Vulcano
Der Vulkan, der einfach nur "Vulkan" heißt. Italien 2016
 
Es stinkt. Gerade sind wir mit einem dieser schnellen Tragflächenboote auf der Insel Vulcano angekommen, wir stehen an der Anlegestelle, warten auf den Shuttle zu unserem Hotel und rümpfen dabei die Nase, denn es stinkt. Nach faulen Eiern, oder um es korrekt zu sagen: nach Schwefelwasserstoff. Auch die anderen Neuankömmlinge auf der Insel schnuppern suchend in alle Richtungen, nicht so hingegen die Einheimischen, offenbar sind die an den Gestank bereits gewöhnt. Eine Weile müssen wir ihn ertragen, dann erscheint das erwartete Auto. Wir steigen ein und schließen erleichtert die Türen. "La vasca di fanghi", sagt der Fahrer, als wir gleich darauf eine Badestelle mit schlammbraunem Wasser passieren. Ist das die Badestelle, von der wir in unserem Reiseführer gelesen haben? Und hat der Gestank womöglich mit ihr zu tun? Wir wollen uns bei unserem Fahrer erkundigen, aber schon zieht anderes unsere Aufmerksamkeit auf sich, also stellen wir die Frage erst einmal zurück.
 
Vulcano gehört zu den Liparischen oder Äolischen Inseln, einer Gruppe von sieben Inseln vor der Nordküste Siziliens, wobei Vulcano Sizilien am nächsten ist. Eine andere Insel ist Stromboli, der wir in den nächsten Tagen einen Besuch abstatten werden. Vulcano ist die drittgrößte der Gruppe, wobei das Wort "größte" relativ ist: Gerade einmal 21 Quadratkilometer misst die Insel, die Zahl ihrer Einwohner beträgt weniger als 900. Hinzu kommen allerdings jede Menge Touristen, die meisten davon Tagesbesucher, die von Sizilien aus oder von den Nachbarinseln einen Ausflug machen und hier lediglich ein paar Stunden verbringen. Zur Zeit unserer Reise, im Mai, ist ihre Zahl noch gering, aber das wird sich unserem Fahrer zufolge bald ändern. Schon in wenigen Wochen wird das Gedrängel auf diesem kleinen Eiland ganz erheblich sein.
 
 
Für eine Reise nach Vulcano gibt es unterschiedliche Gründe, der Hauptgrund dürfte jedoch der Vulkan sein. Wie heißt der eigentlich? überlegen wir, als wir uns Gedanken über seine für den nächsten Tag geplante Besteigung machen. Wie es scheint, haben wir den Namen in unserem Reiseführer überlesen, deshalb schlagen wir noch einmal nach. Doch siehe da: Dieser Vulkan heißt nicht soundso, sondern ganz einfach "Vulcano", was nichts anderes als das italienische Wort für Vulkan ist. Ein Vulkan also, der Vulkan heißt? Wir sind verwirrt, aber natürlich hält unser Reiseführer eine Erklärung für diese Merkwürdigkeit bereit: Der griechischen Mythologie zufolge befand sich in dem Berg auf der Insel die Werkstatt des Feuergottes Hephaistos, der die Waffen der Götter schmiedete. Von den Griechen haben die Römer diese Vorstellung übernommen, allerdings hieß ihr Feuergott nicht Hephaistos, sondern Vulcanos. Und nach dem benannten sie auch seinen Berg: Vulcano. Ein Eigenname also, aber genau diesen Eigennamen hat die Wissenschaft später für alle Berge des gleichen Typs übernommen. Für alle Feuer speienden Berge, von denen es weltweit rund 1.500 aktive gibt (nicht mitgerechnet diejenigen im Meer). Verglichen mit vielen anderen dieser Vulkane ist "unser" Vulcano nur ein Zwerg, aber trotzdem hat er auch den ganz großen Kalibern den Namen gegeben. Was einmal mehr beweist, dass Größe eben nicht alles ist.
Nächster Tag, wir wollen nach oben. 391 Meter hoch ist der Vulkan, der Weg ist breit und mäßig steil, also gut begehbar. Obwohl es erst Mitte Mai ist und der Tag noch nicht alt, brennt die Sonne bereits kräftig vom Himmel und lässt uns schwitzen. Schatten gibt es nur wenig während des Aufstiegs, dafür ein Panorama, das es in sich hat. Ist der Blick auf die Insel, die benachbarten Inseln und das Meer dazwischen ohnehin schon ein Motiv für Ansichtskarten, so gewinnt er zusätzlich durch den vielen Ginster, der zu dieser Jahreszeit verschwenderisch blüht. Nach einer guten Stunde erreichen wir den Gran Cratere, den Krater. Er ist von erstarrter Lava verschlossen wie die Nebenkrater des Ätna, die wir ein paar Tage zuvor gesehen haben, und auf den ersten Blick wirkt er wie eine einfache Senke in einem beliebigen Berg. Aber dieser Berg ist kein beliebiger - trotz seiner vermeintlichen Harmlosigkeit ist er noch immer ein Vulkan, ein Berg mit einer Verbindung zur Unterwelt. Und dort kocht und brodelt es, haben Temperaturen von mehr als tausend Grad Steine in eine flüssige Masse verwandelt, in Magma, baut sich permanent Druck auf. Druck, der - wenn er zu groß wird - abgebaut werden will. Vielleicht durch eine große Eruption, einstweilen mittels sogenannter Fumarolen, das sind Spalten am Krater, aus denen die vulkanischen Gase austreten können. Öffnungen, aus denen der Berg raucht.
 
