Katla, Eyjafjallajökull & Co.
Island ist ein Land der Vulkane. 2016
 
Ein Mann ohne Angst. Anfang September haben wir ihn getroffen. Seinen Namen kennen wir nicht, nennen wir ihn Sigurdvar Thorson. Das ist ein isländischer Name, denn auf Island sind wir ihm begegnet, im Skogar Folk Museum an der Südküste der Insel. Es ist ein liebevoll gestaltetes Museum, in dem die Besucher erfahren, wie die Vorfahren der heutigen Isländer einst lebten. Nachdem wir alles angeschaut haben, kommen wir mit Sigurdvar Thorson ins Gespräch, er ist ein Mitarbeiter des Hauses. Wir sprechen über dies und das (auf Englisch, denn unser Isländisch geht über das "Uuh!" der isländischen Fußballmannschaft bei der WM nicht hinaus), und irgendwann fragen wir ihn, wie es sich so dicht bei dem Vulkan lebe, der demnächst auszubrechen drohe. Der Vulkan ist der Katla, und das "demnächst" bezieht sich auf die aktuellen Spekulationen der Presse über eine möglicherweise schon bald bevorstehende Eruption. Sigurdvar Thorson schaut uns an, als hätten wir ihn nach etwas völlig Exotischem gefragt. Ein Ausbruch des Katla? Nein, darüber mache er sich keine Gedanken. Nicht im geringsten. Natürlich könne das passieren, aber Island sei auf ein solches Ereignis bestens vorbereitet, die Regierung habe Notfallpläne für alle Eventualitäten in der Schublade. Schlaflose Nächte wegen des Katla habe er also nicht. Wir sind überrascht - eine tickende Zeitbombe nur wenige Kilometer entfernt, und er gibt sich, als stünde sein Museum neben Disneyland. An diesem Abend übernachten wir in einem Hotel in Vik, nicht weit von dem Museum entfernt, und obwohl alles ruhig ist, können wir den Gedanken an den schlafenden Riesen nicht verdrängen. Und wenn er nun ausbricht, während wir in seiner unmittelbaren Nähe sind?
 
 
Der Katla ist nicht ausgebrochen. Nicht in dieser Nacht in Vik, nicht an den folgenden Tagen während unserer Rundfahrt über die Insel, und nicht in den fünf Wochen seit unserer Rückkehr nach Deutschland. Allerdings waren beinahe jeden Tag Meldungen über ihn in den Medien. Von "Schwarmbeben" war da die Rede, tausend kleinen Erdbeben an einem Tag; von einem Verbot touristischer Rundflüge über ihm; von Aufrufen der Polizei an die Bewohner der Gegend, ihre Handys Tag und Nacht eingeschaltet zu lassen, um jederzeit per SMS erreichbar zu sein; von Konferenzen in Reykjavik, auf denen Politiker von Fachleuten über die aktuelle Lage an dem Sorgenberg informiert wurden. Wie ein Patient auf der Intensivstation wird der Katla überwacht. Messstationen erfassen jede Regung, Sensoren horchen in sein Inneres und melden in Echtzeit die geringste Veränderung. Gleich mehrere Indikatoren sprechen für eine bevorstehende Eruption, und sollte es dazu kommen, so dürfte dieser Ausbruch des Katla den seines sehr viel kleineren Nachbarn vor einigen Jahren in den Schatten stellen. Jenes Nachbarn mit dem für Nichtisländer kaum aussprechbaren Namen Eyjafjallajökull, der 2010 aktiv wurde und der trotz seiner relativ geringen Größe den gesamten Flugverkehr auf der Nordhalbkugel für eine Woche in Mitleidenschaft gezogen hat. Millionen gestrandeter Passagiere, für die Fluggesellschaften Verluste in Milliardenhöhe. Und das alles wegen dieses nur "kleinen" Vulkans.
 
