Pumpernickel am Okavango
Unterwegs im Norden Namibias. 2012
 
Wir sind Luft für sie. Sie schauen nicht nur nicht durch uns hindurch, sie schauen nicht einmal in die Richtung, in der wir sitzen, nur drei Meter von ihnen entfernt. Den Hund, der sich ebenfalls in dem Raum befindet, beachten sie. Uns nicht. Sie - das sind zehn etwa dreißig Jahre alte Chinesen, die um einen Tisch herum sitzen und essen. Nichts von der Speisekarte des "Meteor Travel Inn", keine Pizza wie wir, super belegt und perfekt zubereitet, wie man das an diesem Ort nicht unbedingt erwarten würde. Vor ihnen steht Selbstzubereitetes in unförmigen metallenen Behältern, das sie nach chinesischer Sitte mit Stäbchen essen, dabei ungehemmt schmatzend, vor allem aber ungeheuer schnell. Kaum haben sie angefangen, sind sie auch schon fertig. Sie springen vom Tisch auf, der Gedanken an ein Schlachtfeld hervorruft, und verschwinden. Kein Blick, kein Gruß, einfach gar nichts. Als sie unsere Pizzateller abräumt, sprechen wir die Bedienung auf dieses Verhalten an, eine junge Schwarze. Ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen, äußert sie sich abfällig über ihre Gäste. Mehrmals im Jahr seien Chinesen in diesem Hotel, sagt sie, meist für ein paar Wochen, manchmal sogar für Monate. Sie trainierten das Militär auf dem nahegelegenen Flugplatz, wofür sie viel Geld erhielten, weit mehr, als Einheimische hier verdienten. Sie übernachteten in diesem Hotel, äßen so, wie wir es gerade gesehen hätten, und was ihre Kommunikationsbereitschaft anbelange, so sei die gleich Null. "Chinese in Africa no good", sagt sie, fügt aber gleich darauf achselzuckend hinzu: Wenn die Regierung die Rechnung bezahle und das Hotel daran verdiene, dann solle es ihr recht sein.
 
Grootfontein ist der Name des Städtchens im Norden Namibias, in dem wir - von der Hauptstadt Windhoek her kommend - gegen Abend eingetroffen sind. "Große Quelle" heißt das in Afrikaans; die Angehörigen des Stammes der Herero haben ihm den Namen "Hügelrand des Leoparden" gegeben. Rund 16.000 Einwohner zählt der Ort, und abgesehen von einem Meteoriten in der Nähe ist er für Touristen nur als Durchgangsort für die Fahrt in den äußersten Norden des Landes interessant. Weshalb uns der Abschied am nächsten Morgen auch nicht schwer fällt. Rund 250 Kilometer Asphaltstraße liegen an diesem Tag vor uns. Eigentlich keine weite Strecke, aber was bedeutet das schon, wenn man jederzeit mit Schlaglöchern rechnen muss und mit Menschen und Tieren auf der Fahrbahn, wann immer es denen gefällt. Was für uns allerdings nicht allzu gefährlich ist, denn der Verkehr auf dieser Straße ist dünn, ebenso wie auf allen anderen dieses Landes, das flächenmäßig mehr als doppelt so groß ist wie Deutschland, dabei aber eine Bevölkerung von gerade einmal zwei Millionen Menschen besitzt.
 
