"That's Cuba!"
In Havanna beginnt unsere Reise über die Insel. Kuba 2015
In Havanna beginnt unsere Reise über die Insel. Kuba 2015
Der erste Kubaner, mit dem ich ein paar Worte wechsle, ist weiblich, eine Kubanerin also. Sie ist zwischen 25 und 30 Jahre alt, hat halblanges schwarzes Haar, kastanienbraune Augen und ist mit einer Uniformbluse bekleidet. Ob sie darunter einen schwarzen Minirock trägt und Netzstrümpfe - ein für unseren Geschmack sehr spezielles Outfit, das wir in den folgenden Wochen aber häufig auf den Straßen sehen und das viele Kubanerinnen zu lieben scheinen -, kann ich nicht sagen, denn der Blick auf den unteren Teil ihres Körpers ist mir versperrt. Sie sitzt am Schalter der Passkontrolle, ich stehe davor, sie ist die Staatsmacht, ich bin der Tourist, der einreisen will. Sie nimmt meinen Pass und tippt etwas in einen Computer. Danach ein Foto mit einer kleinen Kamera, die direkt vor meinem Gesicht hängt. "Please, look!" Und dann die Frage, ob ich direkt aus Deutschland komme. Jawohl, komme ich. Und ich war nicht zuvor in Afrika? Nein, war ich nicht. In Westafrika, um genau zu sein? Ich verstehe. No, I am not ill with Ebola, sage ich und schüttle den Kopf. Ich habe erraten, was sie meint, keine große Leistung, aber dennoch lächelt sie mich an. Genau darum ginge es ihr, sagt sie. Ich lächle zurück, krame meine minimalen spanischen Sprachkenntnisse zusammen und radebreche das Gleiche noch einmal in ihrer Sprache. Nun lächelt sie noch mehr. Mit einem freundlichen "Welcome in Cuba!" reicht sie mir meinen Pass, worauf ich "Muchas gracias" sage und dann noch "Adiós", und wir scheiden als Freunde. Wenn ich an die Ankunft auf dem Flughafen JFK in New York denke, an den ruppigen Ton des Polizisten bei der Einreise, der mir das Gefühl gab, ein Schwerverbrecher oder ein Terrorist zu sein, dann ist das hier auf dem Flughafen von Havanna eine ganz andere Nummer. Und hätte ich nicht ohnehin schon Partei ergriffen in dem Streit zwischen David und Goliath - spätestens hier würde ich es tun. Ein Land, das seine Besucher so freundlich empfängt, sage ich mir, kann nur ein liebenswertes Land sein. Welcome in Cuba!
Aber erst einmal sehen wir nicht viel von diesem Land, denn es ist bereits dunkel. Von unserer Reiseagentur ErlebeKuba beauftragt, organisiert ein junger Kubaner am Flughafen ein Taxi für uns, was erkennbar keine ganz einfache Übung ist. Auf Straßen mit bemerkenswert wenig Verkehr geht es anschließend zügig durch die spätabendliche Stadt zu dem ersten Hotel, das die Agentur für uns gebucht hat. Hotel "Raquel", in La Habana Vieja gelegen, der Altstadt von Havanna, also genau dort, wo etwas los ist. Das Hotel ist gut hundert Jahre alt und so pompös, dass wir wohl eher einen Bogen darum gemacht hätten, wären wir selbständig auf Zimmersuche gegangen. Säulen, edle Hölzer und viel Marmor, alles im Jugendstil und perfekt restauriert, allerdings in einer Umgebung liegend, die von dem Hotel negativ absticht. Dass auch "Raquel" selbst Defizite aufweist, bemerken wir am nächsten Morgen beim Frühstück: ein Buffet, das meinen Hunger bereits nach wenigen Kostproben auf Sparflamme setzt, dazu ein ohrenbetäubender Lärm aus einer Metallwerkstatt gegenüber. Frühstück genießen ist anders, aber deswegen sind wir ja nicht hier, also machen wir uns eilends auf den Weg zu unserer ersten Verabredung. Einer Exkursion, die wir ebenfalls vorab gebucht haben und die zum touristischen Standardprogramm jedes Havanna-Besuches gehört: eine Fahrt mit einem Oldtimer durch die Stadt.
