Trinidad -
ein Juwel unter den kubanischen Städten. 2015
 
Die Piña Colada schmeckt besser als alle, die wir bisher getrunken haben. Vielleicht ist die Kokosnusscreme aromatischer, oder der Barkeeper hat einen anderen als den sonst üblichen Rum genommen. Auf jeden Fall schmeckt sie so gut, dass wir uns noch eine zweite gönnen. Am Nachbartisch trinken sie Mojitos, das kubanische Kultgetränk, das Ernest Hemingway zur Legende gemacht hat: Minzzweige und Limettensaft in ein Glas geben, Rohrzucker drüber, danach Rum, anschließend alles zerdrücken und mit gecrushtem Eis und Sodawasser auffüllen. Wir hätten auch einen Daiquiri bestellen können, einen Oshun, Mulata oder Coco Loco - Kuba hält eine große Auswahl an leckeren Cocktails bereit. Aber wir stehen auf Piña Colada. Im Hintergrund spielt eine Musikgruppe "El cuarto de Tula", ein Titel, der mir seit "Buena Vista Social Club" nicht mehr aus den Ohren geht. Das Lied von der schönen Tula, die will, dass man ihr Feuer löscht ...
 
An den Namen des Lokals kann ich mich nicht erinnern, an den Namen des Ortes, in dem es sich befindet, dafür um so besser: Trinidad, ein Städtchen an der Südküste Kubas mit rund 75.000 Einwohnern. Wer einmal in Trinidad war, wird diesen Ort kaum jemals vergessen, denn er ist ein Juwel unter den kubanischen Städten. Am Vorabend sind wir von Santa Clara her gekommen. Die Straße führte durch die Berge der Sierra de Escambray, oftmals sehr kurvig, sehr steil und sehr eng, teilweise ohne Belag, dafür mit Millionen Schlaglöchern. Um uns herum tropische Vegetation, von der ich als Fahrer leider nur wenig sah, da ich die Augen ständig auf der Straße hatte. Nach vier Stunden und gerade mal 100 Kilometern endlich die Einfahrt in Trinidad, und schon auf den ersten Blick hat uns die Stadt gefallen. Was nicht weiter erstaunlich war, immerhin hat die UNESCO sie zum Weltkulturerbe erklärt. Eine Stadt, in der mehr als in anderen kubanischen Städten die Vergangenheit bis heute lebendig ist.
 
