Kunstsinnige Herrscher
Die Bauten der Sultane aus der Dynastie der Saadier gehören zu den Highlights von Marrakesch. 2016
 
Größere Sehenswürdigkeiten geben sich in der Regel leicht zu erkennen: Man sieht sie schon von weitem, sie wollen sich zeigen, sind ganz auf Wirkung angelegt. Bei den Gräbern der Saadier in Marrakesch ist das ganz anders. Man erreicht sie durch einen völlig unauffälligen Eingang neben einer Moschee. Es könnte das Entrée in ein schmuddeliges Etablissement sein oder der Zugang zu einer öffentlichen Toilette, und der sich daran anschließende schmale Gang zwischen hohen schmucklosen Mauern ist auch nicht gerade geeignet, diesen Eindruck zu korrigieren. Dass sich wenige Meter weiter eine der größten Sehenswürdigkeiten der Stadt verbirgt, ja gar eine des ganzen Landes, würde wohl niemand vermuten. Doch der erste Eindruck täuscht eben. Der Vergleich mit einer unscheinbaren Muschel fällt mir ein, in deren Innerem sich eine kostbare Perle verbirgt. Die Perle, um die es hier geht, entdeckt man allerdings auch dann noch nicht, wenn man aus dem Gang schließlich hervortritt. Zu sehen sind zunächst ein von einer Mauer umschlossener Innenhof, mehrere Palmen sowie mit Mosaiken geschmückte Platten, die sich bei näherem Hinsehen als Gräber entpuppen. Das Highlight indes bleibt auch jetzt noch unsichtbar. Wo es sich befindet, verrät lediglich der Eingang zu ihm, man könnte auch sagen: die Öffnung in einer eher hässlichen Mauer. Tritt man hinein, steht man vor einem schmalen Geländer, von dem aus nur jeweils zwei Personen gleichzeitig einen Blick in den dahinter liegenden Raum haben.
 
 
"Next person!", sagt ein Wächter mit gelangweilter Miene. Kein Wunder, dass er gelangweilt ist - eine Aufgabe wie seine kann wohl niemand engagiert wahrnehmen, Hunderte Male am Tag dieselbe Aufforderung, zu Zeiten des stärksten Touristenandrangs wohl sogar Tausende. Erkennbar unwillig räumt das Paar vor uns seinen Platz vor dem Geländer und wir dürfen heran treten - und begreifen noch im selben Augenblick, warum es an diesem Ort eines staatlichen "Dränglers" bedarf: Wohl niemand würde diesen Platz freiwillig so schnell wieder räumen, denn zu großartig ist das, was sich dem Betrachter darbietet. Drei Räume sind es, von denen der mittlere - der "Saal der zwölf Säulen" - der schönste ist. Im unteren Teil sind seine Wände mit Mosaiken bedeckt, darüber folgt ein Schriftband und über diesem wiederum ein feines Netz aus wabenförmig angeordneten Stuckelementen. Die Mitte des Raums wird überdeckt von einer Kuppel aus geschnitztem und teilweise vergoldetem Zedernholz, die von Säulen aus Carrara-Marmor getragen wird. Mehrere Gräber bezeichnen die Stellen, an denen Sultane aus der Saadier-Dynastie sowie Familienangehörige ihre letzte Ruhe gefunden haben. Das Ganze ist ein Traum von Formen, Farben und Material, dem man sich gern in aller Ruhe hingeben möchte, doch ehe man es sich versieht, ertönt erneut das gelangweilte "Next person!", und unsere Zeit vor dem Geländer ist abgelaufen.
Es war um das Jahr 1600 herum, als Sultane aus der Dynastie der Saadier Marokko beherrschten. Unter ihnen wurde Marrakesch zum Regierungssitz, nachdem die Stadt jahrhundertelang keine wesentliche Rolle gespielt hatte. Um ihren Angehörigen nach deren Tod eine würdige Ruhestätte zu geben, wurde die heute zum UNESCO-Weltkulturerbe zählende Nekropole angelegt. Sieben Sultane, 62 Familienmitglieder sowie rund einhundert weitere Personen wurden hier beigesetzt - danach wurde die Dynastie der Saadier von einer anderen abgelöst. Mulay Ismail hieß deren erster Regent, und wie das seinerzeit nicht unüblich war, wollte er die Erinnerung an seine Vorgänger tilgen. Zum Glück für uns Heutige scheute er davor zurück, die Grabanlage einfach abreißen zu lassen. Stattdessen mauerte er sie ein - das allerdings so gründlich, dass sie erst im Jahr 1917 von französischen Archäologen (Marokko war damals französisches Protektorat) zufällig wiederentdeckt wurde. In der Folgezeit wurde sie restauriert, und um auch von der Einmauerung so viel wie möglich zu erhalten - auch diese war inzwischen ja ein Teil der Geschichte -, wurde sie mit jenem minimalistischen Eingang versehen, den ich eingangs beschrieben habe. Zu besichtigen sind seither der "Saal der zwölf Säulen" mit seinen Nebenräumen sowie ein zweites Mausoleum, das sich den Besuchern ebenfalls in seinem alten Glanz darbietet. Auch dieses legt Zeugnis von der großen Kunstfertigkeit der damaligen marokkanischen Baumeister und Handwerker ab und hat seinen Anteil daran, dass die als "Saadier-Gräber" bezeichnete Gesamtanlage zu einem Besuchermagnet wurde. Während der Hochsaison - schreibt unser Reiseführer - empfiehlt es sich, wegen des starken Touristenandrangs bis zum späten Nachmittag zu warten. Wir haben Glück. Am Tag unseres Besuchs ist der Andrang begrenzt, weshalb es uns gelingt, am Ende unserer Besichtigung sogar noch einen zweiten Blick auf die prachtvolle Hauptsehenswürdigkeit zu erhaschen.
 