In jedem Reiseführer werden sie erwähnt, man kennt sie aus Filmen und von zahllosen Bildern, und tatsächlich sind sie alles andere als ein Klischee, vielmehr auch im Jahr 2015 noch immer kubanische Realität. In den folgenden vier Wochen sehen wir Tausende von ihnen, Wagen aus US-amerikanischer Produktion, Chevrolet, Buick, Ford und wie sie alle heißen. Autos, die in den 1950er Jahren eingeführt wurden, als das Verhältnis zwischen Kuba und den USA noch ein anderes war als heute. Als Kuba noch spurte und US-Konzerne und die nordamerikanische Mafia satte Profite aus der Insel zogen. 1959 änderte sich dieses Verhältnis. Revolutionäre um Fidel Castro ergriffen die Macht und warfen Konzerne und Mafiosi aus dem Land, worauf die USA mit jenem Embargo gegen die Insel antworteten, das trotz einiger Lockerungen in jüngster Zeit noch immer Bestand hat. Ein Embargo, das auch die Lieferung von Autos und deren Ersatzteilen mit einschloss, und auf das die Kubaner mit Einfallsreichtum und Do-it-yourself reagierten. Die Folge sind jene vielen Oldtimer, die wir heute bewundern und die auf Autofreaks dieselbe erregende Wirkung haben wie auf die meisten Männer der Anblick einer schönen Frau. Der Wagen, in den wir steigen, ist ein Chevrolet aus dem Jahr 1952. Ein Familienerbstück, wie sein Besitzer stolz verkündet, das er stets mit Hingabe gepflegt hat und das er auch heute noch jeden Tag putzt. Wie viel Benzin sein Wagen schlucke, frage ich ihn, worauf seine Miene sich verdüstert. Zwanzig, sagt er, der blanke Wahnsinn, aber daran könne er leider nichts ändern. Viele Besitzer solcher Veteranen hätten inzwischen moderne Motoren in ihre Fahrzeuge eingebaut, aber dazu fehle ihm leider das Geld. Wir bemerken von diesem Unterschied natürlich nichts, als wir uns tief in den altersschwachen Polstern versunken von ihm durch Havanna kutschieren lassen. Neben dem Fahrer sitzt eine junge Frau, die uns in bestem Englisch die Stadt erklärt und die uns anschließend - nachdem wir während einer zweistündigen Rundfahrt einen guten Überblick über die Stadt erhalten haben - an die Hand nimmt und durch die für Autos nur schwer zugängliche Altstadt führt.
2,3 Millionen Einwohner zählt die kubanische Hauptstadt, was angesichts von 12 Millionen Menschen auf der gesamten Insel ein beachtlicher Anteil ist. Etlichen von ihnen begegnen wir, weniger in dem Vorzeigebezirk Miramar mit den alten Villen und dem vielen Grün als vielmehr in den Straßen und Gassen der Altstadt, in denen sich Kubaner und Touristen an manchen Stellen im gefühlten Verhältnis 1:1 mischen. Gut geführt und bestens informiert klappern wir die Sehenswürdigkeiten ab: die Plätze mit den Bauten aus der Zeit, als die Spanier hier das Sagen hatten (bis 1898), die Gegend um das Kapitol, das einstige Parlament, oder die Calle Obispo mit ihren Läden, Cafés und Restaurants, auf der es ebenso geschäftig wie geräuschvoll zugeht, versucht doch jeder Wirt eines Lokals seinen Gästen mit Livemusik zu imponieren. Dass die UNESCO sich angesichts des fortschreitenden Verfalls von Havanna bei der Restaurierung bedeutsamer Gebäude engagiert, davon hatten wir bereits gelesen - hier nun sehen wir es. Auch die Folgen der Regierungsentscheidung, der privaten Initiative einen größeren Spielraum einzuräumen, sehen wir. Mehr als 200 Berufe sind gegenwärtig von dieser Entscheidung betroffen. Als Folge davon sind in den letzten Jahren Boutiquen und kleine Take-away-Pizzerien entstanden, Läden für Handyreparaturen, Blumenverkaufsstände und Friseursalons, vor allem aber die zahlreichen in Privatwohnungen eingerichteten Restaurants - Paladares genannt -, deren Angebot und Service die staatliche Konkurrenz zumeist blass aussehen lassen.
