Cowboys, Kutschen und Corsagen
In den Old Tucson Studios in Arizona wird der Wilde Westen lebendig. USA 2011
 
Da preschen sie in wildem Galopp auf ihren Pferden heran, in den stolz gereckten Händen die Fahne der Konföderierten, im Hintergrund schroffe Berge und riesige Saguaro-Kakteen so weit das Auge reicht. Gleich darauf taucht mit den Truppen der Union der verhasste Feind auf, Gewehrschüsse krachen, und die ersten Opfer sinken getroffen zu Boden. Schließlich das Aufeinanderprallen der zu allem entschlossenen Männer, denen die Tapferkeit ins Gesicht geschrieben steht. Ein Kampf entbrennt, Mann gegen Mann. Kein richtiger Kampf allerdings. Es ist das Jahr 1951, und der amerikanische Sezessionskrieg der Jahre 1861 bis 1865 ist lange vorbei. Die da kämpfen sind überwiegend Komparsen, bei den Hauptakteuren handelt es sich um Schauspieler. Einer von ihnen - er verkörpert den Captain Vance Britton - ist der spätere amerikanische Präsident Ronald Reagan.
 
 
Ein Film aus dem Süden der USA, der teils in offener Landschaft gedreht wurde, teils auf dem Gelände der Old Tucson Studios. Nicht in Hallen, wie man bei dem Begriff "Studios" vermuten könnte, sondern in einer Anlage unter freiem Himmel, rund zwanzig Kilometer von der heutigen Stadt Tucson entfernt in der Sonora-Wüste gelegen. In jener Wüste mit den großen, zumeist vielarmigen Saguaro-Kakteen, auf die ich an anderer Stelle bereits eingegangen bin (siehe Bericht 2 und Bericht 82). Da sich die Landschaft perfekt für das seinerzeit so beliebte Western-Genre eignete, haben Filmleute im Jahr 1939 an dieser Stelle die Kopie einer alten Wildwest-Stadt aus dem Boden gestampft. Inzwischen sind 75 Jahre vergangen, eine lange Zeit, in der an diesem Ort mehr als 300 Western wie "Rio Bravo" und "Tombstone" gedreht wurden, TV-Produktionen wie "Bonanza" und "High Chaparall", aber auch andere Filme wie der Streifen "Lilien auf dem Felde" mit Sidney Poitier. Überhaupt ist die Liste berühmter Schauspieler lang, die hier teils mit, teils ohne Colt gewirkt haben: Bing Crosby und Ingrid Bergman etwa, Burt Lancaster und Kirk Douglas, Clint Eastwood und Charles Bronson sowie in neuerer Zeit Sharon Stone, Gene Hackman und Leonardo DiCaprio. Vor allem aber jener erfolgreiche, bestbezahlte Hollywoodschauspieler, der wie kein anderer das Bild des raubeinigen Westernhelden geprägt hat und der gleich in vier an diesem Ort gedrehten Filmen eine Hauptrolle spielte: John Wayne.
 
Es ist der Sommer 2011, als wir den Old Tucson Studios - heute ein Freizeitpark - einen Besuch abstatten, und die heiße Arizona-Sonne brennt uns gnadenlos auf den Kopf. Wenn ich in früheren Jahren gelegentlich einen Western angeschaut habe, stellte ich mir oftmals die Frage, warum die Protagonisten immer so schnell in den Saloon eilten. Jetzt weiß ich es. Gewiss war es auch der obligatorische Whisky, der sie motivierte, zweifellos auch die Suche nach willigen Mädchen, oft jedoch dürfte die sengende Hitze der entscheidende Grund gewesen sein. Als wir durch die Tür treten, umfangen uns dämmriges Licht und eine angenehme Kühle, am Tresen erwartet uns ein perfekt temperiertes gezapftes Bier. Erschöpft vom Umherschlendern in den staubigen Straßen lassen wir das kühle Nass durch unsere Kehlen rinnen und genießen das nostalgische Ambiente. Und als wenig später eine Show beginnt und Frauen in bunten Kleidern und mit aufreizenden Corsagen laszive Tänze aufführen - Frauen von jener Art, die den harten Kerls von damals stets eine Prügelei wert waren -, haben wir vollends das Gefühl, auf einer Zeitreise zu sein.
Nach einem weiteren Bier und dem Ende der Show zurück auf der Straße, kommt uns in schneller Fahrt eine von zwei Pferden gezogene Postkutsche entgegen. Sand spritzt auf, als sie vor dem "Big Jake's Bar-B-Q" stoppt, zweifellos kein authentisches Restaurant - wenngleich in einem historisierenden Gebäude -, sondern ein Zugeständnis an uns hungrige Touristen. Rund fünfzig Gebäude bildeten anfänglich die kleine Stadt, mit jedem Film kamen weitere hinzu. Inzwischen gibt es ein Hotel (kombiniert mit dem Saloon), eine Town Hall für die Verwaltung, das Haus des Marshalls, eine Schmiede und eine Druckerei für die örtliche Zeitung, dazu Einkaufsläden, in denen Verkäuferinnen mit traditionellem Outfit moderne Produkte anbieten. Käufer sind die zahlreichen Besucher dieser Gegend im südlichen Arizona, von denen vermutlich die meisten einen Abstecher zu diesem "Hollywood des Ostens" machen. Kombiniert mit unserer Fantasie, ist das Ergebnis dieser Wiederbelebung der Geschichte beeindruckend: Ging da nicht eben der Sheriff über die Straße? Wer sind die Halunken dort drüben, die mit ihren Stiefeln die Schwingtür zum Saloon auftreten und einen streitlustigen Eindruck machen? Und haben wir da nicht gerade ein paar Schüsse gehört? Unversehens ist aus der Fantasie Realität geworden, denn es wurde tatsächlich geschossen. Nicht scharf, versteht sich, aber dennoch hat es einen Mann von den Beinen gerissen. Er ist verletzt und blutet, angeschossen von einer Westernlady in langem Ledermantel und mit einer Waffe in der Hand. Ort des Geschehens ist der Platz vor der Town Hall. Dort gibt es genügend Raum für die Besucher, die sich zu der nachmittäglichen Vorführung eingefunden haben, um so viel nachgestellte Authentizität wie möglich mit nach Hause zu nehmen. Gut und Böse im Kampf gegeneinander - es ist dasselbe uralte Spiel, das auch heute noch immer wieder gespielt wird. Dass die Guten in der Show am Ende gewinnen, ist klar, denn so war das nun einmal in den alten Western, deshalb muss es auch in der modernen Fassung so sein. Zum Schluss hängen sie den Schurken kurzerhand an den Galgen - beinahe jedenfalls, denn in allerletzter Sekunde prescht ein Reiter heran, durchschießt den Strick, und das actionreiche Spiel nimmt erneut Fahrt auf. Begleitet wird es von Wortwechseln, die wir nicht verstehen - hätten wir im Englischunterricht nur besser aufgepasst! -, was allerdings nicht allzu wichtig ist, da sich die blutrünstige Handlung von selbst erschließt. Schade nur, dass nicht noch Charles Bronson um die Ecke kommt und auf seiner Mundharmonika spielt. Dann wäre die Szene perfekt.
 
