"Kneif mich mal!"
Duwisib - eine deutsche Ritterburg in Namibia. 2012
 
"Kneif mich mal!" Nein, das haben wir nicht gesagt, denn wir wussten, was uns erwartet. Aber als es dann so weit war, als sie hinter einer Wegbiegung vor uns auftauchte, da hatten wir doch einen Moment das Gefühl, wir würden träumen. Es gibt Dinge, die passen einfach nicht zusammen: eine Palme in der Arktis, eine Skipiste in der Sahara oder - ja, eine deutsche Ritterburg mitten im afrikanischen Namibia.
 
Dass Namibia eine deutsche Vergangenheit hat, habe ich in einem früheren Bericht geschildert (siehe Bericht 37). Von 1884 bis 1915 war das so, Deutsch-Südwestafrika lautete der Name dieser mehr als 8.000 Kilometer vom Reich entfernt gelegenen Kolonie ("Schutzgebiet" war die offizielle Bezeichnung), und es waren unsere Ur- und Ururgroßväter, die in diesem dünn besiedelten Land im Westen des afrikanischen Kontinents das Sagen hatten. Direkt am Atlantik die älteste Wüste der Welt, östlich davon karges, häufig bergiges Land, knorrige Kameldornbäume, Agaven und Kakteen und Ebenen voll dürrem Gras, über die riesige Antilopenherden dahinzogen, auf denen sich Nashörner, Leoparden und Zebras tummelten, und über allem eine Sonne, die während der heißen Sommermonate das Leben zur Qual werden ließ. Und ausgerechnet in dieser Landschaft eine Ritterburg, die man in Deutschland erwarten würde oder in Frankreich oder in irgendeinem anderen Land Europas. Nur nicht hier.
 
Mag es nun verrückt sein oder auch nicht - auf jeden Fall gibt es sie. Jeder Reiseführer erwähnt sie, zahllose Touristen statten ihr in jedem Jahr einen Besuch ab und nun also auch wir. Rund 30 Meter im Quadrat misst die im neoromanischen Stil errichtete Burg, jenem Stil, der im Reich am Ausgang des 19. Jahrhunderts so beliebt war. Ein Turm in jeder Ecke, ein weiterer über der Hauptfront, dazwischen Mauern mit Zinnenkränzen und Fenster teilweise als Schießscharten, womit der Bau einen wehrhaften Eindruck macht. Eine Reminiszenz an die Zeit vor Hunderten von Jahren, gleichzeitig ein funktionsfähiges Bollwerk gegen die einheimische Bevölkerung des Landes, die sich mit der Herrschaft einer fremden Macht nicht abfinden wollte. Keine Operettenburg also, kein Neuschwanstein für einen nostalgischen Kolonisten - nein, eine richtige Trutzburg mit der Absicht, im Ernstfall hinter ihren Mauern zu überleben.
 
