Che Guevara -
der unsterbliche Kubaner. 2015 (Teil 1)
 
Ich habe ihn gemalt. Es war kein eigenes Bild, ich habe eine Vorlage kopiert, und die habe ich über meinen Schreibtisch gehängt. Das war Ende der 1960er Jahre. Der Vietnamkrieg brachte uns seinerzeit auf die Straße, in West-Berlin ebenso wie in Paris, in London und zahlreichen anderen Städten. In Protestzügen mit zehntausenden Teilnehmern machten wir unserem Unmut Luft über diesen schändlichen Krieg. Den Vertretern des Establishments schleuderten wir unsere Wut entgegen, ließen die internationale Solidarität hochleben und forderten "Amis raus aus Vietnam!". Zeitgenossen, die zuschauten und über die außer Rand und Band geratene Generation schimpften, riefen wir mit Sprüchen wie "Bürger, lüftet euren Arsch, reiht euch ein in unsren Marsch!" zum Mitmachen auf. Natürlich waren auch rote Fahnen dabei, dazu Transparente und Bilder von Ho Chi Minh, von Marx, Engels, Lenin und Mao Zedong. Und dann war da noch das Konterfei eines Mannes mit schwarz wallendem Haar, auf dem Kopf ein Barett mit rotem Stern, den Blick starr in die Ferne gerichtet. Wie eine Mischung aus Jesus und Popstar sah er aus. Ein Fotograf namens Alberto Korda hatte das Bild einige Jahre vorher zufällig aufgenommen, nicht ahnend, dass es zu einem der am häufigsten abgebildeten Fotos der Welt werden sollte. Der Mann, den es zeigte, war Che Guevara.
Fast ein halbes Jahrhundert ist seither vergangen, die Proteste jener Zeit sind nur noch Erinnerung, und wir Akteure von damals sind die Rentner von heute. Längst zieren andere Bilder meine Wände, und an Che Guevara habe ich viele Jahre nicht mehr gedacht. Bis zu unserer Reise nach Kuba - da war der Begleiter unserer damaligen Demos mit einem Mal wieder da. Der Che, wie die Kubaner ihn mit seinem Spitznamen üblicherweise nennen. Niemand, der seinen Urlaub auf der Karibikinsel verbringt, kommt an ihm vorbei. Jeder, der durchs Land reist, hat ihn danach Dutzende oder gar Hunderte Male gesehen. Che Guevara ist allgegenwärtig wie sonst nur noch der gekreuzigte Heiland in der katholischen Welt. Sein Bild prangt an Mauern und auf riesigen Plakaten mitten in der Landschaft, es findet sich auf Büchern und Postern, auf T-Shirts, auf den Werken von Hobby- und Berufsmalern und im XXXL-Format an der Fassade des Innenministeriums in Havanna. Häufig ist das Foto von Alberto Korda die Vorlage, aber es gibt auch unzählige Varianten: Che als junger Mann auf einem Motorrad; Che als Kämpfer auf einem Pferd in der Sierra Maestra; Che im Gespräch mit Männern, Frauen und Kindern; ja, sogar mit einem Hündchen auf dem Arm hat man den Revolutionär abgelichtet, und oft genug mit jenem Attribut, das geradezu zu einem seiner Markenzeichen geworden ist: einer Zigarre. "Hasta la victoria siempre!" steht unter dem Riesenbild in Havanna und unter zahllosen anderen, "Immer bis zum Sieg!" Sprachlich keine ganz glückliche Formulierung, was daran liegt - so banal ist die Wirklichkeit manchmal! -, dass sie durch ein falsch gesetztes Komma entstanden ist. Dennoch ist sie zu einem Klassiker unter den Aussprüchen Che Guevaras geworden, da er sie in einem bedeutsamen Zusammenhang gebraucht hat.
Wer war dieser Che, der auf Kuba so präsent ist wie sonst niemand? Im Jahr 1928 als Sohn wohlhabender Eltern in Argentinien geboren, entschied sich Ernesto Rafael Guevara de la Serna - so sein vollständiger Name - für das Studium der Medizin. Er wurde Arzt, womit ihm eine gutbürgerliche Karriere offengestanden hätte, doch das Schicksal führte ihn auf einen anderen Weg. Auf mehreren Motorradreisen während seines Studiums durch Südamerika lernte er die großen sozialen Gegensätze in diesen Ländern kennen, insbesondere das Elend der Landbevölkerung, und er begriff, in welch privilegierter Position er selbst sich befand. "Dieses ziellose Streifen durch unser riesiges Amerika", notierte er in seinem Tagebuch, "hat mich stärker verändert, als ich glaubte." Irgendwann beschloss er, gegen die Missstände aufzubegehren. In Mexiko begegnete er im Sommer 1955 Fidel Castro, der gerade mit dem Aufbau einer schlagkräftigen Truppe für den Kampf gegen den kubanischen Diktator Batista befasst war.  Che Guevara - den Spitznamen Che trug er zu dieser Zeit bereits - schloss sich den Revolutionären an. Zusammen mit 85 weiteren Männern - unter ihnen die Brüder Fidel und Raúl Castro - setzte er auf der Yacht "Granma" nach Kuba über, wo die Gruppe von Stützpunkten in der Sierra Maestra aus den Kampf gegen die Truppen des Diktators aufnahm. Diente Che Guevara seinen Gefährten anfänglich als Arzt, so übernahm er schon bald - trotz eines schweren Asthmas, das ihn sein Leben lang belastete - als "Comandante" militärische Führungsaufgaben.
Santa Clara ist eine Stadt mit 240.000 Einwohnern, sie liegt rund 300 Kilometer östlich von Havanna, und wohl nirgends sonst ist der Mythos des Revolutionärs Che Guevara greifbarer als hier. Der Name Santa Clara ist das Synonym für seinen größten militärischen Erfolg. Etwas verwirrt stehen wir am Ort dieses Erfolges: Mehrere Güterwaggons befinden sich neben den Gleisen, dazwischen gibt es seltsame Konstruktionen aus Beton, doch unser Reiseführer hält eine Erklärung bereit. Es war am 23. Dezember 1958, als ein Sonderzug im Auftrag Batistas die Hauptstadt Havanna verließ, in den Waggons einige hundert Soldaten sowie jede Menge Waffen für den Kampf gegen die von Fidel Castro angeführten Revolutionäre. Als der Zug in Santa Clara einen Zwischenstopp einlegte, schlugen Che Guevara und 18 seiner Männer zu. Mit Hilfe eines Bulldozers ließen sie den Zug entgleisen, zwangen die Soldaten mit Molotowcocktails zum Verlassen ihrer Waggons und brachten in einem mehrstündigen Gefecht den Zug mitsamt allen Waffen unter ihre Kontrolle. Für Batista bedeutete dieser Handstreich das Ende seiner Herrschaft. Während er sich in die Dominikanische Republik absetzte, verkündete Fidel Castro den Sieg der Revolution. Einen Monat später wurde Che Guevara zum "geborenen kubanischen Staatsbürger" ernannt.
 
