Arequipa
Abwechslungsreiche Tage in der zweitgrößten Stadt von Peru. 2017 (Teil 2)
Abwechslungsreiche Tage in der zweitgrößten Stadt von Peru. 2017 (Teil 2)
Am Ende von Teil 1 dieses Berichts war ich auf das Thema Religion zu sprechen gekommen. Ich bleibe noch kurz dabei, denn über Arequipa berichten, ohne das Kloster Santa Catalina zu erwähnen, das geht nicht. Dieses Kloster ist eines der bedeutendsten religiösen Bauwerke aus der Kolonialzeit, und für Arequipa ist es eine der wichtigsten Sehenswürdigkeiten, wenn nicht die wichtigste überhaupt. Santa Catalina ist ein mehr als 20.000 Quadratmeter großes Nonnenkloster aus dem 16. Jahrhundert, das die längste Zeit seiner Existenz eine abgeschlossene Stadt innerhalb der Stadt bildete, 1970 geöffnet wurde und seither Jahr für Jahr Touristen aus aller Welt anzieht. Und das nicht nur tagsüber, sondern gelegentlich auch am Abend, wenn die Sonne - wie in Äquatornähe üblich - beinahe schlagartig untergeht und Dunkelheit sich über das Land senkt. In Santa Catalina zünden sie um diese Zeit Lämpchen an, dazu Fackeln und offene Herdfeuer, was einen Spaziergang durch die Anlage zu einem einzigartigen Erlebnis macht. Einem Erlebnis, das wir uns bei unserem dreitägigen Aufenthalt in der Stadt nicht entgehen lassen. Zwei Kreuzgänge, die Zellen der einstigen Bewohnerinnen, die Klosterkirche, die Kapelle der Novizinnen ... Kaum haben wir das Eingangsportal durchschritten, ist der Lärm der Stadt hinter den dicken Mauern verschwunden, und wir tauchen in die zeitverlorene Atmosphäre dieses gottgeweihten Ortes ein, an dem Tausende und Abertausende Frauen - einheimische und solche von spanischer Abkunft - jahrhundertelang gelebt haben. So beeindruckt sind wir von diesem Besuch, dass wir dem Kloster am darauffolgenden Tag einen weiteren Besuch abstatten. Eine gute Entscheidung nicht zuletzt deshalb, weil uns ansonsten jene possierlichen Tierchen entgangen wären, für die man - bezeichnenderweise unmittelbar neben einer der zahlreichen Küchen - ein kleines Gehege eingerichtet hat. Sie werden es ahnen, um welche Tierchen es geht - um die cuy. Offensichtlich haben auch die frommen Damen in ihrer Zeit den Genuss von Meerschweinchenfleisch zu schätzen gewusst. Vielleicht gab es daneben aber auch noch einen anderen Grund für sie, diese Tiere zu halten.
Meerschweinchen - ebenso wie manch andere Tiere - können durch ihr Verhalten vor Erdbeben warnen, erzählt mir auf einem Inlandsflug mein chilenischer Sitznachbar, der in seinem fünfzigjährigen Leben bereits vier (!) Beben erlebt hat. Wenn das stimmt, ist es eine beeindruckende Fähigkeit, und gerade für Arequipa eine besonders wertvolle. Wie das westliche Südamerika ganz allgemein, ist auch Peru Erdbebengebiet, allerdings wird mir das erst jetzt so richtig bewusst, als wir in Arequipa sind. Durchschnittlich zwölf Mal an jedem Tag bewegt sich hier die Erde. In den meisten Fällen sind diese Bewegungen kaum spürbar, doch mehrmals in der Vergangenheit war das ganz anders. So im Jahr 1868, als große Teile der Stadt durch ein Erdbeben verwüstet wurden, so ebenfalls 1958 und 1960, und 2001 - gerade einmal 16 Jahre vor unserer Reise - erschütterte ein schweres Beben der Stärke 8,4 auf der Richter-Skala die Region und brachte unter anderem einen der beiden Kathedraltürme von Arequipa zum Einsturz. Nicht weit von der Stadt entfernt gibt es drei große Berge, und bei allen dreien handelt es sich um aktive Vulkane. Von der Dachterrasse unseres Hotels blicken wir auf einen von ihnen, Misti heißt er, ein auf beiden Seiten gleichmäßig ansteigender, auf dem Gipfel mit Schnee bedeckter Berg, dessen Aussehen an den japanischen Fujijama erinnert. Ein schöner Anblick, der Misti ist geradezu ein Schmuckstück von einem Berg, nur wirken unter seiner Oberfläche Kräfte, deren Freisetzung in jeder