Mont Saint-Michel
Eine Abtei für den Erzengel. Frankreich 2004
 
Es gibt Orte, die müsste man eigentlich meiden, weil an ihnen so viel los ist. Zu viele Menschen auf zu wenig Raum. Aber natürlich kann man das nicht, denn in der Regel gehören gerade diese Orte zu den sehenswertesten. Einer von ihnen ist der Mont Saint-Michel in Frankreich. Mit dreieinhalb Millionen Besuchern im Jahr ist er nach dem Pariser Eiffelturm die am zweitstärksten frequentierte Sehenswürdigkeit des Landes. Dreieinhalb Millionen - das sind pro Tag etwa 10.000, und das auf einer Fläche von 55.000 Quadratmetern, was gerade einmal acht Fußballfeldern entspricht. Zieht man den Rand der Insel ab, dem die Touristen eher wenig Aufmerksamkeit schenken, so konzentriert sich ihre Zahl auf eine noch erheblich kleinere Fläche. Und das spürt man, wenn man auf dem Mont unterwegs ist! Ja, mehr noch, man bemerkt den Andrang schon von weitem, wenn man vom Festland her kommend über den Straßendamm auf die Insel zuhält und nach einem knappen Kilometer den riesigen Parkplatz mit unzähligen Autos und Dutzenden von Reisebussen erreicht. Wobei ich eine Einschränkung machen muss: Die geschilderte Situation ist die des Jahres 2004, als wir dem Mont Saint-Michel einen Besuch abstatteten. Gegenwärtig und in Zukunft sieht das anders aus. Doch dazu später.
 
Mont Saint-Michel - das ist eine Felseninsel im Wattenmeer der Normandie mit einer Abtei obenauf. Die Anfänge der Abtei reichen rund 1000 Jahre zurück, der Bau des ersten Heiligtums datiert noch einmal 300 Jahre früher. Letzterer ist ein eindrucksvolles Beispiel dafür, was einem Sterblichen geschehen kann, wenn er sich einem Erzengel widersetzt. Bei dem Sterblichen handelte es sich um den Bischof Aubert von Avranches, und Michel bzw. Michael war der Erzengel, der den Bischof zum Bau einer Kirche auf der Insel aufforderte. Vergeblich zunächst, denn der Gottesmann stellte sich taub, obgleich er es als Mann des Glaubens eigentlich hätte besser wissen müssen. Nachdem der Engel seine Aufforderung mehrfach erfolglos wiederholt hatte, brannte er dem renitenten Bischof mit dem Finger ein Loch in den Schädel, worauf dieser sich endlich gehorsam zeigte und mit dem Bau eines "Sanktuariums" begann. (Lassen wir einmal dahingestellt, wie ihm das nach der geschilderten Attacke noch möglich war.) Mönche kamen und errichteten ein Kloster, Pilger erschienen, um den Erzengel zu verehren, man baute ein Gebäude nach dem anderen, und so entstand über die Jahrhunderte jene faszinierende Abtei, die wir - in der vor einhundert Jahren restaurierten Version - bei unserem Besuch sehen. "La Merveille" hat man das Bauwerk in schwindelerregender Höhe nicht zu Unrecht genannt - das Wunder.
 
 
An einem Vormittag im Juni 2004 machen wir uns von dem kleinen Ort auf dem Festland, wo wir auf einem von mehreren Campingplätzen unser Zelt aufgestellt haben, zur gegenüber liegenden Abteiinsel auf den Weg. Was für ein großartiges Panorama, als wir das Örtchen verlassen: vor uns in der Bucht der Mont Saint-Michel, davor der Straßendamm, der Festland und Mont miteinander verbindet, auf beiden Seiten sattgrüne Wiesen mit grasenden Schafen. Wir meiden den stark befahrenen Damm und laufen stattdessen über die Wiesen unserem Ziel entgegen. Immer größer wächst der Mont vor uns auf, bis wir schließlich an seinem Fuß stehen und gleich darauf durch das Eingangsportal treten. Ein Portal mit der Wirkung eines Trichters, der die heranflutenden Massen kanalisiert, sie alternativlos in die Grand Rue lenkt, die einzige, zur Abtei hinaufführende Gasse. Es ist derselbe Weg, über dessen Pflaster sich jahrhundertelang Heerscharen von Pilgern aus allen Teilen Europas dem heiligen Michael näherten, dessen Zweck heute allerdings vor allem darin zu bestehen scheint, den Besuchern die "Errungenschaften" des Massentourismus-Zeitalters vorzuführen: von Ansichtskarten und Reiseführern über Kunststoff-Ritter und -Pilger, den Erzengel in jeglicher Größe und aus jeglichem Material sowie tausend anderen Dingen, mit denen man die Lieben daheim beglücken oder gegebenenfalls auch quälen kann, bis hin zu warmen und kalten Erfrischungen aller Art. Darunter jenen vielgerühmten Omelettes, die offenbar eine Tradition auf dem Mont Saint-Michel sind und die zu erwähnen kein Reiseführer versäumt. Am besten sollen sie bei "La Mère Poulard" schmecken, so steht es in unserem geschrieben. Doch die Tageszeit, zu der wir sie probieren wollen, ist bedauerlicherweise den teuren Menüs vorbehalten. Die preislich günstigeren Eierspeisen gibt es bei "La Mère" erst später. Also kehren wir in einem anderen Restaurant ein, da wir neugierig sind, was es mit der vermeintlichen Köstlichkeit auf sich hat. Nachdem wir eines der XXL-Omelettes gemeinsam gegessen haben und kurz danach alle beide unter Magendrücken leiden, vermuten wir, dass das Geheimnis dieser traditionellen Speise wohl vor allem in der Zahl der verwendeten Eier liegt. Einer offenbar recht erheblichen Zahl.
Zurück zur Geschichte: Wie bei vielen anderen Kirchenbauten, so ging es nach der Reformation und den Umwälzungen der Neuzeit auch mit dem Mont Saint-Michel rasch bergab. Während der Französischen Revolution am Ende des 18. Jahrhunderts wurde die Abtei aufgelöst und - weil man sie für ausbruchsicher hielt - in ein Gefängnis speziell für politische Häftlinge umgewandelt. Mehr als 15.000 Gefangene saßen in der Folgezeit hinter den dicken Mauern ein - hungernd, frierend, von Ungeziefer geplagt und der Willkür ihrer Bewacher ausgesetzt. Eine Initiative unter dem Einfluss des großen französischen Schriftstellers Victor Hugo (Der Glöckner von Notre Dame; Les Misérables), die sich für die Wiederherstellung architektonischer Schätze von nationalem Rang einsetzte, leitete in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das Ende des Gefängnisses ein. 1863 wurde es geschlossen und der Mont Saint-Michel zum "Monument Historique" erklärt. Man errichtete einen Straßendamm, über den die Insel unabhängig von den Gezeiten zu erreichen war, und eine aufwändige Restaurierung der Anlage begann. Mitte der 1960er Jahre zogen nach beinahe zwei Jahrhunderten wieder einige Mönche in die Abtei ein.
 