 
Duwisib ist der Name der Burg, und Duwisib ist auch der Name der Guestfarm gleich nebenan, auf der wir im Jahr 2012 zwei Nächte verbringen. (Siehe Bericht 55, in dem die Farmersfrau Lilly Frank-Schultz das Leben ihrer Familie in Namibia schildert). Unser Zimmer befindet sich neben der alten Schmiede, die zeitgleich mit der Burg errichtet wurde und in der man Hufeisen für die Pferde, Eisenreifen für die Räder der Ochsen- und Maultierkarren sowie allerlei anderes angefertigt hat. Treten wir auf unsere Terrasse hinaus, haben wir die Burg im Blick, und jedesmal ist es derselbe "Kneif mich mal!"-Effekt, weil die Wirklichkeit auch nach wiederholtem Hinsehen noch immer so unwirklich aussieht. Um die Burg kümmert sich seit den 1970er Jahren der Staat. 1991 wurde sie stilgetreu restauriert, und seither ist sie ein Museum. "Where are you from?", erkundigt sich die freundliche Schwarze an der Kasse, nachdem wir unseren Eintritt bezahlt haben. "From Germany", antworten wir. "Hansheinrich von Wolf was also from Germany", entgegnet sie. Natürlich wissen wir das, aber höflicherweise heben wir die Brauen, als hätte sie uns etwas Neues erzählt. Was, so fragen wir uns, mag diese Frau denken über das skurrile Gebäude, an dessen Kasse sie Tag für Tag sitzt?
Hansheinrich von Wolf ... Spross eines alten Adelsgeschlechts, 1873 in Dresden geboren, gut aussehend, mit 198 cm sehr groß für seine Zeit, schlank und sportlich. Artillerieoffizier. 1904 auf eigenen Wunsch aus der königlich sächsischen Armee entlassen, um als Hauptmann der "Schutztruppe" nach Deutsch-Südwestafrika zu gehen, wo zu dieser Zeit Aufstände der "Hottentotten" (damals die übliche Bezeichnung für die einheimischen Völker) den Deutschen das Leben schwer machten. Während eines Heimaturlaubs drei Jahre später lernte er die vermögende Amerikanerin Jayta Humphreys kennen. Sie heirateten und beschlossen, in Deutsch-Südwest die Farm Duwisib zu erwerben und eine Pferdezucht zu beginnen. Eine gute Idee, da der Bedarf an Pferden bei der Schutztruppe erheblich war. Doch zunächst musste eine Bleibe her, und da von Wolf mit seiner Heirat gewissermaßen eine Goldgrube erschlossen hatte, entschied er sich für eine repräsentative Burg. Kein ganz ungewöhnliches Projekt im damaligen Südwest. Ein Berliner Architekt namens Wilhelm Sander hatte bereits mehrere Bauten dieser Art für deutsche Kolonisten errichtet, und so nahmen ihn die von Wolfs in ihre Dienste. Der Weg bis zur Fertigstellung der Anlage war so hart wie die Natur ringsum - keine Hütte, keine Quelle, kein Brunnen, weder Rinder noch Schafe noch Hühner, nichts von all dem, was eine Farm ausmacht. Es liegt mir fern, eine Lanze für die deutsche Herrschaft in Namibia brechen zu wollen, aber dieses Engagement zweier Menschen aus den höchsten gesellschaftlichen Kreisen, die hier unter primitivsten Verhältnissen etwas Beeindruckendes aus dem Boden gestampft haben, nötigt Respekt ab. Beinahe alles, was für den Bau gebraucht wurde, musste aus der fernen Heimat herangeschafft werden. Eisenteile, Bauholz und Zement, Werkzeuge aller Art und vieles mehr wurden per Schiff im Hafen Lüderitzbucht angelandet und anschließend mit 24-spännigen Ochsenwagen 300 Kilometer weit zum Bauplatz transportiert, die ersten hundert Kilometer davon durch die wasserlose Namibwüste. Als Arbeitskräfte fürs Grobe verpflichtete man Einheimische, die qualifizierten Handwerker kamen aus Europa, so etwa Steinmetze aus Italien oder Schreiner aus den nördlichen Ländern. Deutsche waren es, die die ersten Brunnen ins Erdreich sprengten.
 
