Son Cubano und Salsa
Ohne seine Musik wäre Kuba ein anderes Land. 2015
Dieser Bericht schildert die Situation in Baracoa im Jahr 2015. Ein Jahr später - im Oktober 2016 - zog der Hurrikan "Matthew" über die Stadt hinweg und verwüstete sie schwer.
Er ist einer meiner Lieblingsfilme: "Eine Frage der Ehre" aus dem Jahr 1992, in den Hauptrollen Jack Nicholson, Tom Cruise und Demi Moore. In Guantanamo Bay stationierte US-Marines töten einen ihrer Kameraden unter anderem deshalb, weil er höhere Dienststellen über Schießereien an der Fence Line informiert hat. Die Fence Line ist ein 28 Kilometer langer Grenzzaun, der den US-amerikanischen Stützpunkt vom kubanischen Staatsgebiet trennt. "U.S. Naval Base Guantanamo Bay" ist die offizielle Bezeichnung für diesen knapp 118 Quadratkilometer großen Stützpunkt im Südosten der Insel. Dass an diesem Ort US-Amerikaner anwesend sind, geht auf einen von beiden Staaten im Jahr 1903 abgeschlossenen Pachtvertrag zurück, der 1934 unbefristet verlängert wurde. Da es ein Vertrag zwischen ungleichen Partnern war und Kuba keine andere Wahl hatte, als ihm zuzustimmen, empfindet das Land diesen Stützpunkt bis heute als eine offene Wunde. Seit 2002 gibt es in Guantanamo Bay das international heftig kritisierte Internierungslager, in dem vermeintliche Terroristen ohne juristischen Schutz festgehalten und gefoltert werden. Für uns bleibt der Stützpunkt unsichtbar, als wir uns von der Stadt Guantanamo her kommend ihm nähern. Hügel versperren die Sicht, zudem lassen uns kubanische Wachtposten nicht näher als fünf Kilometer heran. Auf Schildern neben der Straße wird auf ein "besonderes Gebiet" aufmerksam gemacht, ohne Einzelheiten zu verraten. Hätten wir nicht gewusst, dass sich nur einen Fußmarsch von uns entfernt eines der bekanntesten Gefangenenlager der Welt befindet, wir wären wie an jedem beliebigen anderen militärischen Sperrgebiet gleichgültig vorbeigefahren, dabei vielleicht - in Erinnerung an die Stadt, durch die wir gerade gekommen waren - den kubanischen Ohrwurm "Guantanamera" vor uns hinsummend.
 
 
Mit Fotos von Guantanamo Bay können wir in diesem Bericht also leider nicht dienen, dafür mit um so mehr Fotos von Baracoa, der Stadt, die nach Santiago di Cuba (Bericht 169, Bericht 170) der nächste Stopp auf unserer Rundreise ist. Vor der Revolution von 1959 war Baracoa nur auf dem Seeweg oder über kleine unbefestigte Wege zu erreichen. Heute führt eine kurvenreiche Bergstraße aus östlicher Richtung hinein und die schlechteste Straße, die wir auf Kuba erlebt haben, in westlicher Richtung wieder hinaus. Siebzig Kilometer fast vollständig zerbröselter Asphalt, zu allem Überfluss auch noch von unzähligen Schlaglöchern durchsetzt, der absolute Härtetest für einen gewöhnlichen PKW wie den unsrigen. Baracoa wurde im Jahr 1511 gegründet, in der Gegend, in der Christoph Kolumbus einige Jahre zuvor erstmals kubanischen Boden betreten hatte. "Baracoa - das ist Natur!", lautet ein Werbespruch der Stadt, und als wir am zweiten Tag unseres Aufenthalts einen von einem örtlichen Guide geleiteten Ausflug in die Umgebung unternehmen, können wir die Richtigkeit dieses Spruchs nur bestätigen. Berge, Urwald und ein zwischen Smaragdgrün und Tiefblau schimmerndes Meer machen die Region zu einem ganz besonderen Erlebnis. Aber da ist noch etwas, was uns in Baracoa begeistert: die Musik.
Dass die Musik ein essentieller Bestandteil des Lebens jedes Kubaners ist, weiß jeder Tourist.  Und sollte er es bei der Einreise noch nicht gewusst haben, so erfährt er es spätestens bei seinem ersten Mojito in einem Lokal in Havanna, wo die Musik - ob live oder als Konserve - ganz einfach dazugehört. Son cubano heißt der Urtyp der kubanischen Musik, der zur Grundlage für viele lateinamerikanische Musikrichtungen geworden ist, darunter den Salsa. Sein Rhythmus geht unter die Haut, er elektrisiert den gesamten Körper, und selbst die Gedanken eines Menschen werden in Schwingungen versetzt. In Baracoa ist das "Casa de la Trova" die Heimstatt dieser Musik, ein kleines Gebäude gleich neben der Kirche am Hauptplatz des Ortes. Täglich kann man sie dort genießen, zwei Stunden bei kostenlosem Eintritt am Nachmittag, abends drei Stunden für einen kleinen Betrag. Etwa dreißig Stühle laden die Zuhörer zum Sitzen ein, für weitere Gäste bietet die kleine Tanzfläche Platz. Wir sind am Nachmittag dort - bei uns hätte man die Veranstaltung einen Tanztee genannt -, aber zu dieser Zeit hätten zehn Stühle vollauf gereicht. Einige weitere Zuhörer haben sich vor den geöffneten Fenstern versammelt. Mit geradezu preußischer Pünktlichkeit betreten sechs zumeist ältere Musiker die Bühne, und kaum haben sie ihren Instrumenten die ersten Töne entlockt, als auch schon das Erwartete geschieht: Die Füße der Anwesenden beginnen zu wippen, ein älterer Mann schnippt mit den Fingern, und gleich darauf eröffnen die ersten den Tanz. Auch zwei Touristen hält es nicht lange auf ihren Stühlen. Angetrieben von den ins Blut gehenden Rhythmen fangen sie an, sich gekonnt auf der Tanzfläche zu bewegen. Viel zu schnell verrinnt die Zeit, und ehe wir es uns versehen, sind die zwei Stunden vergangen - auf einem musikalischen Niveau, das beeindruckend ist. Weshalb wir am nächsten Tag abermals im "Casa de la Trova" sind. Eine andere Gruppe tritt auf, und im Nu ist die gleiche mitreißende Stimmung wie am Vortag wieder da. Und weil ich die Hände nicht still halten kann, sondern sie ausdauernd im Takt der Musik bewege, ergeht auf einmal die Einladung an mich, hinter der Trommel auf der Bühne Platz zu nehmen. Eine Einladung, die ich nur allzu gern annehme. Die Gruppe spielt und singt, ich besorge den Rhythmus, und für eine viel zu kurze Zeit verschmelze ich mit Kuba, mit dessen liebenswerten Menschen und mit allem, was den Charme dieser Insel ausmacht. Wäre ich ein Schulkind und müsste einen Aufsatz schreiben zu dem Thema: "Dein schönstes Erlebnis auf Kuba" - ich bräuchte keine Sekunde, um zu entscheiden, welches Erlebnis das wäre ...
 
