TEU und FEU
Ohne Container würde die Globalisierung nicht funktionieren. 2014
 
Es hört sich an wie das Knurren großer Tiere, ein Geräusch, das bedrohlich klingt, und deshalb heben wir spontan die Köpfe. Gleich darauf ertönt das Knurren ein zweites Mal, nun auch in unserem Rücken, eine ganze Herde könnte es sein. Tiere, die nur darauf warten, mit Zähnen und Klauen über uns herzufallen. Aber natürlich ist das alles nur Einbildung. Natürlich müssen wir uns nicht fürchten, jedenfalls nicht vor einer Attacke. Allenfalls, dass sie uns auf den Kopf fallen und uns unter sich begraben, doch selbst das liegt jenseits aller Wahrscheinlichkeit. Sie - das sind die Container über uns, diese riesigen stählernen Kästen, jeder einzelne von ihnen tonnenschwer auch schon ohne Beladung. Warum sie uns nur im vorderen Teil des Schiffs "anknurren", weiß ich nicht, aber zweifellos gibt es eine physikalische Erklärung dafür. Auf jeden Fall empfinden wir es am Anfang unserer Reise fast als ein wenig unheimlich, unter ihnen entlang zu gehen.
 
Wir sind an Bord der "Cap San Lorenzo", einem Containerschiff von 333 Metern Länge und 48 Metern Breite, einem der größeren Schiffe dieses Typs weltweit. Knapp 10.000 Container finden auf ihm Platz, in der Fachsprache: knapp 10.000 TEU, das heißt Twenty-foot Equivalent Units, zu Deutsch: Standardcontainer mit einer Länge von zwanzig Fuß, was etwa sechs Metern entspricht. Andere dieser großen Kästen gehören in die Kategorie FEU, wobei das F für forty steht, also für vierzig, d.h. es handelt sich um Container von rund 12 Metern Länge. Um sie übereinander stapeln zu können, ist die Breite bei allen gleich, sie beträgt exakt 2,438 Meter. Die Höhe variiert leicht und liegt bei etwa 2,6 Metern. FEUs sind zahlreicher als TEUs und in der Öffentlichkeit daher auch stärker präsent. Wir kennen sie von der Bahn, vor allem aber von den LKW, die jeweils eines dieser Ungetüme über unsere Straßen transportieren. Einen weltweiten Spitzenplatz nimmt die "Cap San Lorenzo" mit 2.100 TEU bei den Kühlcontainern ein. Kühlcontainer - das sagt ihr Name - sind für Waren bestimmt, die während des Transports gekühlt werden müssen. Keine einfache Angelegenheit, muss die Einhaltung der jeweils vorgegebenen Temperatur doch permanent überwacht werden, um womöglich äußerst kostspielige Schäden zu vermeiden. Man stelle sich nur einen Container voll argentinischem Rindfleisch für unsere Steakhäuser vor, bei dem die Kühlung ausfällt ...
 
 
In unserer Kabine steht ein Schreibtisch vor einem der Fenster, und wenn ich dort sitze und hinaus schaue, fällt mein Blick auf einen Teil der Ladung. Etwa 6.000 Container sind es auf dieser Fahrt, die von Hamburg über Antwerpen und Le Havre nach Südamerika geht. Ein buntes Bild, denn je nach Zugehörigkeit zu einer Reederei haben die Container unterschiedliche Farben. Irgendwie lässt das Bild an die bunten Bausteine eines Kindes denken, dass sie fein säuberlich in eine Reihe gelegt hat, eine geradezu fröhliche Ansicht, die selbst ein grauer Himmel nicht zu trüben vermag. Unser Schiff ist im Auftrag der Reederei Hamburg Süd unterwegs, deren Container teils rot und teils weiß sind. Schmutzig-weiß, sollte ich besser schreiben, denn natürlich hinterlassen das ständig wiederholte Be- und Entladen, das Laden und Löschen in den Häfen sowie der Transport ihre Spuren. Achtzehn Container finden nebeneinander Platz, in der Senkrechten sind es neun in den Luken - den mit Stahlplatten abgedeckten Laderäumen - und noch einmal neun darüber. Ein Gebirge aus Stahl, das beinahe das ganze Schiff einnimmt und im Wesentlichen nur an den Rändern Gänge frei lässt, durch die sich die Mannschaft bewegen kann. Gänge, bei denen sich im Vorderschiff auch die erwähnten "knurrenden" Container befinden.
Im Jahr 1966 habe ich meine erste Schiffsreise gemacht, als Decksjunge auf einem Frachter mit demselben Namen und auf derselben Strecke wie diesmal. Damals war das Laden und Löschen eine aufwändige Sache. Sämtliche Fracht wurde von Hafenarbeitern in Netze geladen, mittels eines Krans zum Schiff hinüber geschwenkt und in die Luken hinabgelassen, wo sie verstaut wurde. Ein zeitintensives Verfahren, das jahrhundertelang gut funktionierte, das den Anforderungen der Globalisierung mit dem massenhaften Transport von Gütern um die ganze Erde herum aber nicht mehr gerecht werden konnte. Einen geradezu genialen Ausweg aus diesem Problem bot der Container - ein Ladekonzept, das bereits in den 1950er Jahren von einem US-Amerikaner entwickelt worden war, das aber erst gut zehn Jahre später auf breiter Front zum Einsatz kam. Die Vorteile dieses Konzepts liegen auf der Hand: Einmal vom Versender in einem Behältnis verstaut, kann die Ware bis zum Empfänger transportiert werden, ohne dass sie auch nur ein einziges Mal umgepackt werden muss. Kein Wunder also, dass dieses Verfahren angesichts des explosionsartig wachsenden Welthandels zu einem Riesenerfolg wurde. Rund zwei Drittel des grenzüberschreitenden internationalen Warenverkehrs werden heute mit Containern auf speziell dafür konstruierten Schiffen abgewickelt, insgesamt sind es mehr als 15 Millionen Stück, die auf einer endlosen Reise um den Globus sind. Mit dem Anwachsen der Zahl der zu transportierenden Container wuchs zugleich die Ladekapazität der Schiffe, die heute in der Spitze bei etwa 18.000 TEU liegt, womit sie ihren Endpunkt mit Sicherheit allerdings noch nicht erreicht hat. Immer mehr Waren auf immer gigantischeren Schiffen - eine Entwicklung, die die Frachtraten senkt und damit letztlich auch die Preise der Waren für die Verbraucher. (Die Preise für den Transport eines Containers hängen von mehreren Faktoren ab, dürften aber gegenwärtig bei etwa 1.500-2.000 Dollar für einen 40-Fuß-Container von Hamburg nach Santos liegen.)