 
Wäre der Schurke gehängt worden, hätte man seinen Leichnam in einem grob gezimmerten Sarg auf dem kleinen Friedhof gleich nebenan unter die Erde gebracht. In eine Gesellschaft, in die er sich bestens eingefügt hätte: "Billy Clanton, killed Oct. 26 1881" steht auf einer hölzernen Gedenktafel, "Frank McLaury, killed" auf einer anderen, wobei das Datum dasselbe ist - wohl der beste Beweis, dass dieser Wüstenflecken kein Ort für Weicheier war. Nicht weit entfernt von dem Friedhof steht eine Lok, eine ganz besondere, die vermutlich die meisten von uns schon einmal bewusst oder unbewusst gesehen haben: "The Reno", eine Dampflokomotive Baujahr 1872, die in Hunderten von Filmen eine stumme Rolle gespielt hat. Ich klettere in den Führerstand und bin dort, wo ich als kleiner Junge schon immer gern sein wollte. Im Jahr 1970 haben die Studios die Lok erworben, und die Zahl der Besucher, die seither dasselbe Kribbeln erlebt haben wie ich, dürfte inzwischen Legion sein. Zehn Jahre älter als die Anschaffung der Lok ist der Freizeitpark selbst. 1960 wurde die Filmstadt für die Öffentlichkeit freigegeben und mit zusätzlichen Publikums-Attraktionen versehen. Ein großer Brand im Jahr 1995 zerstörte Teile der Anlage, die jedoch schon bald wieder aufgebaut wurden. Neue Gebäude kamen hinzu, und heute heißt die kleine Stadt wie zuvor in jedem Jahr Hunderttausende Besucher willkommen. Ein Ort ausschließlich für Touristen ist sie indes nie geworden, bis heute blieb ihre Funktion als Drehort für Filme erhalten.
 
Ob die Männer mit ihren Colts einander auch tot schießen könnten, will ein Knirps von seinem Vater wissen. Die Frage lässt mich an ein Schild denken, das wir tags zuvor in Tucson - der neuen Stadt mit rund einer Million Einwohner - gesehen haben. Ein Schild an der Eingangstür eines Lokals, das das Mitbringen von Waffen untersagte. Nein, beruhigt der Vater seinen Sohn. Die Männer, die hier in dieser Westernstadt herum liefen, trügen zwar Waffen, in denen befände sich aber keine Munition. "Selbstverständlich" würden wir in Deutschland hinzufügen, "glücklicherweise" in den USA, denn selbstverständlich erscheint dieser Umstand in den Vereinigten Staaten durchaus nicht. Es ist die Tradition eines Mannes mit einer Waffe, die an diesem Ort jahrzehntelang filmisch umgesetzt wurde und die auch heute noch einen Einfluss auf die amerikanische Psyche ausübt. Nach dem Motto: Ein Mann ist nur dann ein richtiger Mann, wenn er sich zur Wehr zu setzen vermag, und falls nötig nicht nur mit Fäusten. Und zugegeben - irgendetwas haben sie schon, diese durchtrainierten, sonnengegerbten Kerle, die sich in jeder bedrohlichen Situation zu wehren wissen und die sich nicht wie unsereins bei jedem zugeworfenen bösen Blick am liebsten gleich unsichtbar machen würden. Vermutlich war es der Wunsch unzähliger Männer, diesen stahlharten Burschen zu gleichen, der den Erfolg der Westernfilme überhaupt erst möglich gemacht hat. Filme mit einem Höhepunkt in den 1950er und 1960er Jahren, die aber auch heute noch ihre Anhängerschaft haben. Die Old Tucson Studios in der Wüste von Arizona sind ein idealer Ort, um die Luft zu schnuppern, in der diese Filmwelt entstand. Oder um es mit dem Motto der Studios zu sagen: "Where the Spirit of the Old West Comes Alive!"
Manfred Lentz
 

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