 
Zwei Stunden sind vorbei, die Gruppe hat ihr Bestes gegeben, und zufrieden verlassen wir das Casa. Draußen empfängt uns eine neue Musik. Ihren Ursprung hat sie in der Kirche, und sie klingt völlig anders, als wir sie - geprägt durch unsere eigenen, recht betulichen Kirchenlieder - in einem Gotteshaus erwartet hätten: beschwingt, fröhlich und überdies ist sie sehr laut, da Hunderte von Stimmen enthusiastisch mitsingen. Wieder sind wir beeindruckt von diesem so völlig anderen Verhältnis zur Musik. Vielleicht liegt es an den Rhythmen, die weit temperamentvoller sind als die unsrigen, vielleicht spielt die Mentalität der Menschen eine Rolle, die in einer ganz anderen Welt leben als wir: Alles ist bunt, die Luft ist warm und der Himmel für gewöhnlich so blau, dass depressive Stimmungen hier vermutlich sehr viel seltener sein dürften. Eine Weile stehen wir vor der Kirche und beobachten die Anwesenden. Ob sie wirklich so gläubig und deshalb in der Kirche sind, können wir ihnen natürlich nicht ansehen - auf jeden Fall sind sie absolut engagiert bei der Sache.
 
Musikalisch, wenn auch gänzlich anders, geht es kurze Zeit später in einem Nachbarhaus unserer Unterkunft zu. Dort steht ein Radio, das in mäßiger Tonqualität einen Song nach dem anderen dudelt. Das war schon am Morgen so, als wir uns auf den Weg zu einem Ausflug machten, und sehr wahrscheinlich dürfte es an jedem anderen Morgen das Gleiche sein. Vielleicht können die Bewohner dieses Hauses ebenso wenig ohne Musik leben wie der junge Mann am nächsten Tag im Restaurant unseres Hotels in Holguin, der letzten Station auf unserer Reise. Da es in diesem Restaurant überraschenderweise keine Musik gibt, sucht er sich selbst welche auf seinem Smartphone, dreht dieses so laut, dass niemand sie überhören kann, und erst als er damit fertig ist, bestellt er sein Essen. Wir sind die einzigen in dem Restaurant, die sein Tun mit vorwurfsvollen Blicken quittieren. Alle anderen ignorieren ihn, als wäre sein Tun allgemeiner Konsens. "Ich mache Musik für uns alle, auch wenn die akustische Qualität noch so schlecht ist", könnte man sein Verhalten übersetzen. Auch das ist Kuba, sagen wir uns. Und obwohl wir den jungen Mann am liebsten unangespitzt in den Boden rammen würden, versuchen wir zu lächeln.
 
Manfred Lentz (November 2017)
 
Über Kuba gibt es noch mehr Berichte auf meiner Webseite. Auf der Seite "Länder / Kuba" sind sie alle aufgelistet. 
 
 
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am 1. und 15. jedes Monats