Mal nicht in die Ferne
 geschweift ...
 Vier Tage in Dresden. 2012 (Teil 2)
 
Zwinger und Gemäldegalerie Alte Meister, Semperoper und Fürstenzug ... Wenn man Dresden sagt, ist es aber vermutlich vor allem die Frauenkirche, die den meisten Zeitgenossen als erstes einfällt. Kein Wunder, schließlich handelt es sich dabei nicht nur um eine herausragende Sehenswürdigkeit der Stadt, sondern auch um eine mit einer ganz besonderen Geschichte. Mir fällt der Spruch von den Müttern ein, die angeblich gerade diejenigen Kinder am meisten lieben, die sie unter den größten Schmerzen auf die Welt gebracht haben. Die der heiligen Maria geweihte Frauenkirche ist solch ein Kind. Nicht als sie gebaut wurde, in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Wohl aber bei ihrer zweiten Geburt, die noch nicht lange her ist, und an die sich die meisten von uns gewiss noch erinnern.
 
 
Ist man auf einer Besichtigungstour in Dresden unterwegs, so stößt man immer wieder auf ein Datum, dass für die Stadt einer Stunde Null gleichkommt. Der Krieg war fast beendet, Deutschland lag längst am Boden, als in den Nächten vom 13. bis 15. Februar 1945 große Teile Dresdens britischen und US-amerikanischen Luftangriffen zum Opfer fielen. Was in den Augen der einen Seite eine militärisch gebotene Operation war, stellte sich für die anderen als barbarischer Bombenterror gegen eine Zivilbevölkerung dar. Nicht strittig war und ist allerdings das Ergebnis dieser Aktion, das der in Dresden geborene Erich Kästner in die Worte fasste: "Was übrigblieb, war eine Wüste. Mit ein paar riesigen Trümmern, die aussahen wie gekenterte Ozeandampfer." Auch die Frauenkirche war ein solcher "Ozeandampfer". Schwer beschädigt durch Bomben und den in der Stadt wütenden Feuersturm, stürzte sie am Morgen des 15. Februar ausgebrannt in sich zusammen. Lediglich zwei Seitenmauern standen noch. In kürzester Zeit hatte sich einer der prachtvollsten protestantischen Sakralbauten in eine Ruine verwandelt. Eine Ruine blieb das Gotteshaus auch noch, als die DDR mit dem Wiederaufbau anderer ebenfalls zerstörter Gebäude begann, und wäre es nach dem Willen der DDR-Oberen gegangen, so wären die baulichen Reste auf Dauer als ein Mahnmal gegen den Krieg stehen geblieben. Doch dann kam die Wende und mit ihr der Wunsch vieler Menschen, die Frauenkirche aus den Ruinen wiederauferstehen zu lassen. Im Jahr 1994 erfolgte der Startschuss für das Projekt, Spenden in aller Welt wurden gesammelt, und am 30. Oktober 2005, sechzig Jahre nach ihrer Zerstörung, wurde die neue alte Frauenkirche als "ein weltweites Symbol für Frieden und Versöhnung" zum zweiten Mal geweiht. Rund zwei Millionen Besucher zählt die Kirche seither in jedem Jahr, darunter im Jahr 2012 auch uns. Beeindruckt von dem Engagement der Dresdner, ihrer Stadt das geschichtsträchtige Bauwerk wiederzugeben, und ebenso von dem Können der Architekten und Handwerker, begeben wir uns auf eine Entdeckungsreise durch die Kirche. Barocker Altar und neue Orgel (auf den Nachbau der völlig zerstörten Silbermann-Orgel wurde verzichtet), die weitgehend authentische Innenausmalung der Kuppel, das Nagelkreuz von Coventry, das die Idee der völkerweiten Versöhnung in die Welt tragen soll und vieles mehr, was uns ein um das andere Mal staunen lässt, mit welcher Liebe zum Detail die Wiederherstellung der Kirche ins Werk gesetzt wurde.
Und dann ist da noch die Kuppel. Die Höhe der Kirche beträgt 91 Meter, auf 67 Metern gibt es eine Aussichtsplattform, und da wir Stadtansichten von oben sehr schätzen, zögern wir keine Sekunde. Zunächst mit einem Aufzug, danach über schmale Treppen und einen stufenlos ansteigenden Wendelgang geht es aufwärts. Von der Plattform, so konnten wir am Kassenhäuschen am Eingang lesen, "eröffnet sich ein einzigartiger Blick über Dresden und die Umgebung". Es ist der übliche Spielzeugblick von einem erhöhten Punkt aus, alles ganz klein, dafür in seinen städtebaulichen und landschaftlichen Zusammenhängen gut zu erfassen: der Neue Markt zu unseren Füßen, nahebei das Altstadt-Ensemble, die Neustadt gegenüber und dazwischen die Elbe, die an dieser Stelle einen Bogen beschreibt und sich wenige Kilometer weiter in der Landschaft verliert. Unterhalb der Brühlschen Terrasse am Fluss liegen Dampfer und ... na klar, sie warten auf uns! Zwei Seelen, ein Gedanke - also runter von der Plattform, nachdem wir den Ausblick ausgiebig genossen haben, durch ein paar Gassen zur Anlegestelle und zwei Fahrkarten gekauft. Zehn Minuten später legt unser Schiff ab.
 
