitze sich ein Teil des Kreuzes Christi befinden soll.
 
Ein Sperrriegel von aufgestellten Stühlen verhindert den direkten Zugang zum Dom. Wir biegen nach rechts ab und reihen uns in die vielhundertköpfige Warteschlange ein, die sich vor der Sicherheitskontrolle gebildet hat. Wie bei anderen sensiblen Sehenswürdigkeiten wird auch beim Petersdom das Thema Sicherheit ganz groß geschrieben. Eine halbe Stunde später stehen wir vor dem großen Portal, und erwartungsvoll wie bei unserem ersten Besuch treten wir ein. Nicht mit den Emotionen der Gläubigen, für die das Betreten ihrer Hauptkirche ein religiöses Erlebnis ist. Wir sind Ungläubige, aber auch wir sind erfüllt von dem Bewusstsein, an einem ganz besonderen Ort zu sein. Was für ein faszinierendes Gebäude! Mit 211 Metern in der Länge, 138 in der Breite und einer Höhe von 132 Metern ist der Petersdom eines der größten Kirchengebäude der Welt. Rund 20.000 Menschen finden in ihm Platz. Für diejenigen, die mit solchen Zahlenangaben wenig anfangen können, hat man im Fußboden des Hauptschiffs Markierungen angebracht: Bis hierher reicht die Sagrada Familia in Barcelona, bis hierher die Isaakskathedrale in Sankt Petersburg oder die Londoner St. Paul's Cathedral. Selbst der Kölner Dom, der uns so groß erscheint, fände Platz in dieser riesigen Kirche - nicht von der Höhe her, wohl aber von der Länge und Breite.
Doch selbstverständlich ist seine Größe nicht das Einzige und auch nicht das Entscheidende, was den Ruhm von Sankt Peter ausmacht. Was vor allem beeindruckt, sind die Kunstwerke, die hier in überwältigender Fülle vorhanden sind. Statuen aus feinstem Marmor, farbenprächtige Gemälde, monumentale Grabmäler von Päpsten und überreich geschmückte Altäre - alles zusammen ein einzigartiges Zeugnis, wozu menschliche Kreativität in der Lage ist. In welcher Liga man hier spielt, wird gleich hinter dem Eingangsportal bei der Pietà deutlich, die der damals gerade einmal 25 Jahre alte Michelangelo geschaffen hat. Beeindruckt verharren wir vor der in den Boden eingelassenen roten Porphyrscheibe, auf der Karl der Große in der Weihnachtsnacht des Jahres 800 vom Papst zum Kaiser gekrönt wurde, schlendern dann zwischen Grabmälern und Heiligenstatuen umher, berühren wie alle anderen den rechten Fuß des heiligen Petrus, was Glück bringen soll, und bewegen uns dabei die ganze Zeit über auf jene Schöpfung von Bernini zu, die die Kirche dominiert: einen Baldachin aus Bronze auf vier 29 Meter hohen gewundenen Säulen. Hier saß bei unserem Besuch im Jahr 1992 der Papst, genau in der Vierung der Kirche unter der hohen Kuppel, und was noch wichtiger ist: genau über dem Grab des Apostels Petrus, des ersten Papstes.
 
Am Eingang zum Grab herrscht Gedränge, denn natürlich zieht es jeden Besucher an diesen allerheiligsten Ort. Der Überlieferung zufolge hauchte Petrus an dieser Stelle sein Leben aus, als man ihn während der Herrschaft Kaiser Neros zusammen mit weiteren Anhängern der neuen Religion kopfunter ans Kreuz schlagen ließ. Knapp 300 Jahre später, nachdem das Christentum die alten römischen Götter verdrängt hatte, entstand hier eine einfache, dem Apostel geweihte Kirche. Später, seit dem Anfang des 16. Jahrhunderts, wuchs dann jene Kirche empor, in der wir uns an diesem Tag befinden. Unsere Augen haben Mühe, den überquellenden Reichtum des Petrusgrabes zu erfassen. Einen Reichtum, für den frühere Päpste die Begründung bemühten, für das Lob Gottes könne nichts prächtig genug sein, zu dem der gegenwärtige Papst Franziskus mit seiner Armutstradition aber wohl eher ein gespanntes Verhältnis haben dürfte. Hat er recht mit seiner Haltung? Man mag trefflich darüber streiten, aber eins ist gewiss: Hätten Päpste wie Franziskus in der Vergangenheit auf dem Stuhl Petri gesessen, würden wir Nachgeborenen uns nicht an diesem Bauwerk und seinen unvergleichlichen Kunstschätzen erfreuen können.
 
