Vögel, Elefanten und eine
fliegende Schlange.
Chiang Mai ist das große Tourismuszentrum im Norden Thailands. 1989 und 1993
 
Der Schrecken ist groß, als die Schlange durch die Luft fliegt. Geworfen von einem der Jungs mit den schwarzen Hosen und den weißen Hemden, die mit den Schlangen so unbekümmert hantieren wie unsereins mit dem Gartenschlauch. Deutlich erkennt man die Form des Reptils, das aus der Mitte der kleinen Arena direkt auf die Zuschauer zuhält, genau an der Stelle, an der sie am dichtesten sitzen. Noch in demselben Augenblick, als sich die Schlange aus der Hand des Mannes löst, reißen zwei Dutzend Männer, Frauen und Kinder abwehrend die Arme in die Höhe, einige von ihnen stoßen Schreie aus. Aufkommende Panik hängt in der Luft, während die Schlange auf sie zufliegt, nein zurast, denn alles geht wahnsinnig schnell, nicht einmal zwei Sekunden, in denen der Adrenalinspiegel der Zuschauer von 0 auf 100 explodiert. Und dann? Was geschieht dann, als die Schlange mitten unter ihnen landet? Ich will es spannend machen, also gedulden Sie sich bitte noch ein wenig. Zunächst will ich der Reihe nach erzählen.
 
Chiang Mai ist der Name der Stadt, in der wir uns befinden, 1989 und vier Jahre später noch einmal. Chiang Mai hat gut 100.000 Einwohner und liegt im Norden Thailands. Bis zum "Goldenen Dreieck" ist es nicht weit, jenem Gebiet, das jahrzehntelang geradezu ein Synonym für den Handel mit Heroin war, das inzwischen jedoch vom Mittleren Osten, vor allem von Afghanistan abgelöst wurde. In Chiang Mai gibt es viel Sehenswertes, darunter etwa 200 buddhistische Klöster, von denen einige der Öffentlichkeit zugänglich sind. Und es gibt Souvenirs, Souvenirs und noch mal Souvenirs - so viele, wie wir davor und danach nie wieder in einer anderen Stadt gesehen haben. Ob Schnitzereien aus Holz, Bronzefiguren, Seidenstoffe oder Lackarbeiten - all das und noch viel mehr gibt es hier, nicht zuletzt auch jene farbenfreudigen Schirme aus Papier, deren Herstellung ich in einem früheren Bericht beschrieben habe. Auch als Stadt guten Essens ist mir Chiang Mai in Erinnerung, eine breite Auswahl, die von der leckeren und vielseitigen Thaiküche bis zum "Hofbräuhaus" eines deutschen Wirts reicht, in dem gekocht wird "wie bei Muttern" und in dem Thaimädchen in zünftigen Dirndln Schlachteplatten und Fassbier servieren.
 
 
Ach, und dann ist da noch die Frau mit den Vögeln. Keine Besonderheit von Chiang Mai, aber hier haben wir die Sache das erste Mal gesehen. Jeweils zwei Vögel in winzigen Körbchen, in denen sie so lange ausharren müssen, bis jemand sie der Frau abkauft und in die Freiheit entlässt, wobei er ihnen einen Wunsch mit auf die Reise geben kann. Unsere beiden Vögel hüpfen zwar nach gutem Zureden aus ihrem Körbchen, denken aber gar nicht daran, unsere Wünsche irgendwohin zu transportieren, sondern bleiben sitzen - und landen vermutlich sofort wieder in ihrem Gefängnis, nachdem wir verschwunden sind. Und da dachten wir immer, Buddhisten seien besonders tierliebe Menschen ...
 
