Ätzend langweilig?
18 Tage auf einem Containerschiff. 2014
(Teil 2)
 
(Bekannte und Freunde hatten uns gewarnt, die Reise auf dem Containerschiff "Cap San Lorenzo" könne uns langweilig werden. In Teil 1 habe ich unsere Erfahrungen am Beginn der Reise beschrieben, von der Einschiffung in Hamburg bis zu den Stopps in Antwerpen und Le Havre.)
 
Ausfahrt aus Le Havre am fünften Tag unserer Reise, danach geht es hinaus aufs offene Meer. Von nun an liegen 12 Tage Wasser vor uns. Was wir in der Schule einst staunend zur Kenntnis nahmen, dass es auf der Erde nämlich weit mehr Wasser als Land gibt, das werden wir nun ganz konkret erfahren. 12 Tage à 24 Stunden, eine lange Zeit, und dabei ist dieses riesige Meer nur ein Teil der unermesslichen Wasserwüste auf unserem Planeten. Land gibt es jetzt nur noch einmal, die Insel Madeira in einigen Kilometern - pardon: Seemeilen - Entfernung. Dass Madeira keine unbewohnte Insel ist, weiß jeder, vor allem aber wissen es die Mitglieder der Crew, von denen etliche während der Vorbeifahrt ausdauernd an ihren Handys hängen. Funkmasten als Verbindung in die Heimat, die mit abnehmender Signalstärke allerdings bald wieder in weite Ferne rückt. Das nächste Land wird Brasilien sein, die einzigen zivilisatorischen Spuren bis dahin die wenigen Schiffe, denen wir unterwegs begegnen werden. Einstweilen vorbei sind die Tage, an denen das Einlaufen in die Häfen, das Löschen und Laden und das Auslaufen unseren Rhythmus bestimmten. Von nun an gibt es andere Zäsuren, weniger für die Mannschaft, für die vor allem ihr Arbeitsplan den Takt vorgibt, wohl aber für uns: das Essen.
 
 
Die Zeiten für die Mahlzeiten sind rigide: Frühstück um 7.30 Uhr, Mittagessen um 12 Uhr, fünf Stunden später das Abendbrot. Zeiten, die mich an einen Krankenhausaufenthalt erinnern, bei dem man sich ebenfalls rücksichtslos über meine biologische Nachteulen-Uhr hinweggesetzt hatte. Das Zeitfenster für eine Mahlzeit beträgt jeweils eine Stunde, innerhalb derer jeder kommen und gehen kann, wie es in seinen persönlichen Arbeitsrhythmus passt. Und wie schmeckt unser Essen? Auch hier gilt wieder, dass wir uns auf einem Containerschiff befinden und nicht auf einem Kreuzfahrt-Luxusliner mit Sterneköchen und Restaurantpersonal, das mit perfektem Service und ambitionierten Tischdekorationen auf Höchstleistungen zielt. Bei uns wird der Tisch ganz einfach nur "gedeckt" (mit Tee als Getränk), und was die Qualität der Speisen anbelangt, so lässt sich vor allem eines über sie sagen: sie machen satt. Was nicht zuletzt daran liegt, dass unser Koch nicht mit Königsberger Klopsen, Sahnehering nach Hausfrauenart und Kassler mit Sauerkraut aufgewachsen ist wie wir, denn er stammt aus Kiribati.
 
Aus Kiribati?
 
