Die Galatabrücke -
mehr als nur die kürzeste Verbindung zwischen
 A und B. Istanbul 1981 und 2010
 
Es hätte ein lokales Idyll sein können: Auf den drei fest im Wasser verankerten Imbiss-Schiffen am Ende der Galatabrücke im Herzen Istanbuls verkaufen sie gebratene Fische, die von den Anglern, die wie üblich in großer Zahl die Brücke bevölkern, gerade eben gefangen wurden. Direkt vom Wasser in den Mund sozusagen. Aber leider ist diese Vorstellung nur eine Fantasie, die Realität sieht ganz anders aus. "Von wo sind Fische?", wiederholt der Verkäufer meine Frage, während er mit dem Geschick vieltausendfacher Wiederholung gegrillte Filets, Brötchen, Tomaten, Zwiebeln und Salat in einen leckeren Imbiss verwandelt. Er spricht leidlich Deutsch, lebte einige Zeit in Hamburg und ist erst kürzlich in seine Heimatstadt am Bosporus zurückgekehrt - jetzt, da er ein alter Mann ist, ergänzt er, und präzisiert: 54 Jahre. Eine Formulierung, die mir - acht Jahre älter - nicht sonderlich gefällt. "Sind Fische wie kleine Makrelen", erklärt er. "Sind aus Norwegen und Holland." Ich krause die Stirn. "Die sind nicht von hier?", frage ich und deute auf die Angler und auf das Wasser in seinem Rücken. Auf das Goldene Horn, wie die Bucht heißt. Er lacht, und die Art, wie er das tut, zeigt mir, wie naiv ich bin. Ich zucke mit den Achseln, murmele ein verlegenes "Na klar" und mache mich ein wenig zerknirscht über mein Fischbrötchen her.
 
 
Später auf der Brücke, wo die Angler noch immer dicht an dicht stehen und keiner den Anschein erweckt, als wolle er in den nächsten Minuten seine Siebensachen zusammen packen und gehen. Angler gehören zu dieser Brücke wie der Stern zum Halbmond auf der türkischen Flagge. An ihren Fangergebnissen kann es dabei gewiss nicht liegen. Manchmal, so erfahren wir, gibt es Schwärme von Sardinen, doch meist halten die sich woanders auf und nur einzelne Fische sind im Goldenen Horn unterwegs. Letzteres scheint an diesem Tag der Fall zu sein mit der Folge, dass die Zahl der gefangenen Exemplare in den Eimern kaum die Zahl der Angler auf der Brücke übersteigt. Überdies sind die Fische auch noch recht klein. Allerdings scheint dieser Umstand niemanden der Anwesenden zu irritieren. Mal gleichmütig vor sich hin starrend, mal in angeregtem Gespräch mit einem Nachbarn vertieft, lehnen die Männer an dem Geländer und "baden ihre Würmer", wie ein Bösmeinender das vermutlich nennen würde. Viele von ihnen kommen seit Jahren hierher. Für sie ist die Brücke ein Ort der Entspannung und der Kommunikation. Für manchen ist diese Gemeinschaft wohl auch ein Ersatz für eine Familie.