Sekunde möglich ist und die in diesem Fall zu einer tödlichen Gefahr für die 900.000-Einwohner-Stadt werden würden. Die Menschen in Arequipa - und das gilt ebenso für die Menschen in allen anderen Teilen des Landes - leben mit dieser Situation bereits von ihrer Geburt an, sie sind an die Gefahr gewöhnt, und möglicherweise denken sie kaum noch an sie. Mir allerdings - und ich scheue mich nicht, das zuzugeben - hat dieser Gedanke durchaus zu schaffen gemacht. Nur allzu gut erinnere ich mich noch an die Nacht vor unserer Abreise, als wir gegen 3 Uhr von einer Sirene aus dem Schlaf gerissen wurden. Den beruhigenden Worten des Nachtportiers zufolge handelte es sich zwar um einen "Fehlalarm", doch es hätte auch blutiger Ernst sein können. In zahlreichen Gebäuden wie Hotels, Kirchen und Restaurants weisen Schilder den Weg zum nächstgelegenen Ausgang (Salida), andere informieren darüber, an welcher Stelle des betreffenden Gebäudes sich die am wenigstens einsturzgefährdeten Bereiche befinden. Ergänzt werden diese Hinweise durch Sirenen und Blinklichter, die die Menschen im Ernstfall vor der Gefahr warnen sollen.
Schließlich ist da noch der "Sillar", der ebenfalls auf solche Katastrophen verweist. Sillar ist der Name eines Steins vulkanischen Ursprungs. Er ist von poröser Struktur, äußerst widerstandsfähig gegen Hitze und Feuchtigkeit und eignet sich hervorragend als Baumaterial. Große Teil des Zentrums von Arequipa sind aus ihm erbaut, was der Stadt - weil der Stein hell ist, beinahe weiß - den Namen "Die weiße Stadt" eingebracht hat. Sillar wird in Steinbrüchen gewonnen - dort, wo Vulkanausbrüche ihn in der Vergangenheit abgelagert haben. Begleitet von einer Führerin, statten wir einem dieser Steinbrüche einen Besuch ab. Wie eine Schlucht zerschneidet er die Landschaft, auf beiden Seiten ragen steile Wände empor, bis zu denen der Stein bereits abgetragen wurde und wo die Arbeit auch heute noch weitergeht. Das Bearbeiten des Sillar ist ein beinharter Job, erträglich allenfalls im Winter, also zur Zeit unseres Besuchs, aber vermutlich die Hölle im peruanischen Sommer, wenn die Sonne glühend heiß vom Himmel herab brennt und gleißende Helligkeit das Sehen fast unmöglich macht. Der Steinbruch, so erfahren wir von unserer Führerin, ist in Reviere unterteilt, die sich seit Generationen immer im Besitz derselben Familien befinden. Was sich auf den ersten Eindruck nach viel Geld anhört. "Doch reich sind diese Familien nicht geworden,", setzt die Führerin hinzu. "Die dicken Gewinne streichen diejenigen ein, die über LKW verfügen, mit denen sie die Steine zu den Abnehmern bringen." Ein Arbeiter erscheint und demonstriert uns, wie aus einem rohen Brocken Sillar ein Stein mit exakt jenen Maßen entsteht, wie sie in Arequipa in der Vergangenheit unzählige Male verbaut worden sind und auch heute noch verbaut werden. Weil ihm die Arbeit leicht von der Hand zu gehen scheint, will ich es auch einmal versuchen. Ich nehme den Hammer und schlage damit auf den Stein ein, erst ein Mal, dann noch ein Mal und ein drittes Mal - und das war's. Der Hammer ist weit schwerer, als ich vermutet hatte. Mein Gegenüber kann sich ein Grinsen nicht verkneifen, als ich ihn ihm zurückgebe. Und während ich noch ein wenig verlegen die Achseln zucke und murmele "Gekonnt ist halt gekonnt", geht mir einmal mehr jener Gedanke durch den Kopf, den ich auf unseren Reisen schon so oft gedacht habe: dass ich bei meiner Geburt verdammt viel Glück hatte, bei der Verteilung der Lebenschancen die Sonnenseite erwischt zu haben!
Manfred Lentz (Dezember 2017)
Über Peru gibt es weitere Berichte auf meiner Webseite. Auf der Seite "Länder / Peru" sind sie aufgelistet.
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am 1. und 15. jedes Monats
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