 
Ein paar Kreuzungen, ein paar Kurven, dann haben wir Grootfontein hinter uns gelassen, und die Straße führt von nun an im Wesentlichen nur noch geradeaus. Abgesehen von den erwähnten Schlaglöchern und den Menschen und Tieren auf der Fahrbahn, ist sie geradezu eine ideale Trainingsstrecke, um sich mit dem Autofahren in diesem Land mit Linksverkehr vertraut zu machen. Wir wechseln uns mit dem Fahren ab. Karin - bisher stets auf dem Beifahrersitz - rückt hinter das Lenkrad und gerät zunächst einmal genau so ins Schwitzen wie ich einige Tage zuvor. Rechts sitzen und mit der linken Hand schalten ist absolut ungewohnt, alles erscheint irgendwie falsch. Nur nicht zu weit nach links ausweichen, wenn ein entgegen kommendes Auto mit knappem Abstand auf der rechten Seite an uns vorbei fährt! Eines der wenigen Autos, die uns überhaupt begegnen, muss ich hinzufügen, denn oft vergehen Minuten, bevor das nächste erscheint. Dann nach halber Strecke ein Checkpoint, völlig unerwartet, offenbar haben wir in unserem Reiseführer die Ankündigung überlesen. Polizisten halten uns an, Ausweiskontrolle und Fragen, ein Blick in unser Fahrzeug, schließlich eine lässige Handbewegung und wir dürfen unsere Fahrt fortsetzen. Wir haben soeben die "Veterinärgrenze" zwischen dem Norden Namibias und den südlichen Landesteilen passiert, die mit der Rinderzucht zu tun hat. Diese ist sowohl ein Haupterwerbszweig für die Stämme im Norden als auch ein wichtiger Wirtschaftsfaktor für die weißen Farmer im Süden, weshalb es äußerst gefährlich wäre, würde eine Viehseuche sich unkontrolliert im Land ausbreiten. Ein altes Thema in Namibia - bereits nach dem Ausbruch einer Rinderpest am Ende des 19. Jahrhunderts wurde der Bau eines Schutzzauns in Erwägung gezogen, von den Deutschen, die damals noch die Herren von "Deutsch Südwest-Afrika" waren. Errichtet wurde er seinerzeit jedoch nicht, erst Mitte des 20. Jahrhunderts hat man dieses Projekt realisiert. Heute gibt es die Veterinärgrenze noch immer, allerdings nur auf der Straße. Im Hinterland ist von dem Zaun nicht mehr viel übrig geblieben. Eine überflüssige Grenze also? Mag sein. Aber auf jeden Fall ist es eine, die der Reisende spürt. Und das nicht nur wegen des Checkpoints, sondern mehr noch aus einem ganz anderen Grund.
Denkt man an Afrika, so sind es wohl weniger die Großstädte mit ihren modernen Bauten, die einem als erstes in den Sinn kommen, als vielmehr jenes Afrika, das man noch aus den Schulbüchern kennt. Hier nun begegnen wir ihm. Kaum haben wir den Kontrollpunkt hinter uns gelassen, sind mit einem Schlag sämtliche Steinhaussiedlungen verschwunden, und wir sind in das Land der Kraals eingetaucht. Zwischen dornigem Gestrüpp, Akazien und Palmen prägen aus Holz und Lehm errichtete und mit Stroh gedeckte Hütten das Bild, meist weniger als ein Dutzend an einem Ort, von einem Zaun in Gestalt armdicker Äste umgeben, die man in kurzen Abständen in die Erde gesteckt hat. Ein Zaun, der uns irgendwie durchlässig erscheint, der aber offenbar ausreicht, die wilden Tiere von den Rindern und Ziegen fernzuhalten, die nachts in den Kraal getrieben werden. Tagsüber, also auch während unserer Fahrt, sehen wir sie zu beiden Seiten der Straße, allein oder mit Hirten, wie sie an dem trockenen Gras knabbern oder die dürren Blätter von den Sträuchern abrupfen - eine Futtersituation, die jeder deutschen Kuh die Tränen in die Augen treiben würde. Einige Male kommen wir an einer Schule vorbei, auch an Läden, die sich Supermärkte nennen, bei denen aber das Einzige, was an einen Supermarkt erinnert, ihre Bezeichnung ist. Entsprechend der dünnen Besiedlung ist die Zahl der Menschen, die wir sehen, begrenzt. Hier und da blicken einige von ihrer Arbeit auf, als wir an ihnen vorbeirollen. Sie winken aber nicht, wie wir das in vergleichbaren Gegenden oft erlebt haben, sondern schauen nur ausdruckslos zu uns herüber. Machen sich danach vermutlich gleich wieder an die Arbeit, um Minuten später abermals den Blick zu heben, wenn das nächste Auto auf dieser schnurgeraden endlosen Straße ihre Hüttenwelt passiert. Eine einsame und eintönige Welt, heiß, staubig und trocken. Interessant für uns aus der Perspektive unseres schicken klimatisierten Autos - aber wie hart und entbehrungsreich muss das Leben dieser Menschen sein, und wie unendlich weit ist es entfernt von jenem Easy Living, das unseren eigenen Alltag ausmacht.
 