Schon aus einiger Entfernung sieht dieses Phänomen eindrucksvoll aus, und da es aus der Nähe vermutlich noch weit eindrucksvoller ist und gute Fotomotive zu erwarten sind, muss ich dort hin. Ob ich diesen Wunsch auch gehabt hätte, wenn mir das Schild nicht entgangen wäre? "Annäherung an die Rauchstellen verboten. Halt! Vergiftungsgefahr" steht dort zu lesen, und in der englischen Version "Extreme danger of intoxication", was noch bedrohlicher klingt. Aber ich habe das Schild nicht gesehen, deshalb gehe ich weiter. Was den Spalten im Boden entströmt, ist Schwefelwasserstoff, und weil diese Rauchfahnen so faszinierend aussehen, kneife ich Mund und Nase zu und krieche für ein paar Aufnahmen beinahe in die Fumarolen hinein. Was für ein großartiges Bild: vorn die Spalten mit den Schwefelablagerungen in Tönen von Gelb bis Braun, dahinter das Panorama der Inseln und das tiefblaue Meer!
 
 
Ein Reiseleiter ist mit seiner Gruppe in einigem Abstand von den Fumarolen stehengeblieben und erzählt. Von den Sträflingen, die hier im 19. Jahrhundert den Schwefel abbauen mussten, der für die Herstellung von Schießpulver verwendet wurde und in der Medizin. Von dem letzten großen Ausbruch des Vulkans im Jahr 1888, als die Inselbewohner auf ihren Schiffen das Weite suchten, die Sträflinge jedoch zurückbleiben mussten und allesamt einen grausamen Tod fanden. Von den Befürchtungen der Wissenschaftler, der Berg könne seine mehr als 100-jährige Ruhe in absehbarer Zeit mit einem Paukenschlag beenden, weshalb sie ihn mit modernster Technik rund um die Uhr überwachen. Eine Weile lauschen wir den Ausführungen des Reiseleiters, dann machen wir uns an den Abstieg und wenden uns unserem nächsten Ziel zu.
 
Drei Euro kostet der Eintritt in "la vascia di fanghi", das Schlammbad nahe der Anlegestelle. Diesmal ist es Karin, die sich auf Tuchfühlung mit dem Schwefel begibt. Mutig stürzt sie sich in die schlammbraune, gut 30 Grad warme Brühe, wobei "stürzen" vielleicht nicht der richtige Ausdruck ist, denn dieser Schlammtümpel ist gerade einmal hüfttief. Und er dünstet jenen Gestank aus, der uns bei unserer Ankunft so unangenehm aufgestoßen war. Trotzdem hält Karin durch, ist dieses Schlammbad doch angeblich ein Heilmittel gegen diverse Wehwehchen bzw. für den Fall, dass man gar eine hat, versprechen die Schilder am Eingang eine prophylaktische Wirkung. Diejenigen Badenden jedenfalls, die sich andächtig die schwefelhaltige Pampe auf den Körper schmieren und anschließend in der Sonne trocknen lassen, scheinen davon überzeugt zu sein. Aber gleichgültig, ob das Bad nun etwas bewirkt oder nicht, auf jeden Fall ist es eine interessante Erfahrung. So wie die ganze Insel eine interessante Erfahrung ist - mit dem Vulkan, der allen anderen Vulkanen auf der Welt seinen Namen gegeben hat.
 
Manfred Lentz (Dezember 2016)
 
 
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