Die Galatabrücke von 1981

Von unserem Hotel können wir die Brücke sehen, und in der Woche unseres Aufenthaltes in der Stadt überqueren wir sie mindestens einmal am Tag. Der Weg dorthin ist nicht weit. Ein kurzes Stück die vielbefahrene Hauptstraße entlang, in der sich eine Eisenwarenhandlung an die andere reiht, rechts ab durch ein paar verwinkelte Gassen und über einen leicht vergammelten, von zahlreichen Katzen bevölkerten Platz, dann durch einen kleinen Fischmarkt, ein paar Imbissstände, deren Gerüche uns jedes Mal das Wasser im Munde zusammen laufen lassen, und schon haben wir die Brücke erreicht. 500 Meter ist sie lang. Ihr Alter beträgt erst 22 Jahre, doch es gab Vorgänger, vier an der Zahl, die bis in das Jahr 1845 zurück reichen. Wobei die Idee zu einer Brücke an dieser Stelle sogar noch weit älter ist und aus der Zeit stammt, als sich die Türken nach der Eroberung der Stadt im Jahr 1453 anschickten, aus dem ehemals christlichen Konstantinopel ihre eigene muslimische Stadt Istanbul zu machen. Rund fünfzig Jahre nach der Eroberung hatte das Renaissance-Genie Leonardo da Vinci im fernen Florenz davon gehört, dass Sultan Bayezid II. eine Brücke über das Goldene Horn zu bauen beabsichtigte, das die beiden Teile der Stadt voneinander trennte. Leonardo entwarf eine Brücke und übersandte dem Sultan seinen Plan, doch Bayezid bedachte einen anderen mit seiner herrscherlichen Gunst, ebenfalls ein Genie und ebenfalls beheimatet in Florenz: Michelangelo Buonarotti. Doch der scheiterte an Fragen der Religion. Zum einen hegte er die Befürchtung, bei seinem Erscheinen in der Stadt von den Moslems zur Annahme ihres Glaubens gezwungen zu werden, zum anderen bedrohte ihn der Papst für den Fall, dass er dem Sultan zu Diensten sein sollte, mit der Exkommunikation. Michelangelo lehnte das Angebot ab mit der Folge, dass beide Teile der Stadt auch weiterhin nur durch Fähren miteinander verbunden waren: auf der einen Seite der Bucht der Palast des Sultans mit Moscheen und Basaren, auf der anderen - gerade mal einen halben Kilometer entfernt - die Siedlung der Europäer mit ihren christlichen Gotteshäusern, den Vertretungen ihrer ausländischen Kaiser- und Königreiche und den Kontoren der Kaufleute, die auch nach dem Umschwung von 1453 weiterhin diesen Teil der Stadt prägten.

Die Galatabrücke von 2010

Knapp vierhundert Jahre hielt dieser Zustand an, dann vermochten die Fähren den gestiegenen Verkehr zwischen beiden Teilen nicht länger zu bewältigen. Erneut keimte der Gedanke an eine Brücke auf. Im Jahr 1845 wurde die erste gebaut, eine aus Holz. Ein paar Jahre später wurde ein Besuch des französischen Kaisers zum Anlass genommen, sie zu erneuern. Es folgten zwei Brücken aus Eisen: die erste im Jahr 1875, von einer britischen Firma errichtet, die zweite 1912 von der deutschen Firma MAN. Anders als ihre Vorgänger bestand letztere nicht mehr nur aus einer, sondern aus zwei Etagen - ein Konstruktionsprinzip, an dem 1992 festgehalten wurde, als die fünfte und bis heute letzte Galatabrücke entstand, diesmal von der Firma Thyssen errichtet. Eine kombinierte Verkehrs- und Erlebnisbrücke.
 
Wir sitzen vor einem Lokal dicht am Wasser, über uns die obere Etage der Brücke, auf der bei Tag und Nacht der Verkehr braust. Mit acht Fahrspuren für Autos und zwei Gleisen für die Straßenbahn ist die Galatabrücke eine der am stärksten frequentierten Verkehrsverbindungen Istanbuls und dabei stets ein Nadelöhr. In der unteren Etage der Brücke hat sich die Gastronomie breit gemacht, Restaurants und Cafés, die sowohl bei der einheimischen Bevölkerung als auch bei den Touristen ein beliebter Anlaufpunkt sind. Fischgerichte aller Art sind im Angebot, kräftig gewürzte Köfte, Kebap vom Spieß und vieles mehr, dazu gibt es Tee oder wahlweise auch Bier und Raki, wobei es keineswegs nur die nicht-moslemischen Touristen sind, die diesen Getränken gern und auch reichlich zusprechen. Aber es ist nicht allein das kulinarische Erlebnis, das den Reiz dieser orientalischen "Fressmeile" ausmacht - vor allem die Ausblicke sind es, die einen Besuch in den Lokalen zu einem Erlebnis der besonderen Art werden lassen. Von welcher Seite der Brücke man den schönsten Ausblick hat, ist Geschmackssache. Großartig sind beide - hier das Goldene Horn mit der Altstadt, den Moscheen und dem Galataturm, dort die Halbinsel mit dem Sultanspalast und der Hagia Sophia, dem modernen Istanbul, an dessen Anlegestellen oft riesige Kreuzfahrtschiffe liegen, die weite Wasserfläche des Bosporus' und des Marmarameers sowie am jenseitigen Ufer der andere Kontinent, auf dem jeder dritte Einwohner der 14-Millionen-Stadt seinen Wohnsitz hat: Asien.
 
