Auf dem Zuckerhut
Wie gut, dass wir da waren! Rio de Janeiro 2014
 
Der Berg besteht aus gneisartigem Granit, der vor etwa 560 Millionen Jahren als flüssiges Magma aus dem Erdinneren aufstieg. Die Masse hatte die Form einer seitlich zusammengepressten Glocke, die sich noch verstärkte, als äußere Gesteinsschichten wie Zwiebelschalen abplatzten. Nachdem der Berg geologisch zur Ruhe gekommen war, brachte er es auf eine Höhe von 395 Metern. Seine Wände fielen auf allen Seiten steil ab, und wegen dieser Form gaben ihm die Portugiesen den Namen Pao de Acucar, was so viel bedeutet wie Zuckerbrot. Bei uns ist er unter dem Namen Zuckerhut bekannt. Wie der gegenüberliegende Berg Corcovado, auf dem sich die große Christusstatue befindet, ist er eines der Wahrzeichen von Rio.
 
Eines, das man bei einem Besuch in der Stadt unbedingt sehen muss?
 
Es ist diese Frage, die wir uns am vierten Tag unseres Aufenthalts stellen. Auf den ersten Blick mag sie Desinteresse verraten oder einfach nur dumm klingen, allerdings hat sie für uns einen ganz realen Hintergrund. Gerade mal eine Woche dauert unser Besuch in Rio. Er ist ein Anhängsel unserer Reise mit einem Containerschiff von Hamburg nach Santos, die wir mit dieser Rio-Woche abrunden wollen. Ein Besuch nach dem Motto also: Wenn wir schon mal in dieser Gegend sind ... Eine Woche ist für solch eine Stadt eine verdammt kurze Zeit. Ein Tag am weltberühmten Strand von Copacabana, ein weiterer am nicht weniger berühmten von Ipanema (der mit dem "Girl from Ipanema"), am Vortag dann ein Ausflug auf den Corcovado mit der Statue Cristo Redentor (Christus der Erlöser), und nun - am vierten Tag - also die Frage, was wir uns in der verbleibenden Zeit noch ansehen wollen. Eine von mehreren Optionen ist der Zuckerhut, ein Top-Highlight und in der Vergangenheit nicht nur das Ziel unzähliger "gewöhnlicher" Touristen, sondern ebenso etlicher Prominenter wie Albert Einstein, John F. Kennedy und Papst Johannes Paul II. Nicht zu vergessen James Bond, der sich in dem Film "Moonraker - Streng geheim" an der Seilbahn auf den Zuckerhut eine spektakuläre Verfolgungsjagd mit dem "Beißer" liefert. Ohne Zweifel ist der Berg ein lohnenswertes Ziel mit einer tollen Aussicht vom Gipfel, aber so etwas hatten wir bereits mit dem Corcovado ... Eine Weile schwanken wir, entscheiden uns dann aber doch für diese Option und nehmen also an unserem vierten Rio-Tag den Zuckerhut in Angriff.
 