"Kulturlandschaft Dresdner Elbtal" lautet der amtliche Name des Gebiets, durch das wir fahren. Die unmittelbar an den Fluss grenzenden Flächen sind kaum bebaut, eine für eine Großstadt ungewöhnliche Situation, die zusammen mit einigen weiteren Gründen die UNESCO veranlasst hat, dieses Gebiet im Jahr 2004 in das Weltkulturerbe aufzunehmen. Ein Flop, denn bereits zwei Jahre später wurde das Elbtal in die Liste des gefährdeten Welterbes eingetragen, und 2009 wurde ihm der Titel gar wieder aberkannt. Der Grund war der Bau der Waldschlößchenbrücke, die die geschützten Elbwiesen an ihrer empfindlichsten Stelle durchschneidet - ein Thema, das nicht nur der Lokalpresse seinerzeit zahlreiche Berichte wert war. Als wir die Brücke erreichen, entspinnt sich prompt eine Diskussion unter den Passagieren, "Vergewaltigung der Natur" contra "verkehrlich geboten", die erst abebbt, als wir den Stein des Anstoßes hinter uns gelassen haben. Wir kommen an Hängen vorbei, an denen Wein wächst, erblicken schmucke Schlösschen und stattliche Villen und erreichen schließlich eine weitere Brücke, bei der es keine Diskussion gibt, ist sie doch schon seit mehreren Generationen ein unumstrittenes Wahrzeichen Dresdens: die Loschwitzer Brücke von 1893, besser unter ihrem volksmundlichen Namen "Blaues Wunder" bekannt. Blau wegen der hellblauen Farbe, wie der Kapitän über Lautsprecher erklärt, und Wunder wegen der Bauweise, die zu ihrer Zeit eine ingenieurtechnische Herausforderung war. Auch den Umstand, dass es sie überhaupt noch gibt, könnte man als ein Wunder bezeichnen. Wobei die Zerstörung in diesem Fall nicht auf das Konto alliierter Bomber gegangen wäre, sondern auf das der SS, die sie während des Rückzugs der Wehrmacht hatte sprengen wollen. Nur dem mutigen Eingreifen zweier Dresdner ist es zu verdanken, dass die Brücke vor der Zerstörung bewahrt wurde. Sogar doppelt bewahrt wurde, muss man sagen, denn jeder der beiden führte seine lebensgefährliche Aktion ohne das Wissen des anderen aus: Während der eine die Zündschnüre der bereits vorbereiteten Sprengung durchschnitt, zog der andere die Leitungen aus der Sammelbatterie. Worauf die SS ihr ganz eigenes blaues Wunder erlebte ...
 