Am Tag vor unserem Museumsbesuch haben wir den Katla in einiger Entfernung von der Straße gesehen. Oder um korrekt zu sein: nicht den Vulkan selbst, sondern den über ihm liegenden Gletscher. Den Myrdalsjökull. Ein Panzer aus Eis mit einer Dicke zwischen 200 und 700 Metern. Bricht der Katla aus, wird er diesen Gletscher wegsprengen, das Eis wird sich in Wasser verwandeln und alles wegschwemmen, was sich ihm in den Weg stellt. (Beim letzten großen Ausbruch des Katla im Jahr 1918 flossen pro Sekunde bis zu 200.000 Kubikmeter Schmelzwasser ab!). Hinzu kommt die Lava, das geschmolzene Gestein aus dem Inneren der Erde; die Asche, die durch die Wucht der Explosion kilometerhoch in die Atmosphäre gelangen wird sowie jede Menge giftiger Gase, giftig für Pflanzen und Tiere und ebenso für die Menschen. Alles wie 2010 beim Eyjafjallajökull, nur in weit größeren Dimensionen.
Ortswechsel. Wir haben den Katla hinter uns gelassen und sind weiter auf der Ringstraße unterwegs, die einmal um die gesamte Insel führt. Vor uns, aber noch viele Kilometer entfernt, liegt der Vatnajökull, der größte Gletscher Europas. Bis zu 1000 Meter dick ist seine Eisdecke. Irgendwann verändert sich die Landschaft, mit unzähligen großen Steinen bedeckte Flächen ziehen sich zu beiden Seiten der Straße entlang, alle sattgrün mit Moos überwachsen, was der Landschaft einen beinahe unwirklichen Charakter verleiht. Schließlich ein Aussichtspunkt, von dem wir einen weiten Blick über die bemoosten Steine bis zu dem Gletscher haben. Hinweistafeln informieren über die Gegend, außerdem weisen sie auf etwas Sehenswertes in einiger Entfernung hin: die Laki-Krater. Sie zu erkunden, fehlt uns leider die Zeit, in 12 Tagen Island kann man halt nicht alles machen, weshalb wir uns notgedrungen mit der Tafel zufriedengeben. Sie berichtet von der "Laki-Katastrophe", einem Ereignis, das am Pfingstsonntag des Jahres 1783 begann und erst ein Jahr später sein Ende fand. Auf einer Lände von 27 Kilometern riss damals die Erde auf, und kaum vorstellbare 15 Kubikkilometer glühende Lava ergossen sich monatelang über das Land. Auch in diesem Fall gelangten Asche und gewaltige Mengen giftiger Gase in die Atmosphäre und wurden von den Winden über weite Teile der Erde verteilt, wodurch sich die Sonneneinstrahlung in zahlreichen Ländern stark reduzierte. Missernten waren die Folge, die wiederum zu Hungersnöten führten - in Island, auf dem europäischen Festland, ja selbst noch im weit entfernten Japan fand eine Million Menschen den Tod. Ein Massensterben aufgrund vulkanischer Aktivitäten in Island, wobei die Betroffenen diesen Zusammenhang natürlich nicht ahnten.
 