 
Im Jahr 1981 war ich das erste Mal in Istanbul, und ich kann mich gut an die dicken schwarzen Wolken erinnern, die die Dampfer aus ihren Schornsteinen bliesen und an den Gestank, der von ihnen ausging. Dreißig Jahre später ist das anders. Die Dampfer sind sauberer geworden, kein Dreck mehr, der das Auge beleidigt, und auch die Lungen können freier atmen. Die Zahl der Schiffe indes, die zwischen den zahlreichen Anlegestellen hin- und herpendeln, ist immer noch groß. Doch wie sollte das auch anders sein in dieser riesigen Stadt mit so viel Wasser zwischen ihren 39 Stadtteilen. Ob der Mann auf der Brücke, dem wir am letzten Tag unseres Aufenthaltes begegnen, sich noch an die Zeit mit den stinkenden Dampfern erinnern kann? Von seinem Alter her wäre das möglich, aber vielleicht ist er ja ein Zuzügler, der wie unzählige andere in den letzten Jahren aus der Provinz in die Stadt gezogen ist, auf der Suche nach Arbeit und einem besseren Leben. Letzteres hat dieser Mann wohl eher nicht gefunden, geht man von seiner Arbeit aus: Er ist Herr über eine Personenwaage, deren Dienste er den vorbei eilenden Passanten anpreist. Mehr aus Mitleid denn aus Neugier machen wir ein paar Münzen locker und steigen auf seine Waage - und bekommen einen Schreck, denn natürlich haben die Köstlichkeiten der türkischen Küche ihren Tribut gefordert. Aber was soll's - Urlaub ist Urlaub. Und deshalb steuern wir, nachdem wir dem Mann mit einem immer noch unsicheren tesekkür ederim gedankt haben, noch einmal unser Stammlokal der letzten Tage an, das Lokal mit dem frisch gezapften süffigen Bier und dem herrlichen Blick auf das Goldene Horn. Ganz bewusst haben wir für unseren letzten Besuch gerade diese Seite gewählt, ist dies doch die Richtung, in der die Sonne untergeht. Und so sitzen wir denn ein letztes Mal auf dieser Reise in der unteren Etage der Brücke, über uns der alltägliche Verkehr, linker Hand die Moscheen mit ihren schlanken Minaretten, rechts der Hügel mit dem Gassengewirr, das sich zu dem klobigen Galataturm hinauf zieht. Wie stets hängen die Leinen der Angler in unserem Blickfeld, Möwen durchschneiden mit kühnen Flugmanövern die Luft, und die Schiffe pflügen mit der üblichen Betriebsamkeit durch das Wasser, während die Sonne mit jedem Schluck Bier ein Stück tiefer sinkt und dabei die ganze dreidimensionale Welt in einen Scherenschnitt verwandelt. Einmal mehr sind wir beeindruckt, was für ein gelungener Wurf diese Galatabrücke ist. Mag sie von der Architektur her auch nicht die schönste aller Brücken sein, so machen ihre einzigartige Lage und ihre spezielle Konstruktion mit den zwei unterschiedlich genutzten Ebenen sie doch zu einer der interessantesten weltweit. Schade nur, dass dies unser letzter Abend in Istanbul ist!
 
Manfred Lentz
 
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