Shwedagon
Für viele ist sie die schönste Pagode der Welt.
Burma 1985
 
Burma im Jahr 1985 ist purer Stress. Über viele Jahre hinweg durfte man das Land überhaupt nicht besuchen, erst seit den 1980ern geht es, aber die Regierung hat die Zeit limitiert. "Period of stay restricted to seven days only", steht in unserem Visum, also sieben Tage und nicht einen einzigen mehr. Sieben Tage sind eine verdammt kurze Zeit für ein Land von der doppelten Größe Deutschlands, mit landschaftlichen Highlights ohne Ende und einer faszinierenden Kultur, die auch nur einigermaßen kennenzulernen selbst Monate nicht ausreichen würden. Burma im Schnelldurchlauf also, herumhetzen, wenig schlafen und abhaken as much as possible. Purer Stress eben. Aber wenigstens ein flüchtiger Blick hinter die Kulissen.
 
 
Am Vorabend sind wir nach einer langen Bahnfahrt aus dem Norden des Landes in die Hauptstadt Rangun zurück gekehrt, müde, aber begeistert von dem, was wir gesehen und erlebt haben. Nur noch wenige Stunden verbleiben uns bis zu unserem amtlich verordneten Rausschmiss, gegen 15 Uhr wird unser Flugzeug nach Bangkok starten. Doch ein paar Stunden haben wir noch, und für die haben wir uns die Besichtigung einer Sehenswürdigkeit aufgespart, ohne die besucht zu haben man das Land unmöglich verlassen kann. Damals nicht und heute erst recht nicht, im Jahr 2015, in dem ich diese Zeilen schreibe, wo die maximale Aufenthaltszeit vier Wochen beträgt. Die Sehenswürdigkeit, die ich meine, ist eine der berühmtesten Pagoden der Welt: Shwedagon.
 
"Und dann erhob sich ein goldenes Wunder am Horizont, ein leuchtendes, glänzendes Wunder, das in der Sonne erstrahlte. Es hatte weder die Halbkugelform moslemischer noch die Turmform hinduistischer Tempelbauten. Es stand auf einem grünen Hügel." Mit diesen Worten beschreibt der britische Schriftsteller Rudyard Kipling - Verfasser des unsterblichen "Dschungelbuchs" - seine Annäherung an die Shwedagon, der er Ende des 19. Jahrhunderts einen Besuch abstattete. Auf einem Hügel steht die Pagode noch immer, und auch von ihrem Glanz hat sie nichts eingebüßt. Allerdings ist die Stadt, die zu Kiplings Zeiten gerade einmal 200.000 Einwohner zählte, zur Zeit unseres Besuchs auf stattliche drei Millionen angewachsen (im Jahr 2015 sind es sogar viereinhalb Millionen). Ein dichtes Häusermeer, dem neben den traditionellen burmesischen Gebäuden zahlreiche Bauten aus der britischen Kolonialzeit das Gepräge geben. Ob wir den Namen unseres Ziels korrekt ausgesprochen haben, weiß ich nicht, aber vermutlich ist jedem Tuk-Tuk-Fahrer in Rangun ohnehin klar, wohin es die Touristen zieht. Mit einer virtuosen Kombination von Gas geben, bremsen und hupen schlängelt sich unser Fahrer mit seinem Gefährt durch den dichten Ranguner Verkehr, bis das "leuchtende, glänzende Wunder" vor uns auftaucht. Nicht ganz so leuchtend wie bei Kipling wegen der Monsunwolken am Himmel, aber dennoch entfährt uns noch im selben Moment ein begeistertes "Donnerwetter!". Waren wir von den Fotos dieses Bauwerks schon vorher schwer beeindruckt, so sieht es live noch viel besser aus.
Und es ist weit größer, als wir es erwartet hatten. Ganze fünf Hektar umfasst der Komplex, und was in den Reiseführern üblicherweise verkürzt als "die goldene Pagode" dargestellt wird, entpuppt sich nun als ein ausgedehntes Ensemble aus zahlreichen Bauten. Eine kaum überschaubare Fülle von kleinen und großen Tempeln und von Chedis (Stupas) aller Art beherrscht die Anlage, dazu Dutzende oder gar Hunderte von stehenden, sitzenden und liegenden Buddhas. Für einen Augenblick kommt mir der Begriff Disneyland in den Sinn, aber natürlich ist diese Anlage alles andere als das. In ihren Ursprüngen geht sie angeblich auf die Zeit des historischen Buddha zurück, ist also rund 2.500 Jahre alt, doch das ist Legende. Zwei Brüder, so heißt es, hätten seinerzeit mehrere Haare Buddhas besessen, und um diese würdig aufzubewahren, hätten sie mit Hilfe des damaligen Königs eine zehn Meter hohe Pagode errichtet, in der sie die Haare in einer goldenen Schatulle aufbewahren wollten. Halbwegs glaubwürdige Berichte über die Entstehung des Heiligtums gibt es erst aus dem 14. Jahrhundert, als ein König die inzwischen verfallene Pagode neu errichtete und auf 18 Meter vergrößerte. Ihre heutige Höhe von 98 Metern erreichte die Shwedagon erst vor etwa 250 Jahren. Seinerzeit leistete auch die Gemahlin des damaligen Königs einen wichtigen Beitrag, indem sie ihr Körpergewicht in Gold für die Verkleidung der Pagode zur Verfügung stellte. Hoffentlich eine dicke Königin, drängt sich mir der Gedanke auf. Doch egal - heute erstrahlt die Pagode jedenfalls in ihrer gesamten Fülle in reinem Gold, und wenn der Himmel nicht gerade voller Wolken hängt, dann leuchtet sie wie ein Juwel in der Sonne. Doch ist das Gold (60 Tonnen sollen es sein) nur ein Teil des Schmucks - eingearbeitet in den oberen Teil des Bauwerks gibt es darüber hinaus eine gewaltige Zahl von Rubinen, Saphiren und Diamanten, allein von letzteren sollen es mehr als 5.000 sein. Die Krönung bildet ein einzelner Diamant von 76 Karat. Obwohl wir auf unseren Reisen schon viel Prunk und Reichtum kennen gelernt haben, sind wir dennoch überwältigt von dem, was wir hier sehen. Wie müssen sich da erst die früheren Bewohner des Landes gefühlt haben, wenn sie aus der Schlichtheit ihrer dörflichen Behausungen kommend diesen heiligen Bezirk mit seinem schier unfassbaren Reichtum betraten!
 