 
Wir nähern uns ihm zu Fuß durch einen Tunnel unter einem jener Granitberge, die das Erscheinungsbild der Sechsmillionenstadt wesentlich prägen. Kurz nach dem Verlassen des Tunnels erblicken wir den Pao de Acucar vor uns, der steil in den Himmel ragt. So steil, dass wir uns fragen, wie es möglich war, ihn mit einer Seilbahn zu bezwingen. Lange Zeit galt er den Cariocas - so heißen die Einwohner von Rio - als ein mystischer Berg, und niemand wäre auf den Gedanken gekommen, ihn überhaupt bezwingen zu wollen. Doch im Jahr 1817 änderte sich das. Ausgerechnet ein britisches Kindermädchen war es, das den Berg mit der markanten Form nicht von seiner mystischen Seite sah, sondern als eine Herausforderung, und dem als erstem Mensch der Aufstieg gelang. Was die damaligen Kolonialherren, die Portugiesen, nicht auf sich sitzen lassen wollten, weshalb - so berichtet es jedenfalls die Legende - schon am nächsten Tag einer ihrer Soldaten ebenfalls auf den Zuckerhut kletterte und die britische Flagge, die das Kindermädchen aufgepflanzt hatte, durch die Flagge des "Vereinigten Königreichs von Portugal, Brasilien und den Algarven" ersetzte. Danach überließ man den Berg erst einmal wieder sich selbst.
Wir erreichen die Talstation der Seilbahn und bezahlen den Preis für die Auffahrt. 62 Reais sind das pro Person, umgerechnet 18 Euro, aber da wir beide die 60 überschritten haben und Über-60-Jährige in staatlichen Einrichtungen in Rio meist nur die Hälfte zahlen, kommen wir relativ preiswert davon. Die Auffahrt erfolgt in zwei Etappen mit Umsteigen auf einem vorgelagerten Berg. 65 Personen fassen die rundum verglasten Gondeln, mit 22 bzw. 31 Stundenkilometern erreichen sie in 15 Minuten den Gipfel. Bei der Vorgänger-Seilbahn von 1913 - ebenfalls freischwebend wie die heutige - ging es noch um Einiges beschaulicher zu. Sie wurde gebaut, nachdem ein kühner Ingenieur den Plan dafür vorgelegt hatte und mit einer deutschen Firma aus Köln ein Unternehmen gefunden war, das sich auf dieses Projekt einlassen wollte. Auf dieses "verrückte Projekt", als das es vielen Zeitgenossen erschien, denn die technischen Herausforderungen für eine solche Seilbahn waren unter den damaligen Voraussetzungen gewaltig. Dennoch gelang das Vorhaben, und im Oktober 1912 wurde das untere Teilstück von der Talstation auf den Vorberg eingeweiht. Rund 600 Gäste nahmen an dem Festakt teil, die man zuvor mühevoll nach oben geschafft hatte - mit einer hölzernen Gondel, in der gerade einmal 22 Personen Platz fanden und die eine Geschwindigkeit von schlappen sieben Stundenkilometern erreichte. Wenige Monate später gelang der Vorstoß auf den Gipfel, und von da an ging es mit der Seilbahn buchstäblich bergauf. Immer mehr Menschen wollten den Blick von ganz oben genießen, Einheimische zunächst, aber bald auch Besucher aus aller Welt, die der aufkommende Massentourismus in die stark wachsende brasilianische Metropole führte. 1972 wurde die neue Seilbahn fertiggestellt, die in derselben Zeit zehn Mal so viele Fahrgäste zu transportieren vermag wie die alte. Inzwischen beläuft sich deren Gesamtzahl auf 40 Millionen. Tendenz: steigend.
 
 
An der Bergstation verlassen wir die Gondel, und kaum haben wir die Plattform betreten und schauen auf die Stadt, da wissen wir, welch große Dummheit wir mit unserem ursprünglichen Zögern um ein Haar begangen hätten. Wieder ein Ausblick auf eine unvergleichliche Kulisse, ein anderer natürlich als von der Christusstatue, aber ebenfalls überwältigend! Es ist, als blickten wir auf ein von einem großen Meister entworfenes Gemälde - eine Komposition aus blauem Meer, weißen Sandstränden und grünen Hügeln, zwischen die sich die Stadt schmiegt. Dazu der Christus vom Corcovado, der trotz des nicht optimalen Wetters gut zu erkennen ist. Auf einer Landzunge nahe dem Stadtzentrum entdecken wir den Flughafen Santos-Dumont, den kleineren der beiden Flughäfen von Rio, der unter Piloten als einer der schwierigsten weltweit gilt. Wegen des nur vier Kilometer von der Landebahn entfernten Zuckerhuts ist ein Standard-Anflug hier nicht möglich. Stattdessen fliegen die Piloten zunächst auf den Berg zu und wechseln dann mit einer Linkskurve von 180 Grad die Richtung, bevor sie nur wenige Sekunden später auf der wegen des Wassers ringsum äußerst knapp bemessenen Landebahn aufsetzen.
 
Wesentlich ruhiger und entspannter als auf dem stark frequentierten Gipfel ist es auf dem Vorberg. Auch wenn er niedriger ist, bietet er noch immer eine großartige Aussicht. Neben Kiosken und Restaurants, Andenkenläden und Boutiquen wirbt ein kleines Museum zur Geschichte des Zuckerhuts um Besucher, an manchen Tagen finden Konzerte statt, gewiss ein beeindruckender Event. Auch für uns hält der Berg noch ein nettes Erlebnis bereit, etliche Weißbüschel-Äffchen, die unvermittelt auftauchen und sofort jedermanns Blicke auf sich ziehen. Vermutlich sind es Ausrufe wie "Oh, wie niedlich!" und "Ach, sind die süß!", die in einem mehrsprachigen Chor auf die Tierchen herabprasseln, die sich in ihrer Rolle als Fotomotive ganz offensichtlich wohlfühlen. Als putzig und sehr fotogen empfinden auch wir sie, und so vergehen mehrere Stunden zwischen Äffchen, wunderbar blühenden Pflanzen und vor allem dem einzigartigen Ausblick, bis wir den Zuckerhut wieder verlassen. Und während uns die Seilbahn nach unten befördert, denken wir den Gedanken nun schon zum x-ten Mal: Wie gut, dass wir da waren!
 
Manfred Lentz (Dezember 2015)
 

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