 
Es ist eine Vergangenheit, die mehr als fünf Jahrhunderte zurückreicht. Christoph Kolumbus entdeckte Kuba auf seiner ersten Reise im Jahr 1492 und nahm die Insel für Spanien in Besitz. Dass sie nicht menschenleer war und ihre Bewohner keineswegs den Wunsch hatten, Untertanen des spanischen Königs zu werden, störte ihn nicht. Die weißen Herren waren ihrer Ansicht zufolge zum Herrschen geboren, also wurde Kuba auch gegen erbitterten Widerstand erobert. Ein Vorgehen, das Anfang des 16. Jahrhunderts zur Entstehung mehrerer Städte führte. Trinidad war eine von ihnen, und der Grund für ihre Gründung war derselbe, der auch andernorts Motor der spanischen Politik war: die Suche nach Gold. In den Flüssen der Umgebung hatte man welches gefunden, allerdings nicht viel, weshalb der Ort schon bald nach seiner Entstehung in den Schatten der Geschichte geriet. Über lange Zeit war es danach im wesentlichen der Schmuggel, der seine Einwohner ernährte. Doch dann geschah etwas, was für die künftige Entwicklung Trinidads - und für die Entwicklung Kubas ganz allgemein - schicksalhaft werden sollte: Die Spanier brachten das aus Indien stammende Zuckerrohr auf die Insel, und in kürzester Zeit entwickelte sich Trinidad zum Zentrum einer neu entstehenden Industrie. Zuckerrohr ist ein hartes Gras, das bis zu vier Meter hoch wird und nach seiner Reife schnell geerntet und verarbeitet werden muss - eine außerordentlich harte Arbeit, für die sich die zunächst eingesetzten Ureinwohner des Landes als ungeeignet erwiesen. Doch eine Lösung für dieses Problem war schnell gefunden: der Einsatz von Sklaven, womit eines der übelsten Kapitel der kubanischen - und nicht nur der kubanischen - Geschichte begann.
Gejagt und gefangen in Afrika, getrennt von ihren Familien und aus der Heimat verschleppt, verschiffte man die Unglücklichen unter elenden Bedingungen übers Meer in das fremde Land, in dem sich ihr Wert für den Rest ihres Lebens nur noch nach der Arbeitsleistung bemaß. Auf der heutigen Plaza Mayor wurden die Sklaven verkauft - dort, wo in unseren Tagen Touristen aus aller Welt die schönste Zeit des Jahres genießen - und anschließend von ihren neuen Herren in die Zuckerrohrfelder geschickt. "Kein Fass Zucker oder Melasse, das nach Europa gelangt, an dem nicht Blut klebt", formulierte ein französischer Kenner der Situation in der Mitte des 18. Jahrhunderts. Die im Wohnhaus eines der Herren ausgestellten, für aufsässige Sklaven bestimmten Folterwerkzeuge unterstreichen seine Feststellung recht drastisch. "Zuckerbarone" nannte man die Nutznießer dieses Systems. Sie waren es, denen die Produktion des "weißen Goldes" zum Segen gereichte, und das in einem Maß, das auch uns Heutige noch zu beeindrucken vermag. Nichts war ihnen zu teuer oder war zu schwer zu besorgen, als dass sie es nicht in ihre palastähnlich ausgestatteten Wohnhäuser geschafft hätten, das meiste davon dem Zeitgeschmack entsprechend aus Europa: Kronleuchter aus Kristall, riesige Wandspiegel im italienischen Stil, Mahagonimöbel, goldene Uhren, englisches und Meißner Porzellan, alles selbstbewusst präsentiert in Räumen mit marmornen Fußböden und Decken aus Zedernholz. Eine Umgebung, die auch ein Mann wie Alexander von Humboldt auf seiner zweiten Südamerika-Expedition im Jahr 1801 zu schätzen wusste: "Wir brachten einen sehr angenehmen Abend in dem Hause eines der reichsten Einwohner, des Don Antonio Padron zu, wo die ganze gute Gesellschaft Trinidads zu einer Tertulia (einem Treffen künstlerischer oder intellektueller Art - ML) versammelt war. Abermals überraschte uns die Aufgewecktheit und Geistesfrische der kubanischen Frauen ... Es sind dies glückliche Naturgaben, welchen die Verfeinerung der europäischen Gesittung noch mehr Reiz verleihen kann, die aber schon in ihrer ursprünglichen Einfachheit anziehen." Ein Abend, wie ihn die Sklaven in ihren Hütten sich vermutlich nicht einmal hätten vorstellen können.
 
Zucker lässt sich nicht nur aus Zuckerrohr gewinnen, sondern auch aus der Zuckerrübe - eine Erkenntnis, die bald nach Humboldts Trinidad-Besuch in Europa erstmals industriell umgesetzt wurde und die kubanischen Zuckerbarone wie ein Hammer traf. Über Nacht sanken die Preise für ihr Produkt in den Keller, und ihr Reichtum schmolz wie Butter unter der karibischen Sonne. Trinidad sank in die Bedeutungslosigkeit, ein Fluch für die Bewohner, aber ein Segen für die spätere Tourismusindustrie und damit auch für uns, denn nur der nahezu unverfälschte Erhalt der alten Stadt mit den kleinen bunten Häusern und den Kopfsteinpflasterstraßen hat aus der einstigen Zuckermetropole die heutige Weltkulturerbestadt gemacht. Ihr Zentrum ist die bereits als früherer Sklavenmarkt erwähnte Plaza Mayor, ein von repräsentativen Gebäuden umstandener Platz mit gestutzten Hecken, Bänken und Königspalmen, die ihre Wedel stolz in den Himmel strecken. Auf der Ostseite wird der Platz von der Kathedrale "Santisima Trinidad" begrenzt, einem ebenfalls repräsentativen Bau, der den einstigen Wohlstand der Stadt widerspiegelt. Wir statten dieser Kirche einen Besuch ab - und erfahren bei dieser Gelegenheit, dass es am folgenden Tag, dem Karfreitag, eine Prozession durch die Stadt geben wird. Die einzige Karfreitagsprozession im ganzen Land.
 