Auf Blau folgt Grün: das Grüne Gewölbe, die Schatzkammer der Wettiner Fürsten, das älteste Museum der Welt. Sein Name leitet sich von den malachitgrün gestrichenen Säulen in den ursprünglichen Gewölberäumen ab, in denen die fürstlichen Schätze aufbewahrt wurden und wo sie bereits seit dem Jahr 1724 öffentlich zugänglich waren. Und was für Schätze! Etwa die "Juwelen-Garnituren", der umfangreichste Juwelenschatz Europas, bestehend aus Karneolen, Diamanten, Rubinen, Perlen und Saphiren, darunter einem in dieser Größe weltweit einmaligen Saphir von 648 Karat, ein Geschenk Zar Peters des Großen; die umfangreichen Bernsteinkunstwerke im Bernstein-Kabinett;  der "Hofstaat zu Delhi am Geburtstag des Großmoguls Aurang-Zeb", ein Tischaufsatz mit 137 Personen und zahlreichen Tieren, der von mehr als 5.000 Diamanten geziert wird; oder der "Obeliscus Augustalis", ein Meisterwerk des Hofgoldschmieds Augusts des Starken, ein über zwei Meter hoher Obelisk, der über und über mit Gemmen und goldemaillierten Figuren besetzt ist und ungefähr so viel kostete wie der Bau eines ganzen barocken Schlosses. Aber auch Kuriosa sind hier zu finden, die Trinkschale Iwans des Schrecklichen etwa oder der berühmte "Kirchkern mit den 185 Angesichtern", von denen nach Auskunft des Katalogs zwar nur 113 zu erkennen sind, aber 113 Gesichter auf einem Kirschkern unterzubringen ist ja auch keine Kleinigkeit. Alles in allem ist es eine Sammlung von Kostbarkeiten, die einem den Atem verschlägt und bei der man glücklich sein kann, dass es sie gibt - wenngleich ich mich bei Präsentationen dieser Art jedes Mal des Gedankens nicht erwehren kann, auf wessen Kosten dieser kaum fassbare Reichtum eines winzigen Teils der Gesellschaft zustande kam.
Wegen des Fotoverbots im Grünen Gewölbe muss ich leider auf eigene Bilder der ausgestellten Schätze verzichten. Klicken Sie deshalb hier und begeben Sie sich auf einen eindrucksvollen Rundgang durch das Gewölbe.
Vier Tage Dresden sind nicht viel, und sie sind schnell vorbei. Wir sind bereits auf dem Rückweg, als wir endlich erleben, was wir bis dahin fast schmerzlich vermisst hatten: Wir treffen auf jemanden, der Sächsisch spricht. Ob im Hotel, in den Museen, den Restaurants oder auf dem Schiff - überall sind wir nur Menschen mit hochdeutschem Akzent begegnet, aber bis dahin kein einziges Mal Sächsisch. War es ein Zufall? Hatten wir es nur mit "Zugereisten" zu tun nach dem Motto: Dresden ist eine Touristenstadt, hier arbeiten Leute aus allen Teilen Deutschlands? Oder ist dieser teils belächelte, teils verspottete Dialekt etwa vom Aussterben bedroht wie die Höflichkeit in Teilen der deutschen Bevölkerung oder der sibirische Tiger?  Ist er gewiss nicht, vermutlich war es nur reiner Zufall, auf jeden Fall sind wir hoch erfreut, als wir endlich mit diesem Idiom konfrontiert werden. "Zweeje Schälchn Heeßn un een Gäseklitschor", wiederholt die Kellnerin in einem Café am Bahnhof, als wir zwei Tassen Kaffee und ein Quarkkeulchen bestellen. Als sie mitbekommt, dass wir ein paar Tage in Dresden waren und nun auf der Rückreise sind, fügt sie hinzu, dass sie ja gern mit uns "babbeln" würde, um zu erfahren, wie uns "Drähsdn" gefallen hat, aber in dem "Gaffee" dürfe sie nicht "muddeln", sie müsse "aggorn", um ihre "binunnsen" zu verdienen. Doch sie wolle nicht "bärmeln", bald sei sie "ferdsch" und "daheem" könne sie dann "mährn", so viel sie wolle. Als wir gehen, bedenkt sie uns zum Abschied noch mit einem freundlichen "Mochenses hibsch!".
 
"Nu denn, mochenses ooch hibsch!"
Manfred Lentz

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jeweils am 1. und 15. jedes Monats