Irgendwie waren wir immer davon ausgegangen, dass wir von jedem Staat auf der Erde wenigstens schon einmal den Namen gehört hätten, doch offensichtlich war diese Annahme ein Irrtum. Und dabei ist Kiribati von der Ausdehnung her einer der größten Staaten, die es gibt, was das Rätsel noch rätselhafter macht. Die Auflösung ist einfach: Kiribati besteht aus einer Vielzahl von weit auseinander gelegenen Inseln und Inselchen, die alle nur knapp über dem Meeresspiegel liegen. Die "noch" knapp über dem Meeresspiegel liegen, könnte man auch formulieren, ist doch davon auszugehen, dass sie als Folge von dessen Anstieg bis zum Jahr 2060 alle verschwunden sein werden. Ein Zyniker würde jetzt vielleicht anmerken, dass man sich den Namen dieses Staates dann auch nicht mehr zu merken bräuchte. Aber noch ist er da und mit ihm rund 100.000 Menschen, die dort nicht einfach nur leben, sondern für die er die Heimat ist. Und wo liegt er nun, um die Frage endlich zu beantworten? Im Pazifik, in Mikronesien, etwa auf halber Strecke zwischen Australien und Hawaii. Die meisten Kiribati (die Einwohner tragen denselben Namen wie das Land) verdienen ihren Lebensunterhalt mit dem Anbau von Kokosnüssen und dem Fischfang, doch ein erheblicher Teil fährt zur See. Und aus diesem Land stammt nun also unser Koch, außerdem der Steward sowie der überwiegende Teil der Decksmannschaft. Freundliche Menschen, mit denen wir drei Passagiere allerdings selten zu tun haben, da wir anders als die Decksleute unsere Mahlzeiten (bei gleichem Essen) in der Offiziersmesse einnehmen. An dem Tisch mit den drei wichtigsten Personen an Bord: dem Kapitän, dem Ersten Offizier und dem Chief Engineer, dem Zuständigen für die Maschine. Alle drei sind Ukrainer. Die restlichen Angehörigen der Crew stammen von den Philippinen, aus Kroatien, Polen (darunter eine Frau) und Äthiopien. Aus Deutschland kommen lediglich der Zweite Offizier und zwei Azubis. Außerdem wir Passagiere. Echtes Multikulti also, insgesamt 29 Personen.
29 Menschen, die während der Fahrt auf engstem Raum zusammengesperrt sind? Kommt drauf an, wie man den "engsten Raum" definiert. Die "Cap San Lorenzo" misst 333 Meter in der Länge, 48 Meter in der Breite, und ihre größte Höhe beläuft sich auf 68 Meter, was etwa einem zwanzigstöckigen Haus entspricht. Dimensionen, bei denen man sich keineswegs ständig über den Weg läuft. Alle 29 zusammen erleben wir das erste Mal an dem Tag, an dem eine Rettungsübung angesetzt ist, danach nur noch einmal bei einem gemeinsamen Barbecue. Apropos Rettungsübung - dass alles, was mit dem Thema Sicherheit zu tun hat, auf diesem Schiff eine große Rolle spielt, merken wir gleich am zweiten Tag unserer Reise, als einer der beiden Azubis uns mit den Sicherheitseinrichtungen an Bord vertraut macht. Rettungsboote und Rettungsinseln, Feuerlöscher, Alarmsignale und Rettungswesten sowie nicht zuletzt - und hier wird es sogar noch lustig - die Überlebensanzüge.
 
Karin wird dazu ausersehen, einen dieser Anzüge anzuprobieren. Die Aufgabe von uns anderen, die wir ihr dabei zusehen, besteht darin zu lachen. Und dabei ist das, was ihr nach dem mühsamen Hineinschlüpfen das Aussehen eines Teletubbies verleiht, eine geniale und im Notfall womöglich lebensrettende Sache. Länger als eine Stunde, erklärt uns der Azubi, bleibe die Körpertemperatur in kaltem Wasser konstant, erst danach sinke sie allmählich, was über die nächsten fünf Stunden für den Körper aber noch zu verkraften sei. "Im Ernstfall", fügt er hinzu, "springen Sie mit den Beinen zuerst ins Wasser. Bei einem Kopfsprung würde die Luft nach oben steigen, in diesem Fall also in die Beine, und Sie würden den Kopf nicht mehr aus dem Wasser bekommen." Gut zu wissen. Allerdings werden wir den Überlebensanzug auf dieser Reise glücklicherweise ebenso wenig brauchen wie die Rettungsweste, die noch über dem Anzug getragen werden muss und deren Halskrause den Kopf über Wasser halten soll. Pfiffig, so eine Rettungsweste, sagen wir uns, und weil wir Zeit haben und die Sache allem Ernst zum Trotz durchaus auch Spaß macht, probieren wir die Dinger in der Kabine gleich noch einmal aus. Eine ganze halbe Stunde brauchen wir für das Anlegen, voller kurioser Verrenkungen, die irgendwie an die alten Dick-und-Doof-Filme erinnern und uns ein um das andere Mal Lachtränen in die Augen treiben. Und dabei ist das Anlegen der Rettungswesten kinderleicht, wenn man es richtig macht. Tja, wenn ...
 