Mehr als 130 Vulkane gibt es auf Island, von denen 18 in historischer Zeit aktiv waren. Auf etwa 30 beläuft sich die Zahl der heute potentiell aktiven Vulkane. Der Grund für die Konzentration einer solch großen Zahl auf einer verhältnismäßig kleinen Fläche ist Islands Lage. Gehört das Land politisch gesehen auch zu Europa, so sieht das unter geologischen Gesichtspunkten anders aus. Zwei Kontinentalplatten treffen hier aufeinander, die nordamerikanische und die eurasische, wobei die Nahtlinie mitten durch die Insel geht, mit einer Fortsetzung im Meer im sogenannten Mittelatlantischen Gebirgsrücken. Unter dieser Nahtlinie ist die Erde in ständiger Bewegung. Eine gewaltige Magma-Blase steigt aus dem oberen Erdmantel auf und wölbt die Erdkruste nach oben. Die Folge ist vulkanische Aktivität, außerdem rücken beide Kontinentalplatten permanent auseinander, jedes Jahr um etwa zwei Zentimeter. Wenn Island dabei nicht zerbricht, dann deshalb, weil aufsteigendes Magma die beiden Teile wie Kitt zusammenhält. Zwei Zentimeter im Jahr - viel zu wenig natürlich, als dass man es sehen könnte, aber über einen längeren Zeitraum wird das Auseinanderrücken durchaus erkennbar. Gut beobachten lässt sich das in Thingvellir, einem Ort nicht weit von der Hauptstadt Reykjavik entfernt, der zusammen mit dem Gullfoss-Wasserfall und dem Geysir Strokkur (über beide werde ich noch berichten) auf der von Touristen stark frequentierten "Golden Circle"-Route liegt. Natürlich machen auch wir in Thingvellir Halt, und wie alle anderen wandern wir durch die Bruchspalte in die Ebene hinunter, die sich mit einem See und viel Grün malerisch bis zu den Bergen am Horizont erstreckt. Ein beeindruckender Ort, auch wenn man das Auseinanderdriften der Kontinentalplatten lediglich mit Hilfe des Verstandes nachvollziehen kann. Thingvellir ist im übrigen auch noch aus einem anderen Grund einen Besuch wert: Für die Isländer vor 1000 Jahren war dies der Ort, an dem einmal im Jahr Männer aus allen Teilen der Insel zusammentrafen, um sich Gesetze zu geben und Recht zu sprechen. Eine Volksversammlung also und eine frühe Form von Demokratie. Sehr viel später, im Jahr 1944, wurde an dieser Stelle die Republik Island ausgerufen.
 
 
Ein Mann ohne Angst, habe ich eingangs geschrieben. Auch eine Bevölkerung ohne Angst? Es scheint so, denn wäre es anders, könnte man in unserem Zeitalter hoher Mobilität sinkende Einwohnerzahlen erwarten. Das Gegenteil ist der Fall, die Bevölkerung auf der Vulkaninsel nimmt ständig zu. Isländer haben offensichtlich gelernt, mit der Gefahr zu leben. Mit Vulkanausbrüchen im Durchschnitt alle fünf Jahre, nach denen die Betroffenen alles oder zumindest vieles wiederaufbauen müssen. Auch nach dem Ausbruch des Eyjafjallajökull vor sechs Jahren haben sie wieder angepackt, und wenn man heute durch diese Gegend reist und nichts von den damaligen Ereignissen wüsste - dem Niedergang gewaltiger Aschemengen, der ganze Landstriche bedeckte und den Zerstörungen durch das Gletscherwasser -, als unbedarfter Tourist würde man nichts mehr davon bemerken. Und deshalb dürfte auch der erwartete Ausbruch des Katla nur ein weiteres Ereignis in einer langen Reihe gleichartiger Ereignisse sein, die die Menschen auf der Insel heimgesucht haben, seit die Wikinger sie vor 1000 Jahren besiedelten.
 
Ein Ausbruch des Katla? Oder vielleicht auch der Katla, denn immer wieder wird der Name dieses Vulkans auch in einer weiblichen Form benutzt. Und das nicht zu Unrecht. Island wäre nicht das Land der Naturgeister, der Trolle und Elfen, würde sich hinter diesem Vulkan nicht auch etwas Naturhaftes verbergen. Bedeutet der Name Katla in der "nüchternen Welt" einfach nur "Kessel", so hat eine Legende eine andere Erklärung: In der Nähe des Vulkans, so heißt es, lebte einst ein Mädchen namens Katla, das besaß eine Hose, in der sie beim Laufen niemals müde wurde. Eines Tages fand ein junger Hirte nicht alle Schafe wieder, die sein Herr ihm zum Weiden anvertraut hatte. Da er dessen Zorn fürchtete, beschloss er, Katla die wundersame Hose zu stehlen und mit ihrer Hilfe die verlorenen Tiere zu finden. Katla aber bemerkte diesen Diebstahl und tötete den Hirten. Als ihre böse Tat entdeckt wurde, floh sie mit der Hose in den Krater hinein und wurde nie mehr gesehen. Noch heute spürt man ihre gewaltigen Kräfte, wenn sie Feuer und Wasser über dem Land ausschüttet.
 
Manfred Lentz (Oktober 2016)
 
 
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