 
Am Tag darauf treffen wir noch einmal auf die Saadier, und wieder ist die Begegnung ein beeindruckendes Erlebnis. Medersa Ben Youssef heißt das Bauwerk, es liegt mitten in der Medina und ist umgeben von dem geschäftigen Treiben in den Souks (den Märkten). Eine Medersa ist eine Koranschule, allerdings wurde diese hier bereits vor einigen Jahrzehnten in ein Museum umgewandelt. Eine ausgezeichnete Idee, wie wir finden, wurde damit doch ein Gebäude der Öffentlichkeit erschlossen, das ebenfalls zu den architektonischen Highlights von Marrakesch gehört. Gegründet wurde die Koranschule bereits im 14. Jahrhundert, ausgebaut und zu dem gemacht, was wir heute sehen, haben es aber erst die kunstsinnigen Sultane aus der Dynastie der Saadier, unter deren Herrschaft auch die Gräber entstanden. Lange Zeit war die Medersa eine der wichtigsten islamischen Hochschulen in der arabischen Welt. Bis zu 900 Koranschüler sollen hier gelebt und Theologie und Rechtswissenschaften studiert haben, zwei Fächer, die bei den Arabern eng zusammenhängen. Stichwort "Scharia" - ein Begriff, der in den letzten Jahren auch in unseren Wortschatz Einzug gehalten hat, wenn auch zumeist als Reizwort.
900 Koranschüler sind eine beachtliche Zahl - wo sollen die alle untergekommen sein? fragen wir uns, während wir in dem großen Innenhof stehen und das Bauwerk mit seinen Mosaiken, den filigranen Schnitz- und Stuckornamenten und dem Wasserbecken in der Mitte auf uns wirken lassen. In der zweiten Etage finden wir die Antwort. Angeordnet um den Hof und um etliche kleine Patios zu beiden Seiten liegen 150 Zellen - klein, eng und schmucklos und zumeist ohne Tageslicht. Nur wer aus einem reichen Haus stammte, erhielt eine Kammer mit Fenster, alle anderen mussten sich mit künstlichem Licht begnügen. Ruhig dürfte es indes überall gewesen sein, dringen von draußen doch keinerlei Geräusche herein. Eine Insel der Ruhe ist diese Schule, was dem Studium gewiss ebenso zuträglich war wie einst die Ruhe in unseren Klöstern. Und wo der Alltag wohl ebenso eintönig gewesen sein dürfte, geht es mir durch den Kopf - was nicht meine Welt ist, weshalb ich es genieße, als wir nach unserem Rundgang durch die Medersa wieder in die Gassen der quirligen Medina hinaustreten, wo uns erneut das pralle Leben umfängt.
 
Manfred Lentz (Juli 2018)
 
 
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