Und dann ist da noch der Malecón, die acht Kilometer lange Straße am Meer, bei deren Beschreibung als "schönste und größte Uferpromenade der Karibik" oder "abendlicher Treffpunkt für die Bewohner der Stadt" sich manche Autoren schier überschlagen. In Wim Wenders' "Buena Vista Social Club" ist der Malecón zu sehen, und schon beim Anschauen dieses Films hatten wir den Eindruck, dass der berühmte Malecón so sensationell wohl nicht sein kann. Nun, da wir vor Ort sind, bestätigt sich dieser Eindruck. "Die vielleicht schönsten Ruinen der Stadt", nennt das Reisemagazin Merian die Bebauung, und "eine Ansammlung von Gemäuern mit allerbestem Meeresblick". Formulierungen, die die Situation auf den Punkt bringen. Wenn es bei dieser Straße etwas zu würdigen gibt, dann ist es einzig das Potenzial, das sie hat und das eines Tages - ebenso wie das der Stadt insgesamt - hoffentlich zur Wirklichkeit wird, wenn ... ja, wenn die Ära der regierenden Greise demnächst zu Ende geht und eine neue Seite in der Geschichte Kubas aufgeschlagen wird. Eine Seite, auf die wir Kubaner während unseres Aufenthalts wiederholt angesprochen haben: Was kommt nach Raúl Castro? Die Antwort war jedes Mal ein fatalistisches Achselzucken - Was weiß ich denn! Doch wie sollte das auch anders sein in einem politischen System, das seinen Bürgern jahrzehntelang nur die Rolle von Claqueuren zugewiesen hat.
Die Frage nach der Zukunft stellt sich nicht nur für den Malecón, sondern ebenso für die Stadtteile dahinter, für die Straßenzüge abseits der gehätschelten Altstadt. Zerfallende Häuser, eine verrottende Infrastruktur, alles lebt von der Substanz, wie wir es noch aus der DDR kennen. Kuba hat durchaus Errungenschaften aufzuweisen, ein Gesundheitswesen etwa, das verglichen mit anderen Staaten der Region beispielhaft ist oder ein Bildungssystem, von dem Kennern zufolge selbst der Nachbar im Norden noch etwas lernen könnte. Aber das Land hat auch Defizite, und ein Blick in die Häuser, der mitunter beinahe einem Blick in Höhlen gleicht, offenbart diese Tatsache selbst dem flüchtigsten Betrachter. Oft scheinen es nur die Sonne, die knalligen Farben der Autos und die bunten Kleider der Menschen zu sein, die die kubanische Tristesse von dem dumpfen Mausgrau der ostdeutschen Vergangenheit unterscheiden. Zwei Mal Sozialismus in seiner Endphase - für Kuba gehe ich davon aus, dass es so ist -, aber schon von der äußeren Erscheinung her sind beide Staaten völlig verschieden. Ebenso wie die Menschen in beiden Gesellschaften, und hier meine ich nicht nur die in der ehemaligen DDR, sondern uns Deutsche insgesamt. Ich habe mir vorzustellen versucht, die kubanische Gesellschaft hätte etwa einen Richard Wagner mit seiner erdschweren Musik hervorgebracht, und schon im selben Augenblick wusste ich, dass diese Vorstellung grotesk war. Kuba - das ist der Rhythmus des Son Cubano und des Salsa, dieser elektrisierenden, dem Leben zugewandten Musik, die nicht nur den Alltag der Menschen beherrscht, sondern auch ihre Mentalität. Wir erleben diese Musik auf unserer Reise immer wieder, bestimmt ein Dutzend Mal gleich am ersten Tag unseres Aufenthaltes, darunter den Auftritt des "Buena Vista Social Club" in einem Altstadtlokal. Eine Veranstaltung für Touristen, gewiss, aber dennoch spürt man, dass dies nicht einfach "nur" Musik ist, sondern eine Äußerung der kubanischen Seele. "That's Cuba!", haben wir von unseren Gesprächspartnern in den folgenden Wochen immer wieder gehört, wenn es darum ging, auf Missstände hinzuweisen. Doch diese Aussage betrifft nur einen Teil der Wirklichkeit. Auch über dem, was ich gerade zu beschreiben versucht habe, kann dieser Spruch als Überschrift stehen: "That's Cuba!"
Manfred Lentz
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am 1. und 15. jedes Monats
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