Die Orkneys
Inseln mit reicher Geschichte. Schottland 2008
 (Teil 2)
 
Wie die kleinen Kinder ... Ich bin als erster an der Reihe. Etwas mühsam lege ich mich bäuchlings auf das kleine, etwa 10 cm hohe Rollwägelchen, stoße mich mit den Fußspitzen ab, krabble mit den Händen wie ein Baby und schiebe mich auf diese Weise Stück für Stück durch den engen Zugang in die mannshohe Kammer. Karin amüsiert sich derweil - "Munter, munter, immer weiter!" -, aber nur so lange, bis sie selbst an der Reihe ist und ich ihr Krabbeln beobachten kann. Gleich darauf lachen wir beide, und weil es so komisch war, legt sich jeder von uns gleich noch einmal auf das Brett, während der andere fotografiert, und dann noch einmal und ein weiteres Mal, schließlich ist niemand da, der uns zusieht, und außerdem: Wo steht denn geschrieben, dass man vor jahrtausendealtem Kulturgut in Ehrfurcht erstarren muss? Wenn schon, dann Ehrfurcht vor dem Inneren des Grabes, in das wir rollen. Doch wer weiß - vielleicht hätten ja diejenigen, die es einst angelegt haben, angesichts unserer Verrenkungen sogar mitgelacht ...
 
 
Schluss mit dem Spaß, kommen wir zum ernsten Teil der Geschichte. Es war im Jahr 1958, als der Bauer Ronald Simison auf seinem Feld auf den vor der schottischen Nordküste liegenden Orkney-Inseln verschiedene Gegenstände entdeckte - darunter mehrere Steinäxte und einen polierten Keulenkopf -, von denen er annahm, dass sie sehr alt waren. Was sich auch tatsächlich so verhielt, weshalb dieser Fund eigentlich die Archäologen auf den Plan hätte rufen müssen. Doch an Geld für Ausgrabungen mangelte es seinerzeit, und so begann Simison in den 1970er Jahren schließlich mit eigenen Grabungen. Was er zutage förderte, war eine Sensation: eine aus mehreren Kammern bestehende Grabanlage samt 338 menschlichen Schädeln und jeder Menge Knochen, die Anlage Jahrtausende alt und über einen Zeitraum von 1500 Jahren benutzt. Den Namen "Isbister Cairn" trägt sie seither in wissenschaftlichen Kreisen, der rührige Bauer hat sie wegen ebenfalls gefundener Krallen von Seeadlern auf den publikumswirksameren Namen "Tomb of the Eagles" (Grab der Adler) getauft. Die Funde aus dieser Begräbnisstätte sowie etliche weitere, die er auf seinem Land noch gemacht hat, präsentiert er seit jener Zeit in einem privaten Museum neben seinem Haus. Das Grab selbst kann man nach einem 20minütigen Fußmarsch besichtigen, ohne Führung und ohne Aufsicht (zumindest war das bei unserem Aufenthalt im Jahr 2008 noch möglich), zugänglich mit jenem Rollwägelchen, das unsere Besichtigung zu der eingangs beschriebenen spaßigen Angelegenheit gemacht hat.
 
Eine Anlage aus der Steinzeit, um die sich ein Bauer verdient gemacht hat, der dafür vor einigen Jahren sogar mit einem Orden ausgezeichnet wurde ... Ganz anders lief es bei einem Berufskollegen rund 150 Jahre früher und etwa 50 Kilometer entfernt, dem seine Nachbarn wegen eines Relikts aus der Steinzeit sogar Haus und Hof anzünden wollten. Captain MacKay hieß der Mann. Auf seinem Acker befand sich ein Kreis aus mehreren riesigen Steinen, Megalithen genannt, über 5.000 Jahre alt und damit älter als die Pyramiden von Gizeh. Immer wieder erschienen Neugierige, um diese - wie sie glaubten - "von Riesen errichtete Anlage" anzuschauen oder sie gar für obskure Rituale zu nutzen, wobei sie jedes Mal den Acker des Bauern zertrampelten. Worauf MacKay eines Tages beschloss, sich zu wehren. Er begann, den Steinkreis zu zerstören, was wiederum - mit den erwähnten drastischen Folgen - den Zorn seiner Nachbarn erregte. Inzwischen ist wiederhergestellt, was wiederhergestellt werden konnte, und unter dem Namen "Standing Stones of Stenness" ziehen die Steine seither Jahr für Jahr Scharen von Besuchern aus aller Welt an.
Wie auch der rund 400 Jahre jüngere Steinkreis von Brodgar in unmittelbarer Nähe. Wir haben Glück, als wir ihn uns ansehen, gerade mal eine Handvoll Touristen spazieren außer uns in der Anlage herum, die einst aus 60 Steinen bestand, von denen heute noch 27 vorhanden sind. Beinahe fünf Meter misst der höchste, und wie bei vergleichbaren Anlagen hat der Volksmund auch in diesem Fall eine Erklärung für ihren Ursprung: Riesen, so weiß eine Sage zu berichten, hätten hier eines Nachts so ausgelassen getanzt, dass sie vergessen hätten, rechtzeitig unter die Erde zu kriechen, worauf sie von den ersten Strahlen der aufgehenden Sonne in Steine verwandelt worden seien. Entstanden ist auf diese Weise eine Anlage, zu der wie zu den Steinen von Stenness in jedem Jahr eine große Zahl von Menschen pilgern. Mitunter gebe es Tage, so sagt man uns, da stünden gleich mehrere Busse zur selben Zeit auf dem Parkplatz. Was nicht weiter erstaunt, denn obwohl dieser Steinkreis weit weniger bekannt ist als sein Pendant im südenglischen Stonehenge, ist er doch um einiges größer als dieser. Mit einem Durchmesser von 104 Metern nimmt er nach den Kreisen von Avebury und Stanton Drews den dritten Rang auf den Britischen Inseln ein. Beinahe andächtig wandern wir zwischen den Steinen herum und lassen die Atmosphäre des Ortes auf uns wirken. Jeder der Megalithen hat eine andere Form, die einzige Gemeinsamkeit ist ihre Größe. Die Zahl der Fragen, die uns durch den Kopf gehen, nimmt zu, je mehr wir über die Anlage nachdenken. Wer waren die Menschen, die diesen Kreis vor rund 4.700 Jahren erbaut haben? Warum haben sie diese riesigen Steine - zusammen geschätzte 12.000 Tonnen schwer - kilometerweit geschleppt und gerade an diesem Ort aufgestellt? Was verbindet diese Menschen mit anderen in der Welt, von denen es ähnliche Hinterlassenschaften gibt? Und nicht zuletzt: Welche Rituale wurden hier zelebriert? Meine eigenen Überlegungen dazu habe ich in einem früheren Bericht aufgeschrieben, doch es gibt jede Menge weiterer Erklärungsversuche. Und da die Erbauer uns ihre Gedanken bedauerlicherweise nicht überliefert haben, werden wir auch zukünftig auf Spekulationen angewiesen sein.
 