250 Kilometer ohne eine größere Siedlung und - in Namibia nicht unüblich - auch ohne eine Tankstelle. Wer sich hier auf die Straße begibt, muss vorausschauend Zapfsäulen anfahren, ansonsten hat er in diesem Land schlechte Karten. Doch nach unseren Tagen im Süden des Landes haben wir diese Lektion längst begriffen, und so ist der Tank noch gut gefüllt, als wir mit Rundu unser Tagesziel erreichen. Rundu ist die Hauptstadt und das wirtschaftliche Zentrum einer Region an der angolanischen Grenze, liegt am Okavango-Fluss und hat gut 60.000 Einwohner, womit die Stadt nach Windhoek die zweitgrößte Namibias ist. Ein Ort, der Touristen anzieht. Nicht wegen seiner Attraktivität, denn die ist begrenzt, wohl aber wegen seiner Funktion als Durchgangsort in den Caprivi-Zipfel - eine schmale, nach dem deutschen Reichskanzler (1890-1894) Georg Leo von Caprivi de Caprera de Montecuccoli (seinem Namen zum Trotz ein waschechter Berliner) benannte rund 400 Kilometer lange zipfelförmige Ausbuchtung im Nordosten Namibias. Attraktiv vor allem wegen der Victoria-Wasserfälle an ihrem Ende, dort, wo mit Namibia, Sambia, Simbabwe und Botswana gleich vier Länder aufeinander stoßen. Das einzige Vierländereck der Erde. Rundu ist der ideale Ort, um sich für diese Tour noch einmal mit Vorräten einzudecken, was auf der Weiterfahrt zunehmend schwieriger wird. Und wo ginge das besser als im Supermarkt SPAR? Jawohl, es handelt sich um dieselbe Handelskette, die wir aus Deutschland kennen, und sieht man einmal von einigen afrikanischen Eigenheiten ab, so sieht dieser Supermarkt im Prinzip auch nicht viel anders aus als bei uns. Vielfach gibt es sogar die gleichen Produkte, von denen überdies etliche aus Deutschland stammen, Müsli und Käse etwa und verschiedene Brotsorten wie Pumpernickel aus Niedersachsen. Pumpernickel am Okavango! Es ist wahrlich schon sehr speziell, dieses afrikanische Namibia!
 
 
Sightseeing in der Stadt, allerdings fällt dieser Programmpunkt kurz aus, denn es ist heiß. "Brüllend heiß", schreiben wir in unser Tagebuch, man könnte mühelos SPAR-Eier auf unserem Autoblech braten. Da ist der Swimming Pool in der Tambuti Lodge schon ein weit angenehmerer Ort - klares, relativ kühles Wasser in einer Anlage, die uns fast wie ein kleiner Botanischer Garten erscheint. Genau das Richtige an diesem Tag. Wie auch das leckere Essen und das kalte Bier am Abend in reizvoller Umgebung und mit einem weiten Blick über den Okavango, der an dieser Stelle die Grenze zu Angola bildet. Savoir vivre in Rundu, im Norden Namibias! Plötzlich jedoch, als gerade alles so rund ist, der Knall und mit ihm die Erinnerung, dass wir allen Annehmlichkeiten zum Trotz eben doch in einer anderen Welt sind: Schlagartig bleibt der Strom weg, und Dunkelheit senkt sich über Rundu. Nichts geht mehr, nur dort, wo man mit einem Generator vorgesorgt hat, gibt es noch Licht. Auch Bares gibt es nicht mehr, wie wir am nächsten Morgen am Geldautomaten feststellen müssen. Aber wenigstens Benzin ist noch da, Shell sei Dank, der großen Tankstelle am Ort, die sich ebenfalls einen Generator für Fälle wie diesen zugelegt hat. Nach und nach erfahren wir Einzelheiten des Geschehens - dass bei einem Flächenbrand mehrere Strommasten zerstört wurden, die nun erst aufwändig repariert werden müssen, bevor der Strom wieder fließen kann. Ein Blackout, und das unter Umständen für mehrere Tage. Eine zutreffende Einschätzung, wie sich herausstellt. Kein Strom, kein Licht ohne Generator oder Kerzen, und was mir in den nächsten Tagen zugegebenermaßen ein wenig aufs Gemüt drückt: kein Internet. Eine Situation, die uns einmal mehr bewusst macht, wie angenehm es sich doch daheim in Deutschland lebt.
 
Manfred Lentz

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