 
Wir verlassen das Grab des Apostels und wenden uns dem Aufstieg auf die Kuppel zu. Sie besteht aus zwei übereinander liegenden Schalen, zwischen denen ein enger und zumeist schräger Gang nach oben führt. 320 Stufen bringen uns wie alle anderen Besucher zum Schwitzen, doch der Aufstieg lohnt sich. Der Blick in den Innenraum der Kirche aus der ganz anderen Perspektive macht einmal mehr die gewaltigen Dimensionen dieses Bauwerkes deutlich. Ein Erlebnis ganz besonderer Art ist auch die Aussicht nach draußen. Über den Petersplatz geht der Blick hinüber zur Engelsburg und zum Tiber und weit in die Stadt hinein zum Kolosseum und zum Nationaldenkmal, bis er sich in der Ferne in den Albaner Bergen verliert. In der anderen Richtung liegt der Vatikanstaat zu unseren Füßen. Mit einer Fläche von weniger als einem halben Quadratkilometer ist er der kleinste Staat der Welt. Hier wohnen der Papst und seine Kardinäle, hier befinden sich die Vatikanischen Gärten, die Sixtinische Kapelle und die Museen mit ihren Schätzen. Rund 1.000 ständige Einwohner leben im Vatikanstaat. Kaum erstaunlich dürfte sein, dass er der Staat mit dem höchsten Katholikenanteil weltweit ist: volle 100 Prozent.
 
So viel zu sehen, so viele Informationen - irgendwann rauchen uns die Köpfe, und außerdem haben wir Hunger. Wir beschließen, unsere Besichtigung einstweilig zu beenden und in den nächsten Tagen noch einmal wiederzukommen. Was sich als keine gute Idee erweist. Denn als wir uns drei Tage später - es ist ein Samstag - erneut auf den Weg machen, wird uns gleich hinter der Engelsburg klar, dass es keine Fortsetzung der Besichtigung geben wird. Zu groß ist das Gedränge, zu endlos die Schlange vor der Sicherheitskontrolle. So viele Menschen sind es, dass Polizisten die Nachrückenden mit ausgebreiteten Armen von der Straße schieben müssen, um dem Verkehr ein Durchkommen zu ermöglichen. Ein paar Schweizergardisten laufen an der Menge vorbei, die Leibgarde des Papstes in ihrer farbenfrohen Kleidung, die nach Fasching aussieht, dabei jedoch verdeckt, dass es sich um eine gut ausgebildete Einheit handelt. Die Gesichter der Männer bleiben ausdruckslos, auch die auf sie gerichteten Kameras lassen sie kalt. Für sie sind Menschenmassen ein alltäglicher Anblick, und vermutlich genießen sie ihn. Unterstreicht er doch, dass sie nicht irgendwo ihren Dienst tun, sondern an einem Ort, der mehr als einer Milliarde Menschen als Zentrum ihres Glaubens dient. Und der für die anderen eine der spektakulärsten Sehenswürdigkeiten der Welt ist. Eine Schatztruhe in Gestalt einer Kirche.
                                                                                                              Manfred Lentz
 

Die neuen Berichte auf reiselust.me erscheinen jeweils
am 10., 20. und 30. jedes Monats