"Monumento al Tren Blindado" lautet der Name des Denkmals, das an das damalige Geschehen erinnern soll, zu Deutsch: das "Denkmal des gepanzerten Zuges". Es befindet sich nur wenige Kilometer entfernt von der anderen großen Erinnerungsstätte an Che Guevara auf der "Plaza de la Revolución", auf die ich noch eingehen werde. Die vier Güterwaggons werden heute für Ausstellungen genutzt, die Betonelemente symbolisieren die stattgefundenen Explosionen. Die Bedeutung des Bulldozers, der ebenfalls Bestandteil des Denkmals ist, kennt auf Kuba vermutlich jedes Kind, ist die ständige Vergegenwärtigung der revolutionären Vergangenheit doch ein wichtiges Anliegen der Kommunistischen Partei. Und deshalb weiß vermutlich auch jeder Kubaner, wie es mit Che Guevara nach dem Sieg der Revolution weiterging - dass er Leiter der Nationalbank wurde und als Minister für die industrielle Entwicklung des Landes verantwortlich zeichnete, dass er sich in diese Rollen, die ihn als einstigen Revolutionär gewissermaßen domestizierten, nicht hineinfinden konnte und dass er deshalb schon bald nach neuen Aufgaben suchte. Aufgaben, an denen er schließlich scheiterte.
 
(Wird fortgesetzt)
 
Manfred Lentz (März 2017)
 
 
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