Tolle Aussicht
Vom Campanile hat man einen großartigen Blick auf Venedig und seine Umgebung. 2009
 
Von Bildern kennt ihn vermutlich fast jeder, und Millionen haben ihn bereits in natura gesehen: den Campanile di San Marco, den Glockenturm des Markusdoms, das Wahrzeichen Venedigs. Früher ein Zeichen für Seefahrer, heute ein Willkommensgruß für die Heerscharen der Touristen, reckt er sich stolz in den Himmel über der Piazza San Marco, einem der schönsten Plätze der Welt. Knapp 100 Meter ist er hoch und rund 1000 Jahre alt. Oder richtiger: So alt wäre jener Turm heute, der einst an dieser Stelle stand. Denn was man dem Campanile nicht ansieht, und was viele Besucher vermutlich nicht einmal wissen: Der heutige Turm ist ein Nachbau. Es war der 14. Juli 1902, morgens kurz vor 10 Uhr, als der Vorgänger einstürzte, einfach in sich zusammenbrach, was wohl kein Einwohner Venedigs jemals für möglich gehalten hätte. Bereits Tage zuvor hatten sich Risse im Mauerwerk gezeigt, weshalb der Platz zu Füßen des Turms großräumig abgesperrt worden war. Als Folge dieser Vorsichtsmaßnahme kam bei dem Einsturz niemand zu Schaden, von der Katze des Hausmeisters einmal abgesehen, was aber womöglich nur ein Gerücht ist. Der Grund für die Katastrophe war letztlich der Wunsch nach Bequemlichkeit: der Einbau eines Aufzugs, wofür man die Metallanker entfernte, die den Bau Zeit seines Bestehens zusammengehalten hatten. Noch am Abend des Einsturzes fasste der Stadtrat von Venedig den einstimmigen Beschluss, das weltbekannte Wahrzeichen "com'era e dov'era" (wie und wo er gewesen war) wieder aufzubauen. Zehn Jahre später - am Tag des heiligen Markus - konnte der neue alte Turm der Öffentlichkeit übergeben werden. Anstelle der ursprünglichen spiralförmigen Rampe, auf der unter anderem Kaiser Friedrich III. und Napoleon bis zum Glockenstuhl hinauf geritten waren, wurde eine Treppe eingebaut. Heute ist die Spitze des Campanile per Aufzug zu erreichen, allerdings anders als damals ohne Probleme für das Bauwerk, versteht sich.
 
 
Auch dass wir auf den Turm hinauf müssen, versteht sich, und deshalb reihen wir uns in die Schlange der Wartenden ein. Sie ist lang wie an jedem Tag und in ihrem hinteren Teil kaum noch von jener anderen Schlange zu unterscheiden, die vor dem gegenüber liegenden Markusdom auf Einlass wartet. Touristen aus aller Herren Länder geben sich hier ein Stelldichein. Venedig ist halt eines der touristischen Highlights weltweit, und hier, wo wir stehen, ist das Zentrum. Der Aufstieg über die Treppe ist nicht erlaubt, also rein in den engen Aufzug, der uns in schneller Fahrt bis zum Glockenstuhl bringt. Über uns die mit vergoldetem Kupferblech verkleidete Statue des Erzengels Gabriel, um uns herum Dutzende weiterer Touristen, unter uns - die Belohnung, nachdem wir uns einen Aussichtsplatz am Geländer erkämpft haben - die Stadt. Venedig von seiner schönsten Seite, hätte ich beinahe geschrieben, was natürlich nicht stimmt, denn diese Stadt hat jede Menge schönste Seiten. Allerdings gehört diejenige, die wir von hier oben kennen lernen, ohne jeden Zweifel auf einem der vordersten Plätze dazu.
Der Ausblick ist spektakulär. Dass Venedig eine Stadt auf einer Insel ist, weiß man natürlich, doch von hier oben kann man es sehen. Wasser in jeder Richtung, die Laguna di Venezia, ein rund 550 Quadratkilometer großer, durch Landzungen und Inseln weitgehend abgetrennter Meerbusen in der nördlichen Adria. Mittendrin jede Menge weiterer Inseln, von denen Venedig die größte ist. Nicht alle sind bewohnt, und von den meisten kennen nur die Einheimischen den Namen. Aber es gibt einige, mit denen auch die Touristen etwas anfangen können. Mit Murano vor allem, der Glasbläserinsel mit der jahrhundertealten Tradition. Fantasievolle Lüster und farbenprächtige Gefäße, Figuren aller Art und Größe, Aschenbecher, Briefbeschwerer und vieles andere mehr - Mitbringsel für einen selbst und als Geschenke: "Ach, das ist also dieses bekannte Murano-Glas ... sieht ja wunderschön aus ... herzlichen Dank!", und schon ist ein weiterer Haushalt mit einem der legendären Murano-Produkte versorgt. Ganz in der Nähe liegt Burano. Einst waren es geklöppelte Spitzen, für die diese Insel bekannt war. Doch da Klöppelarbeiten heutzutage nicht mehr jedermanns Geschmack sind - Spitzendeckchen in einem Loft? -, sind es eher die bunt angemalten Häuschen, die Burano für Besucher attraktiv machen. Näher an Venedig und vom Campanile gut sichtbar liegt San Michele, die Friedhofsinsel der Stadt. Und ebenso nahe, nur in der entgegengesetzten Richtung, die Isola di San Giorgio Maggiore, ein malerisches kleines Eiland mit einem Kloster und einem weiteren Campanile, eines der am meisten fotografierten Motive in der Lagune. Mit einem Vaporetto sind all diese Inseln leicht zu erreichen, jenen Schiffen, die in der wasserreichen, aber autolosen Stadt das Rückgrad des öffentlichen Verkehrs bilden.
 