Zwei Jahre nach Baubeginn (1909) war die Burg fertig, und ihre Einweihung gestaltete sich zu dem rauschendsten privaten Fest, das in Deutsch-Südwest bis dahin gefeiert worden war. Dass die von Wolfs nur wenige Jahre in ihrem neuen Zuhause leben würden, dass der Hausherr als Freiwilliger im Ersten Weltkrieg in Frankreich einen frühen Tod finden und seine Ehefrau danach niemals mehr nach Duwisib zurückkehren würde, konnte zu diesem Zeitpunkt niemand ahnen. Ebensowenig wie die Tatsache, dass das deutsche Kolonialabenteuer schon bald ein Ende finden würde. Alle, die Rang und Namen hatten, waren angereist, um das Geschaffene in Augenschein zu nehmen, und alle waren beeindruckt. Auch wir sind beeindruckt, mehr als hundert Jahre später, als wir die Burg betreten. Sehr repräsentativ sieht sie aus, aber gleichzeitig wirkt sie behaglich. Vom Eingang gelangt man mit wenigen Schritten in die Ritterhalle. Sie ist zweigeschossig und besitzt einen offenen Kamin, der daran erinnert, dass es während des afrikanischen Winters sehr kalt werden kann. An den Wänden hängen eine Sammlung wertvoller Waffen sowie die ausladenden Gehörne eines Kudus und einer Elenantilope. Eine schmale Treppe führt zur "Sängergalerie" hinauf und von dort in das Rauchzimmer, das in einem Haus, dessen Herr auf sich hielt, nicht fehlen durfte. Seitlich an die Ritterhalle schließen sich die Wohnräume an, jeder mit kostbaren Möbeln bestückt, mit Perserteppichen, Gemälden und Kunstwerken aller Art sowie mit Fotografien, die unter anderem die einstigen Bewohner dieser Räumlichkeiten zeigen. Dass auch dem deutschen Kaiserhaus Respekt gezollt wurde, beweist ein Ölgemälde des Kronprinzen Wilhelm. Auf kurzem Weg gelangt man in einen Innenhof mit einem Springbrunnen, mit Palmen und anderen schattenspendenden Bäumen, eingerahmt von einem von toskanischen Säulen getragenen Umgang. Es ist eine Szenerie, bei der allein die schwarzen Beschäftigten daran erinnern, in welchem Teil der Erde man sich befindet.
 
 
Dass es in der Burg auch einen Weinkeller gibt, dürfte kaum überraschen. Hier lagerten die aus Deutschland und Frankreich importierten Weine, die erlesenen Cognacs und die süßen Liköre sowie der Champagner, wobei der Durchlauf dieser Getränke angesichts der großzügigen Gastfreundschaft des Ehepaars von Wolf und seiner Freude an Festen zweifellos beträchtlich gewesen sein dürfte. Als wir das kühle Gewölbe verlassen und in die Ritterhalle zurückkehren, begegnet uns eine englischsprachige Reisegruppe. Noch im Laufen beginnt ihr Führer mit seinen Erklärungen. Manche seiner Worte werden mit Schmunzeln aufgenommen - etwa die Erwähnung, dass der Hausherr seinen Ochsen die Namen deutscher Beamter verlieh oder wie er einst ein ausgesucht hässliches Mädchen als Dienstmagd aus Deutschland holen ließ, nachdem die hübschen, die man ihm zuvor geschickt hatte, noch auf der Schiffsreise oder kurz nach ihrer Ankunft in dem weitgehend frauenlosen Land (gemeint sind die weißen) von deutschen Siedlern weggeheiratet worden waren.
 
Am Abend sitzen wir auf unserer Terrasse und beobachten, wie die Sonne über den Hügeln tiefer sinkt. Leichter Wind spielt in dem strohgelben Gras, das in diesem Jahr infolge des reichlichen Regens üppiger als sonst steht. In einiger Entfernung zieht eine Herde Springböcke vorüber. Auf der Pad, der Schotterpiste, kündet eine Staubwolke davon, dass trotz der fortgeschrittenen Zeit noch jemand unterwegs ist. Vermutlich handelt es sich um einen der wenigen Farmer aus dieser Gegend, denn Maltahöhe, der nächstgelegene, fast hundert Kilometer entfernte Ort, wäre erst lange nach Anbruch der Dunkelheit zu erreichen. Ein paar hundert Meter weiter leuchten die roten Sandsteinquader der Burg in der Abendsonne. "What a crazy man!", hatte eine Frau aus der Reisegruppe in der Ritterhalle ausgerufen, als sie die Geschichten über Hansheinrich von Wolf gehört hatte. Nun, crazy im eigentlichen Wortsinn war von Wolf ganz gewiss nicht, betrachtet man die Erfolgsstory seiner Burg. Aber ein bisschen verrückt war er wohl schon, denn um ein solches Bauwerk in die afrikanische Wildnis zu setzen, muss man ganz einfach ein wenig verrückt sein. Aber wie auch immer - für das heutige Namibia und für die Scharen neugieriger Touristen ist dieser skurrile Nachlass eines deutschen Abenteurers auf jeden Fall ein Gewinn.
 

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