Wenig Romantik und
viel Kommerz
Venedig kann man auch ohne eine Gondelfahrt erleben. 2009
 
Hamlet light für Venedig-Touristen: Sollen wir oder sollen wir nicht, das ist hier die Frage. "Hier" - das ist die Lagunenstadt an der italienischen Adria, die jährlich das Ziel von rund 30 Millionen Besuchern aus aller Welt ist. Und "sollen" - das bezieht sich natürlich nicht auf eine so existenzielle Frage wie die in Shakespeares Hamlet, sondern auf eine weit banalere: Sollen wir mit einer Gondel fahren oder sollen wir nicht. Vor Beginn unserer Reise war das keine Frage, denn Venedig und seine Gondeln gehörten in unserer Vorstellung untrennbar zusammen. Natürlich sollten wir. Aber so ist das oft mit Vorstellungen - sie sind eindeutig, so lange sie bloße Gedanken sind, doch sollen sie sich in der realen Welt beweisen, so brechen sie wie ein Kartenhaus zusammen. Und schon ist der Zweifel da. Also sollen wir vielleicht doch nicht?
 
Tag zwei nach unserer Ankunft. Wir haben im Dogenpalast die prunkvollen Räume und die herrlichen Gemälde bewundert, sind für einen großartigen Ausblick über die Stadt auf den Campanile gefahren und anschließend ziellos durch die Seitenstraßen der Piazza San Marco gestreift, als wir auf einmal vor einer Anlegestelle für Gondeln stehen. Bacino Orseolo, wie wir unserem Stadtplan entnehmen. Es ist eine kleine Anlegestelle, sowohl gemessen an der Zahl der hier liegenden Gondeln als auch an der Zahl der versammelten Interessenten für eine Fahrt. Der Ablauf ist Routine: ein kurzer Wortwechsel zwischen Touristen und einem Gondoliere, mehrere Scheine wechseln den Besitzer, die Touristen steigen an Bord, und schon geht es los - jener anderen Gondel hinterher, die gerade abgelegt hat und gefolgt von der nächsten und gleich darauf von einer weiteren. Eine größere Gruppe erscheint, vielleicht Passagiere eines der riesigen Kreuzfahrtschiffe, die Tag für Tag in Venedig festmachen und Massen von Menschen in die Lagunenstadt entlassen, mit Besichtigungen hier und Besichtigungen dort und außerdem mit einer Gondelfahrt. Denn ist die Zeit auch noch so knapp - eine solche Unternehmung ist für viele Venedigbesucher ganz einfach einfach ein Muss.
 
 
Musik ertönt, das Spiel eines Mannes auf einem Akkordeon, der gekonnt, aber sichtlich gelangweilt in die Tasten greift und mit "O sole mio" - na klar, was denn sonst! - für den zünftigen akustischen Background sorgt. Prompt fangen einige Bootsinsassen an zu singen, und mit der Melodie, die die ganze Welt kennt, verschwindet der Konvoi hinter der nächsten Biegung. Und wir? So richtig romantisch sah das eben nicht aus, aber wo wir nun schon einmal hier sind ... Wir wenden uns einem Gondoliere zu und erkundigen uns nach dem Preis. Auf Englisch, denn bei so vielen Touristen aus aller Welt - Nordkorea vielleicht ausgenommen - kann man wohl zumindest rudimentäre Sprachkenntnisse bei deren Nutznießern erwarten. "One tour 80 Euro", beantwortet unser Gegenüber die Frage ohne zu zögern. 80 Euro, kein schlechter Preis, aber wenn einem dafür etwas geboten wird ... Offenbar macht ihn unsere spontane Aufgeschlossenheit für sein Angebot skeptisch, denn noch bevor wir uns nach der Dauer der Tour erkundigen können, schiebt er ein schnelles "35 minutes" nach. Leicht irritiert fasse ich seine Aussagen zusammen: "80 Euro for 35 minutes?" Si, sagt er diesmal und nicht yes, offensichtlich davon ausgehend, dass wir dieses kleine Wort in seiner Sprache verstehen. Das ist auch der Fall, und außerdem begreifen wir - seine Miene ist eindeutig -, dass Feilschen für ihn keine Option ist. Überhaupt scheint er wegen meiner Nachfrage etwas ungehalten, wir vertrödeln nur seine Zeit, und Zeit ist für einen venezianischen Gondoliere anscheinend bares Geld. "Singing is extra", hören wir ihn noch sagen, vermutlich deshalb, weil er diesen Satz jedes Mal sagt und nicht in der Erwartung, wir könnten miteinander ins Geschäft kommen. Denn noch während er die Worte spricht, wendet er sich bereits von uns ab und fasst drei Japaner ins Visier. Dieselben Fragen, dieselben Antworten, worauf sie nicken, Geld hervor holen und bezahlen. Sie haben ihre Brieftaschen kaum wieder in den Jacken verstaut, als sie auch schon in der Gondel sitzen und die Tour - 35 Minuten? mit oder ohne Gesang? - beginnt.
Zurück in unserem Hotel, gehen wir ins Internet und suchen nach den Preisen für eine Gondelfahrt. 80 Euro für 35 Minuten scheinen üblich zu sein, wobei dieser Tarif nicht für den Spätnachmittag und die Zeit des Sonnenuntergangs gilt, wenn die Nachfrage am größten ist. Dann kostet der Spaß 118 Euro und mehr, und das für die gleiche Zeit. "Wenn Sie Musik und Sänger dazu buchen", lesen wir auf der Website eines "Spezialisten für Venedig", "wird die Gondelfahrt zum besonders romantischen Ereignis." Natürlich hat Romantik ihren Preis - bis zu 200 Euro extra fallen je nach Tageszeit an, dafür kann man sich an vier bis fünf Liedern auf einer 35-Minuten-Tour erfreuen. Ein Angebot, dass offenbar eher selten angenommen wird, denn außer dem "O sole mio" des gelangweilten Akkordeonspielers hören wir während unseres einwöchigen Aufenthalts keine weiteren romantischen Weisen.
 