Obwohl uns die Zeit bis um Abflug davon läuft, lassen wir uns auf den Stufen eines Tempels nieder und versuchen, das Geschehen ringsum in uns aufzunehmen. Nachdem sich das Burma (Myanmar) des Jahres 2015 dem internationalen Tourismus relativ weit geöffnet hat, dürften es zu einem ganz erheblichen Teil Besucher aus dem Ausland sein, die die Anlage bevölkern. Zur Zeit unseres Besuches vor dreißig Jahren sind es vor allem Einheimische. Gläubige in der Absicht, Buddha zu opfern, ihm zu danken, ihn anzubeten. Schweigend, oft auch leise vor sich hin murmelnd, sitzen sie vor Tempeln und Statuen, entzünden Räucherstäbchen oder schmücken die heiligen Figuren mit Blumengirlanden. Doch nicht alle sind in andächtiger Kontemplation versunken. So wie unsere Kirchen einst Orte aktiver Begegnungen waren, so hat auch in diesem Heiligtum das Alltägliche seinen Platz. Viele Menschen reden miteinander, lesen Bücher, schlafen oder schauen den Kindern zu, die sich unbeschwert - aber nicht ohne den diesem Ort angemessenen Anstand - so verhalten, wie es nun einmal das Vorrecht der Kinder ist. Es ist das Bild einer Religion, die das Leben ihrer Anhänger in all seinen Erscheinungen tief durchdringt und das von den erstarrten Ritualen moderner Industriegesellschaften noch weit, weit entfernt ist.
 
 
Ein Ableger des originalen Banyan-Baumes, unter dem Buddha einst die Erleuchtung erlangte und unter dem nun meditierende Gläubige sitzen; naturgetreue Nachbildungen von Tieren, die in der burmesischen Weltsicht eine wichtige Rolle für das Schicksal des Einzelnen spielen ... Was gäbe es nicht alles in Muße zu betrachten, hätte uns die Regierung nur nicht die Sieben-Tage-Daumenschrauben angelegt! Auch Gespräche gäbe es, die wir gern führen würden - englische Sprachkenntnisse unserer Gegenüber vorausgesetzt -, etwa mit der Familie, die sich dicht neben uns auf den Stufen des Tempels niederlässt. Verstohlen schauen sie uns an, doch wenden wir uns ihnen zu, so lenken sie ihre Blicke schnell in eine andere Richtung. Es ist die Angst von Menschen, die gerne Kontakt hätten, ihn aber nicht haben dürfen, weil ihre Regierung die "Ansteckung" ihrer Untertanen mit unerwünschtem Gedankengut fürchtet. Bevor wir uns erheben, lächeln wir ihnen zu, doch nur einer von ihnen lächelt zurück. Beinahe ein Akt des Widerstands in dieser verordnet fremdenfeindlichen Welt.
 
Zum Schluss noch die beiden berühmten Glocken: die 42 Tonnen schwere Maha Tissada Gandha sowie die leichtere, "nur" 23 Tonnen wiegende Maha Gandha, der unser Reiseführer einen ganzen Absatz gewidmet hat. Während ihrer Herrschaft über das Land, so steht dort geschrieben, versuchten die Briten, die Glocke nach England zu bringen, doch ihr Boot kenterte und das kostbare Stück versank im Wasser. Alle Bergungsversuche blieben vergebens. Erst als die Briten den Burmesen versprachen, die Glocke im Land zu lassen, machten diese sich an ihre Hebung, was mit Hilfe untergeschobener Bambusrohre schließlich gelang. Ein Erfolg, der einer "Schwester" bis in die Gegenwart versagt blieb: einer angeblich 300 Tonnen schweren Glocke, die einst ebenfalls in den Fluten versank. Gäbe es sie tatsächlich, wäre sie also nicht nur ein Produkt der Fantasie, so wäre sie mit Abstand die schwerste Glocke der Welt.
 
An einer langen Reihe von Händlern vorbei bewegen wir uns auf den Ausgang zu. Händler, die Bücher und Glücksbringer verkaufen, Buddhastatuen und -bilder, Kerzen, Gebetsfahnen, Lotusblüten und Räucherstäbchen sowie allerlei andere Opfergaben. Nicht zuletzt jene hauchdünnen Blättchen aus Gold, die die Gläubigen ausgewählten Statuen ankleben. Auch wir erstehen ein solches Blättchen, allerdings nicht um es seinem eigentlichen Zweck zuzuführen, sondern in der banalen Absicht, es unserem Tagebuch einzuverleiben. Ein Stück Gold als Erinnerung an die Goldene Pagode. An Shwedagon.
 
Manfred Lentz

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