"Wollen Ausflug machen?", sprechen uns wiederholt Männer auf der Straße an, jedes Mal sofort auf Deutsch. Woher wissen die eigentlich, dass wir Deutsche sind? Wenn wir gerade mit unsicherem Gang aus dem "Hofbräuhaus" kämen - ok. Aber sonst? Wir können ihr Geheimnis nicht ergründen, irgendeine uns unbekannte Fähigkeit muss es sein. Nachdem wir bereits mehrmals dasselbe gefragt wurden und als auch noch der Wirt unseres Guesthouses sich nachdrücklich erkundigt, ob wir schon einen Ausflug unternommen hätten, entschließen wir uns, genau das zu tun. Einen Ausflug zum "Working Elephant Camp - very good!" und zur "Snake Farm - not dangerous!" Doch Individualreisende aus Überzeugung, die wir nun einmal sind, verzichten wir auf eine organisierte Bustour und handeln stattdessen einen Deal mit einem Taxifahrer aus. Wir einigen uns auf 400 Baht (etwa 30 DM) für den ganzen Tag, das sei "not too much", sagt er, denn alles sei "very interesting" und "we will like it". Also rein in das Taxi und dem ersten unserer beiden Ziele entgegen. Den Elefanten.
Das Timing hätte kaum besser sein können, denn als wir ankommen, werden die Besucher von den Dickhäutern gerade mit einem Schild "Welcome to Maesa Elephant Camp" begrüßt, danach geht die Show auch schon los. Zwei Elefanten ziehen mittels Ketten einen Baumstamm hinter sich her, einen so langen und dicken, dass es wohl einer größeren Zahl superstarker Männer bedurft hätte, die gleiche Leistung zu erbringen. Für die Elefanten hingegen scheint diese Aktion eine Kleinigkeit zu sein. Sie schleifen den Stamm dorthin, wo ihre Mahouts es von ihnen verlangen, und legen ihn ab. "Mann, sind die stark!", staunt ein Knirps neben uns, einer von rund zweihundert Zuschauern, die sich zu dem Spektakel eingefunden haben. Touristen wie wir, vermutlich aus nahezu zweihundert Ländern, denn Chiang Mai ist eine Stadt, die in aller Welt das Image "sehr sehenswert" genießt. Die Menge hat sich rund um den Vorführplatz verteilt, in der Mitte tummelt sich ein Dutzend Elefanten, wahre Kraftprotze die meisten, aber auch kleinere sind dabei, die alle "so süß" finden, "so niedlich" oder "so putzig". Begriffe, die dem bereits recht beträchtlichen Volumen dieser Kleineren kaum angemessen sind, aber sei's drum. Während die älteren arbeiten müssen, dürfen die Youngster sich noch weitgehend dem Nichtstun hingeben und die Aufmerksamkeit, die ihnen die Zuschauer entgegen bringen, genießen.
 
Drei Elefanten wuchten einen Baumstamm auf ein Gestell, anschließend folgt die Nummer mit dem hingehaltenen Rüssel, über den ein Mahout auf den Rücken seines Tieres steigt. Glücklicher Elefant, dass die Mahouts üblicherweise schlanke Burschen sind, denn wollte das Tier womöglich den dicken Japaner mit den drei umgehängten Kameras hoch heben, so könnte diese Übung leicht mit einem Rüsselknick enden. Endet sie in diesem Fall aber nicht, denn der Dicke darf zwar fotografieren, aber das ist auch schon alles. Halt, nicht ganz, denn nachdem die Elefanten ihr Programm absolviert haben - einschließlich des Badens, das sie unverkennbar als ein ganz besonderes Vergnügen empfinden -, darf er sie auch noch füttern. Mahouts mit Obst stehen bereit, und für ein paar Baht dürfen die Besucher den Elefanten Bananen und anderes ins Maul schieben. Streicheln dürfen sie die Tiere auch, zwischen ihnen herumgehen und sich mit ihnen fotografieren lassen, das ganze volle Programm also, das Elefanten liebende Touristen in einem Elephant Camp eben erwarten. Auch reiten dürfen sie - doch noch bevor wir den Gedanken an einen eigenen kleinen Ritt überhaupt äußern können, bremst uns unser Fahrer bereits mit dem Hinweis, das hier sei viel zu sehr eine Massenabfertigung, es gäbe da etwas Besseres, und wenn wir reiten wollten, dann seien wir dort genau richtig. Dass an dem empfohlenen Ort eine weitere Schlepper-Provision auf ihn wartet, sagt er natürlich nicht, muss er auch nicht, denn wir wissen es auch so. Da Karin unbedingt reiten will - Frauen haben meiner Beobachtung nach eine ganz besondere Affinität zu Elefanten -, sitzen wir wenig später auf einem dieser Kolosse und werden "hoch zu Elefant" von einem Mahout auf einem Trampelpfad eine Stunde lang durch die Landschaft geführt.
 