Unter dem Namen "The Heart of Neolithic Orkney" sind die erwähnten Stätten und einige weitere aus der Jungsteinzeit (dem Neolithikum) seit 1999 Teil des UNESCO-Weltkulturerbes. Kaum ein anderer Ort auf der Erde weist auf so engem Raum so viele Fundstätten aus dieser Zeit auf wie die Orkneys, weshalb diese gelegentlich als "ein Mekka der Steinzeit" bezeichnet werden. Auch die berühmteste prähistorische Stätte auf den Inseln, die in den Dünen am Meer liegende Siedlung Skara Brae, gehört dazu, und hier lernen wir unsere Vorfahren von einer ganz anderen Seite kennen. Skara Brae war kein Heiligtum, kein Ort für Rituale und auch keine Begräbnisstätte - hier haben die Menschen zwischen 3.100 und 2.500 v.Chr. gewohnt. In acht Häusern, eingerichtet mit einem Mobiliar, von dem der aus Stein bestehende Teil bis heute erhalten ist: Vorratsbehälter, Feuerstätten und Regale und selbst noch die Bettkisten, in denen sie geschlafen haben. Vermutet wird, dass es von Wind und Meer ausgelöste Dünenbewegungen waren, weshalb die Bewohner ihre Siedlung verlassen mussten. Danach deckte Sand die Häuser zu und konservierte sie auf diese Weise - bis im Winter des Jahres 1850 eine mächtige Sturmflut die grasbewachsenen Dünen zerstörte und den losgespülten Sand über das Land fegte. Was zum Vorschein kam, war eine archäologische Sensation - die bisher größte und besterhaltene neolithische Siedlung in ganz Europa. Küchenabfälle wie Muschel- und Nussschalen, Fischgräten und Knochen gaben den Ausgräbern Auskunft über die Ernährung der damaligen Menschen. Es ließ sich nachweisen, dass sie Rinder, Schafe oder Ziegen und Schweine hielten, dass sie Gerste anbauten, einen einfachen Pflug kannten und Brot und Käse herstellen konnten. Wenn es warm war, hat es sich in ihrer kleinen Siedlung vermutlich recht angenehm gelebt. Aber was war während der kalten Jahreszeit oder wenn es regnete und ein kräftiger Wind blies wie an diesem Tag, an dem wir auf speziell angelegten Besichtigungswegen oberhalb der Häuser herumspazieren? Allein der Gedanke an die Lebensbedingungen der einstigen Bewohner lässt uns frösteln.
 
 
Zum Schluss noch Maes Howe, eines der bedeutendsten Kammergräber Westeuropas, rund 5.000 Jahre alt. Von der Straße aus ist nicht mehr als ein mit Gras bewachsener Hügel zu sehen, das Grab befindet sich innerhalb des Hügels und besteht aus einem elf Meter langen Gang, der in eine aus mächtigen Quadern aufgeschichtete Kuppelkammer mündet. Einige der Steine wiegen unfassbare 30 Tonnen, was jede Menge Fragen nach ihrer Bearbeitung und ihren Transport aufwirft. Uns selbst ein Bild von diesen Riesensteinen und der gesamten Anlage zu machen, bleibt uns leider verwehrt, da sie vorübergehend aus technischen Gründen geschlossen ist. Schade, hätten wir doch sonst auch die Runeninschriften gesehen, die Wikinger viertausend Jahre nach der Errichtung des Grabes an dessen Wänden hinterlassen haben. Graffitis, bei denen es nicht um die großen Themen wie Götter, Ahnen und Tod geht, sondern um ganz und gar Irdisches: "Glücklich wer den großen Schatz findet" steht dort geschrieben und "Ingiborg ist die schönste Frau". Welchen Schatz mögen die historischen Schmierfinken wohl gemeint haben, und - nein, nicht "Who the fuck is Alice", sondern "Who the fuck ist die schöne Ingiborg"? Erfreulich, dass hinter all den "archäologischen Sensationen", den "großartigen Kulturleistungen" und den "bedeutendsten Denkmalen dieser Zeit" an dieser Stelle auch einmal diejenigen durchschimmern, um die es hier eigentlich geht: die ganz normalen Menschen.
 
Manfred Lentz (Februar 2017)
 
 
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