Ätzend langweilig, liebe Freunde und Bekannte? Nicht die Bohne!
 
 
Einige Tage später scheucht uns das Heulen einer Sirene auf, 7 mal kurz und 1 mal lang, verbunden mit einer Lautsprecherdurchsage des Kapitäns. Da man uns vorher instruiert hat, wissen wir, was wir zu tun haben. Eilig - schließlich sinkt unser Schiff ja gerade - finden wir uns bei einem der beiden Rettungsboote ein, legen unsere Rettungswesten an (die Überlebensanzüge bleiben zum Glück außen vor), klettern in das Boot (auf "Frauen und Kinder zuerst!" können wir bei drei Frauen und Null Kindern verzichten), schnallen uns an - und beginnen augenblicklich zu schwitzen. Kein Rettungsboot wie das in Camerons Blockbuster "Titanic", in dem Rose nach dem Tod ihres geliebten Jack gerettet wird - unser Boot ist eine moderne Ausführung, was bedeutet, dass es rundum geschlossen ist. Platzmäßig ist es für 15 Personen ausgelegt, notfalls könnte es aber auch die gesamte Besatzung der "Cap San Lorenzo" aufnehmen, sollte das andere Boot aus irgendwelchen Gründen nicht benutzbar sein. Der Reihe nach muss jeder Insasse dem für die Sicherheit zuständigen Offizier seine Aufgabe in einem Notfall beschreiben (in der Bordsprache Englisch) und diese gegebenenfalls auch demonstrieren. Lediglich wir Passagiere sind aus dem Schneider, wir dürfen zuschauen und das Geschehen im Bild festhalten. Und stöhnen dürfen wir - bei dem Gedanken an den möglichen Ernstfall, wenn Essen und Trinken auf das absolut Lebensnotwendige reduziert wären, wobei die Frist, für die die Vorräte vorgesehen sind, sich auf zwei Wochen beläuft. Nichts von wegen Seemannsromantik in einem solchen Fall, stattdessen 15 hungrige, dürstende, zunehmend stinkende, übelgelaunte und in schwerem Sturm womöglich anhaltend vor sich hin spuckende Schiffbrüchige auf endloser See. Eine düstere Perspektive, auch wenn man wenigstens - vorausgesetzt natürlich, es naht Rettung - nicht den Seemannstod stirbt. Neptun sei Dank gibt es solche Notfälle nur selten, aber dennoch machen regelmäßige Übungen für den Ernstfall auf jeden Fall einen Sinn. Ebenso wie auch die anschließende Feuerwehrübung, an der wir zwar nicht persönlich beteiligt sind, bei der wir aber zuschauen dürfen, wie die Crew profimäßig ihre Profi-Monturen anlegt und mit Profi-Equipment einen fiktiven Brandherd unter Kontrolle bringt. Im Ernstfall ein harter Job, bei dem die Männer im Unterschied zu ihren brandbekämpfenden Kollegen an Land ganz auf sich allein angewiesen wären. In einer Hinsicht hätten sie es allerdings wesentlich besser als diese: Über genügend Löschwasser bräuchten sie sich keine Sorgen zu machen.
 
(Wird fortgesetzt)
Manfred Lentz (Januar 2016)
 

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