 
Es folgen die Schlangen. "Maesa Snake Farm" steht auf dem Schild am Eingang, und damit auch die des Englischen Unkundigen begreifen, worum es geht, sind ein paar Schlangen neben den Namen gemalt. Die Vorführung beginnt, als die kleine Arena halb voll ist, ein paar Dutzend Zuschauer, von denen die meisten vermutlich schon bei den Elefanten unterwegs waren. Da Schlangen etwas Geheimnisvolles und Unheimliches anhaftet und viele von ihnen zudem äußerst gefährlich sind, ist die Tonlage des Moderators der Show mit einer Spannung geladen, die ihm als Ansager eines Gruselfilms im Deutschen Fernsehen alle Ehre machen würde. Er sagt ein paar Sätze über Schlangen ganz allgemein, zählt auf, welche Arten es auf der Farm gibt und berichtet, dass man ihnen regelmäßig Gift für medizinische Zwecke abzapft. Dann erscheinen seine Kollegen und präsentieren dem Publikum einige ihrer Schützlinge. "Very dangerous", versichern sie dazu, und "dead in two minutes", was grundsätzlich durchaus stimmen mag, doch jetzt, da sie die Schlangen präsentieren, sehen diese eher harmlos und teilweise sogar träge aus. Zweifellos nutzt man Tricks, um selbst noch die gefährlichsten Exemplare auf harmlos zu trimmen, aber wer könnte den Jungs das verdenken, denn wer würde für ein paar Baht schon gerne sein Leben riskieren. Die naheliegende Frage, warum man es bei solchen Vorführungen überhaupt riskieren muss, bleibt offen. Artgerechte Tierhaltung und artgerechter Umgang mit ihnen sind in jenen Jahren halt noch kein Thema. Anders als heute, wie etwa die Kommentare der User nach der Eingabe von "Maesa Snake Farm" in Google beweisen. Damals jedoch ist nur Action angesagt - erst die kleinen Schlangen, also Kobra & Co., dann die dicken, die Würgeschlangen vom Typ Boa constrictor. Neben einigen anderen Touristen melde auch ich mich - was mir beim Schreiben dieser Zeilen höchst peinlich ist - und lasse mir eine Boa um den Hals legen. Ein merkwürdiges Gefühl - einmal gewürgt, und das war's. Doch auch dieser Schlange hat man ihr natürliches Verhalten ausgetrieben, denn sie versucht es nicht ein einziges Mal. Stattdessen macht sie einen zufriedenen Eindruck, als sie nach der Vorführung endlich wieder in ihren Korb darf. Als die Show beendet ist, brandet Applaus auf, die Jungs verbeugen sich artig - und plötzlich geschieht das, was ich eingangs geschildert habe: Eine Schlange fliegt durch die Arena auf eine Gruppe von Zuschauern zu. Die erschrecken sich heftig, und vermutlich ist es nur dem Zufall geschuldet, dass keiner von ihnen einen jähen Herztod erleidet. Doch dann halten auf einmal alle inne, Überraschung zeichnet sich auf den Gesichtern, und schon beginnen die ersten zu lachen. Schließlich finden die meisten es irgendwie witzig, was die Jungs da gerade getan haben: die Touristen erschreckt mit einem auf die Länge einer Schlange zugeschnittenen dicken Seil. Nachdem wir zuvor so viele Schlangen gesehen hatten, gingen wir natürlich alle davon aus, dass das Heranfliegende nur eines dieser Tiere sein konnte. Was aber selbstverständlich nicht der Fall war. Doch das ist die Logik. Die braucht etwas länger, während der Instinkt blitzschnell reagiert. Ein Phänomen, ohne das die Menschheit längst ausgestorben wäre.
 
Am nächsten Tag brechen wir von Chiang Mai zu einer dreitägigen Fahrt auf einem Floß auf.

Manfred Lentz
 
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