Rund 450 Gondeln sind Tag für Tag in Venedig unterwegs, eine Zahl, die stattlich erscheint, die aber nichts ist verglichen mit den 10.000 früherer Jahrhunderte. Über lange Zeit waren Gondeln das wichtigste Transportmittel in dieser Stadt ohne befahrbare Straßen, in der Verkehr nur auf dem Wasser abgewickelt werden kann. Was für ein prächtiger Anblick muss das gewesen sein - 10.000 Gondeln, und nicht nur schwarze wie gegenwärtig, sondern viele entsprechend dem Vermögen ihrer Besitzer fantasiereich gestaltet und mit kostbaren Materialien ausgestattet. Die Gondel als Ausdruck gesellschaftlicher Differenziertheit, wie das heute bei unseren Autos der Fall ist. 1562 war mit dieser Protzerei allerdings Schluss. Nachdem der Wettstreit zwischen den Bootsbesitzern immer heftiger geworden war, zog der Senat von Venedig die Reißleine und verordnete allen Gondeln ein einheitliches Schwarz. Ob dies eine gelungene Farbwahl war, hängt vom persönlichen Geschmack ab. Auf jeden Fall ist die heutige Kombination von lackglänzendem Schwarz mit den Ringelshirts und den bebänderten Strohhüten vieler Gondolieri ein fotogener Anblick.
 
Gondeln sind teuer, und diesmal meine ich nicht den Preis für ihre Benutzer, sondern den für ihre Besitzer. 20-30.000 Euro kostet ein solches Boot, drei bis vier Monate dauert es, bis es fertig ist. Wer meint: ein paar Bretter in Form gebracht, zusammen genagelt und angestrichen sei alles, der irrt. Die Konstruktion der Gondeln ist eine Kunst, bei der über Jahrhunderte tradierte Fertigkeiten zum Einsatz kommen. Allein die Auswahl der Hölzer ist eine Wissenschaft. Neun verschiedene werden gebraucht: Eiche für die Rippen, Kiefer für den Boden und das Vordeck, Lärche für die Seiten, außerdem Kirsche und Ulme, Tanne, Linde und Buche und nicht zuletzt Nussbaum für die Gabel, in die der Riemen eingelegt wird und deren Form entscheidenden Einfluss auf die Fahreigenschaften der Gondel hat. Das Ergebnis ist standardisiert: rund 11 Meter lang und 1,40 Meter breit, mit Sitzplätzen für zwei bis sechs Personen, weit aufgebogenen Enden und dem charakteristischen Metallbeschlag am Bug. Inzwischen gibt es neben dieser Gondel alter Machart eine moderne Variante aus Sperrholz, die sich vom Aussehen her von der anderen nicht unterscheidet, die aber preiswerter, haltbarer und leichter ist. Eine Gondel, bei der sich den Traditionalisten vermutlich der Magen umdreht. Doch wie bei vielem, was mit Geld zu tun hat, ist es vermutlich nur eine Frage der Zeit, bis sich die Billigvariante durchgesetzt haben wird.
 
 
Und es gibt noch etwas, was sich gegenüber früheren Zeiten geändert hat: Im Jahr 2013 haben die Stadtväter Venedigs ihren Gondeln Nummernschilder verpasst. Auslöser für die neue Bestimmung war ein Unfall auf dem Canale Grande, bei dem ein deutscher Tourist zu Tode kam. Freilich nur der Auslöser, denn Überlegungen dieser Art hatte es schon vorher wegen des rüpelhaften Verhaltens gegeben, das manche Gondolieri an den Tag legen. Schaut man ihnen eine Weile bei ihrer Arbeit zu, so gewinnt man allerdings den Eindruck, dass die meisten recht rücksichtsvoll ihre Arbeit verrichten. Rücksichtsvoll und überdies gekonnt, denn das Navigieren in den mitunter sehr engen Kanälen ist alles andere als einfach. Es macht Spaß, im Gewirr der Gassen auf einer der vierhundert Brücken zu stehen und zu beobachten, wie die schlanken Boote durchs Wasser gleiten. Und es sind schöne Fotomotive, unbeschadet aller Abzocke und der fragwürdigen Romantik. Denn Venedig ist nicht nur der Markusplatz, der Dogenpalast und der Canale Grande, Venedig - das sind ebenso seine Gondeln.
 
Fehlt noch die Antwort auf die einleitende Frage: Sollen wir nun mit einer Gondel fahren oder sollen wir nicht? Wir entscheiden uns für das "nicht" und erkunden die äußerst reizvolle Wasserperspektive Venedigs mittels eines Vaporettos, eines jener Schiffe, die in der Stadt ohne Autos die Busse ersetzen. Aber zum Glück machen das nicht alle Besucher so ...
 
Manfred Lentz

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