Vaporettos auch auf dem Canale Grande, der unweit des Campanile seinen Anfang nimmt, und auf dem Giudecca-Kanal, der die gleichnamige Inselgruppe von dem übrigen Venedig trennt und so breit und so tief ist, dass Kreuzfahrtschiffe ihn passieren können. Zweifellos ein Vergnügen für die Passagiere, wegen des Wellenschlags jedoch ein Problem für die Stadt, weshalb es ab Anfang 2015 drastische Einschränkungen geben wird. Unproblematisch sind hingegen die vielen Gondeln. 10.000 waren es einst, heute beträgt ihre Zahl nur noch etwa 500: schmale schwarze Boote mit weit aufgebogenen Enden, die Maler wie Canaletto und Turner auf ihren Gemälden verewigten. Etliche von ihnen dümpeln schräg unter uns an der Riva degli Schiavoni im Wasser, dem bedeutendsten Kai Venedigs, und warten auf Kunden. Manche vermutlich schon längere Zeit, ist die Fahrt mit einer Gondel doch alles andere als preiswert: 35 Minuten tagsüber für 80 €, ab 19 Uhr sind es 100 €, Gesang kostet extra. Ebenfalls nicht gerade preiswert sind die Cafés auf der Piazza San Marco - ein kleines Bier für 13 € zuzüglich 6 € Musikzuschlag beim ersten Gedeck -, die sowohl auf dem Platz selbst als auch vom Campanile aus so malerisch aussehen. Während unserer Venedig-Woche haben wir sie jedenfalls stets nur fast leer gesehen, was ganz sicher nicht der Umgebung geschuldet ist: dem Uhrturm etwa mit den beiden Bronzefiguren, die auf einer Glocke die Stunden schlagen, dem Markusdom mit seiner filigranen Fassade und den markanten Kuppeln sowie dem Dogenpalast, dem Machtzentrum der einstigen Republik Venedig, die jahrhundertelang ein politisches und wirtschaftliches Schwergewicht war. Nicht zu vergessen die beiden Säulen mit den Stadtheiligen Markus und Theodorus, der eine durch eine Löwen repräsentiert, der andere auf einem Drachen stehend.
 
 
Kirchen, Klöster, Adelspaläste - vor allem aber sind es die unzähligen Häuser mit den roten Dächern, die das Bild Venedigs von oben prägen. Eng an eng gebaut, stehen sie so dicht beieinander, dass von dem prallen Leben zwischen ihnen nur wenig zu erkennen ist: Sowohl die Straßen und Gassen mit den kleinen Geschäften sucht man aus dieser Perspektive weitgehend vergebens als auch die zahlreichen Brücken, die hübschen Plätze mit den gemütlichen Restaurants, ja selbst die Kanäle, für die die Stadt so berühmt ist. Jetzt ein Vogel sein oder - die moderne Variante - eine Drohne! Aber ich will nicht unbescheiden sein, auch unsere aktuelle Aussicht ist beeindruckend. Nicht zuletzt der weite Blick zum Festland hinüber. Deutlich ist der Damm zu erkennen, der die Lagunenstadt mit dem Land verbindet, deutlich auch die Schornsteine von Marghera und Mestre, den beiden "hässlichen Schwestern Venedigs", wie die Orte ihrer Industrieanlagen wegen oft genannt werden. Und gut zu erkennen sind an diesem Tag auch die Alpen, die sich in einer langen Reihe am Horizont entlang ziehen. Wohl selten ist der Ausblick von einem Turm so vielfältig wie hier. Ein Glück,  dass man den eingestürzten Campanile wieder aufgebaut hat!
 
Manfred Lentz
 
 
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