Bei unserem Besuch bekommen wir keinen von ihnen zu sehen, ja, wir können nicht einmal ausmachen, in welchem der vielen Gebäude sie sich aufhalten. Die Abtei auf dem Mont Saint-Michel, so steht es in der Wikipedia, "war eines der umfangreichsten, schwierigsten und kostspieligsten Bauprojekte des gesamten Mittelalters". Entsprechend komplex ist die Anlage. Alles ist riesig, verwinkelt und tausendfach verschachtelt, so dass eine Orientierung selbst mit einem Plan in der Hand nicht eben leicht fällt. Über drei Stockwerke erstreckt sich die Bebauung. Ausgehend von dem ehemaligen Vorratskeller und dem Almosensaal über den Rittersaal und die Räumlichkeiten für die Unterbringung der Gäste erreicht man das Refektorium (den Speisesaal der Mönche) sowie den Kreuzgang und schließlich die mächtige Abteikirche mit der Statue des Erzengels auf der Spitze. Vom Kreuzgang aus reicht der Blick weit ins Land hinein, in die Normandie, aber auch in die Bretagne, die nur wenige Kilometer entfernt beginnt. Von hier oben aus erkennen wir auch gut das Problem, von dem wir gelesen haben: die fortschreitende Versandung der Bucht. Schuld daran ist vornehmlich der Straßendamm, der den Abtransport des Schlamms durch die Gezeiten behindert. Seit dem Jahr 2006 läuft ein groß angelegtes Projekt, diese Versandung zu stoppen und dem Mont Saint-Michel seinen Inselcharakter wiederzugeben. Dazu wird der bisherige Damm durch eine Stelzenbrücke ersetzt, die das freie Strömen des Wassers nicht länger behindert. Parkplätze wird es dann nur noch auf dem Festland geben, die Besucher werden mit Shuttlebussen ans Ziel gebracht, wahlweise auch mit Pferdewagen, und wer möchte, kann laufen. Die Fertigstellung dieses Projekts ist für die zweite Hälfte des Jahres 2014 geplant.
 
 
2004, im Jahr unseres Besuchs, sind diese Pläne noch Zukunft. Als wir spät am Abend den Mont verlassen, kehren wir wieder an den Schafen vorbei über die Wiesen zum Festland zurück. Zuvor haben wir den Abteiberg noch in beinahe intimer Atmosphäre genießen können, nachdem sich die Massen der von weither angereisten Tagesbesucher auf den Heimweg gemacht haben. Geradezu idyllisch mutet es an, wenn von den 10.000 nur noch ein paar hundert übrig geblieben sind. Dann gelingt es sogar, der Fantasie freien Lauf zu lassen: ein Mont ohne Läden und aufgedrehte Besucher, stattdessen Pilger, die in einer langen Prozession betend und singend bergan schreiten, manche sogar auf den Knien rutschend, Kranke, die um Heilung flehen, andere um die Vergebung ihrer Sünden, oben dann die Mönche und Priester, die die Frommen erwarten, dazu die Glocken, deren Klang weit ins Land reicht und der davon kündet, dass an diesem Ort der einzig wahre Glaube eine feste Heimstatt hat. Mit den Worten "Monsieur, Madame, probieren sie unser fantastisches Omelette!" vertritt uns ein Aufreißer vor einem Restaurant den Weg, und schon ist der Zauber verflogen. Nein danke, hätten wir ihm antworten können, uns liegt noch das erste Omelette schwer im Magen. Aber das tun wir nicht, und es hätte ihn auch gar nicht interessiert, denn schon hat er sich einer Gruppe japanischer Touristen zugewandt. Dieselbe Aufforderung, alles Routine, bald zum letzten Mal an diesem Tag, doch morgen wird es weiter gehen und übermorgen ebenfalls und an jedem neuen Tag. Dreieinhalb Millionen Besucher pro Jahr, mit der Folge, dass es eng ist, unangenehm laut und das Schieben und Drängen nur schwer erträglich. Aber darauf verzichten, dieses einzigartige Bauwerk zu sehen - eine der größten Sehenswürdigkeiten Frankreichs, ein Hotspot der europäischen Geschichte, Weltkulturerbe der UNESCO? Natürlich nicht. Also hinfahren, die Zähne zusammenbeißen und durch!
 
Manfred Lentz
 

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