                                  

                                  Eigene Videos

 

Löschen und Laden im Hafen von Antwerpen (1)

Löschen und Laden im Hafen von Antwerpen (2)

Auf dem Atlantik

Löschen und Laden im Hafen von Santos

 

Und was ist drin in den Containern? Wir lassen unsere Blicke über einige von ihnen wandern, doch bei keinem finden wir auch nur den geringsten Hinweis auf dessen Inhalt. Lediglich Kombinationen von Buchstaben und mehrstelligen Zahlen können wir entdecken. Wie wir von der Mannschaft erfahren, handelt es sich um Codes, die den Eigentümern der Container eine Kontrolle darüber ermöglichen, wo auf der Welt sich ihre Behälter gerade befinden, und die dem Ladungsoffizier eines Schiffes - der über die Ladepapiere verfügt - verraten, was in ihnen enthalten ist. Ein Wissen, das unter Umständen lebenswichtig für das Schiff und die  Crew ist, denn sollte in einem Container unterwegs ein Feuer ausbrechen - womöglich in einem mit Chemikalien gefüllten -, so wären die Männer bei seiner Bekämpfung auf sich allein gestellt, und dazu müssten sie wissen, was brennt. Die Liste der möglichen geladenen Güter ist nahezu endlos und umfasst alles, was sich in einem Container nur irgendwie transportieren lässt. Bei den deutschen Lieferungen nach Südamerika sind das vor allem Maschinen und Autoteile, chemische Grundstoffe und Metallwaren, aber fallweise auch solche Produkte wie Fernsehgeräte, Bier und Wein oder Möbel. Südamerika revanchiert sich vornehmlich mit Fleisch, Soja, Kaffee und Obst, vor allem mit jener Sorte, die einst den alten "Bananendampfern" ihren Namen gegeben hat. Alles, was die Bevölkerung im Zielland verlangt, wird in diese großen Kästen gepackt und anschließend Tausende von Kilometern über das Meer gefahren. Naturgemäß variiert der Wert eines Containers mit seiner Ladung, wobei ein finanzielles Volumen von mehr als einer Million Dollar nicht ungewöhnlich ist. Voll beladen kann ein großes Schiff so leicht auf eine halbe Milliarde kommen, der Wert des Schiffes selbst inbegriffen. Eine ungeheure Summe, die deutlich macht, welch enorme Verantwortung auf den Schultern des Kapitäns liegt. Und auf denen des Ladungsoffiziers, der für das korrekte Verstauen der Container zuständig ist, auf dass sich bei einem Sturm nicht etwa Teile der Ladung selbständig machen. Ganz verhindern lässt sich das offenbar nicht, denn alljährlich gehen etwa 2.000 bis 10.000 Container über Bord. Einer von ihnen war jener Container, der im Jahr 1992 in den Pazifik stürzte und aus dem heraus sich in der Folgezeit ein paar Zehntausend gelbe Badeentchen auf eine Reise um die Welt machten. Teuer für die Reederei bzw. deren Versicherung, für die Erforscher von Meeresströmungen allerdings ein wahrer Glücksfall, bescherte ihnen dieses Unglück doch eine Menge neuer Erkenntnisse ...
 
 
In den Tagen, in denen wir die "Cap San Lorenzo" auf ihrer Fahrt begleiten, verläuft indes alles nach Plan. Was nicht zuletzt daran liegt, dass Neptun es gut mit uns meint und die See ruhig bleibt. 18 Tage nach unserer Abreise aus Hamburg laufen wir im brasilianischen Santos ein, und kaum haben wir am Kai festgemacht, als auch schon die Containerbrücken ihre Arbeit aufnehmen und das Löschen und Laden beginnt. Nun muss alles schnell gehen, denn überall warten Importeure auf die bestellten Waren, stehen Züge und LKW zum Abtransport bereit. Zeit ist Geld - ein Spruch, der auf die riesigen Schiffe nur allzu gut anwendbar ist, bei denen jede Verzögerung im Hafen leicht ein kleines Vermögen kosten kann. Auch die Kunden in den Geschäften warten. Viele Waren aus dem fernen Europa haben längst einen festen Platz auf ihren Einkaufslisten gefunden. So etwa das Bier, das wir ein paar Tage später in einem Supermarkt in Rio entdecken, "Paulaner"-Weißbier aus Deutschland, das dort so selbstverständlich angeboten wird wie bei uns brasilianischer Kaffee oder argentinische Steaks. Und wer weiß - vielleicht war es ja gerade unser Schiff, das das bayerische Weißbier an den Zuckerhut gebracht hat.
                                                                                               
Manfred Lentz
 

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