Als wir am nächsten Vormittag ein Museum besuchen wollen, stehen wir vor verschlossenen Türen. Wegen Karfreitag, sagt man uns, seit drei Jahren sei dieser Tag auf Kuba ein gesetzlicher Feiertag. Wir sind überrascht, schließlich befinden wir uns in einem Land, dessen herrschende Partei noch immer das Wort "kommunistisch" im Namen führt. Allerdings wurde der einst per Verfassung verordnete Atheismus bereits Anfang der 1990er Jahre abgeschafft, und seither feiert der Pragmatismus gegenüber der katholischen Kirche - die Mehrheit der religiösen Kubaner sind Katholiken - Triumphe. Bereits zwei Päpste haben dem Inselstaat einen Besuch abgestattet, ein dritter von Papst Franziskus steht unmittelbar bevor. Überdies haben sowohl Fidel Castro als auch sein Bruder Raúl dem Vatikan bereits ihre Aufwartung gemacht, und wenn es momentan eine Annäherung zwischen den USA und Kuba gibt, so ist diese nicht zuletzt dem Engagement von Papst Franziskus zu verdanken. Bei seinem Besuch in Rom im Mai 2015 hat Raúl Castro sich ausdrücklich dafür bedankt. Und er hat Scherze gemacht: "Wenn der Papst weiter so redet", sagte er auf einer Pressekonferenz, "dann fange ich früher oder später wieder an zu beten und trete wieder der katholischen Kirche bei." Und mit einem Verweis darauf, dass er in seiner Kindheit eine Jesuitenschule besucht hat: "Ich habe ihm gesagt: Ich habe mehr Messen gehört als Sie."
 
 
Gehen wir mal davon aus, dass der erste Mann Kubas wohl eher nicht der katholischen Kirche beitreten wird und die Differenzen zwischen dem Staat und der Kirche andauern werden - Fakt ist auf jeden Fall, dass der Karfreitag auf Kuba heute ein offizieller Feiertag ist und dass er in Trinidad mit einer Prozession begangen wird. Mit einer Prozession, die mitzuerleben wir auf unserer Reise das Glück haben. Natürlich sind wir rechtzeitig vor Ort. Mehrere tausend Menschen haben sich bereits vor der Kathedrale eingefunden, und aus den umliegenden Gassen strömen ständig weitere hinzu. Hatte Marx die Religion einst als Opium für das Volk bezeichnet, so scheint das hier versammelte Volk dieses Opium in vollen Zügen zu genießen. Als die Prozession beginnt, geht ein Ruck durch die Menge. Köpfe recken sich, Kinder werden auf Schultern gehoben und hier und da murmeln Zuschauer leise Gebete, als Maria auf einem Gestell aus der Kirche getragen wird. Zahllose Handys sorgen für eine stimmungsvolle Beleuchtung - die moderne Variante der einstigen Kerzen -, und verfolgt von tausenden Augen tritt die Muttergottes ihre Tour durch den Ort an. Ihr aufgebahrter Sohn folgt ihr auf einem weiteren Gestell, dahinter reihen sich zahlreiche Gläubige ein und geben den beiden das Geleit. Die übrigen harren derweil geduldig vor der Kathedrale aus, zerstreuen sich vorübergehend oder genehmigen sich wie wir in einem der umliegenden Lokale eine weitere Piña Colada. Unterdessen hat sich Dunkelheit über die Stadt gesenkt, und als hätte das örtliche Tourismusbüro das Ereignis noch aufpeppen wollen, steht der volle Mond am abendlichen Himmel. Mehr als eine Stunde vergeht, schließlich taucht die Prozession aus der entgegengesetzten Richtung wieder auf, und Maria und Jesus werden zurück in die Kirche getragen. Nicht nur für die Gläubigen eine beeindruckende Atmosphäre. Noch zwei Tage bis zur Feier der Wiederauferstehung, gewiss mit einem Ostergottesdienst, der alle Register ziehen wird. Doch wenn der stattfindet, werden wir längst wieder unterwegs sein. Adiós, Trinidad - unsere Tour über die Insel geht weiter.
 
Manfred Lentz (September 2015)
 
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