"Ertrunken in der Wüste"
Auch in der Sahara gibt es Wasser.
Algerien 1980-1991 (Teil 2)
 
Wasser ist Leben, sagen die Tuareg. Wenn man leben will, muss man es sich also beschaffen, was in der Wüste bekanntlich keine einfache Sache ist. Zwar kommt Wasser auch an der Oberfläche vor, in Teil 1 dieses Berichts habe ich darüber geschrieben. Üblicherweise ist es jedoch verdeckt. Überlagert von Geröll, Felsen und Sand. Grundwasser. In welcher Tiefe man es finden kann, ist unterschiedlich. Sind es an einer Stelle nur wenige Meter, bis man auf das lebenspendende Nass stößt, so können es an einer anderen Stelle Dutzende oder gar Hunderte sein. Hat man welches gefunden, muss man es nach oben befördern, was gewöhnlich einigen Aufwand erfordert. Mitunter geht das aber auch relativ einfach: Man durchstößt die Sperrschicht zum Grundwasser, und anschließend strömt das Wasser ganz von alleine heraus.
 
Im Dezember 1980 bin ich das erste Mal auf einer längeren Tour in der Sahara unterwegs, diesmal mit einer Gruppe in einem Bus. Eine Reise mit "Rotel-Tours", dem Rollenden Hotel, dem kein Ziel auf der Welt zu abgelegen ist, als dass man es nicht ansteuern würde. Als der Reiseleiter uns eines Tages für den Nachmittag eine erfrischende Dusche verspricht, sind wir skeptisch. Wir befinden uns mitten in der Sahara, zig Kilometer von der nächsten Oase entfernt, um uns herum nichts als Einöde wie in den vorangegangenen Tagen. Doch als der Nachmittag gekommen ist, erhebt sich plötzlich erwartungsvolles Geraune in den vorderen Reihen des Busses, und gleich darauf sehen wir es alle: ein Gestänge, das gut drei Meter aus der Erde emporragt und auf den ersten Blick an die Wasserkräne von Dampflokomotiven erinnert. Auf der einen Seite des Gestänges schießt Wasser heraus, nicht weit entfernt hat sich ein kleiner See gebildet. Minuten später stehen wir unter der Dusche und genießen das eingelöste Versprechen. Ein artesischer Brunnen, gibt der Reiseleiter sein Wissen preis. Wasser in einer Senke unterhalb des Grundwasserspiegels der Umgebung, das aufgrund dieser Lage unter natürlichem Druck steht. Bohrt man ein Loch in den Boden, sorgt dieser Druck dafür, dass das Wasser von ganz alleine herausfließt. Oder kräftig herausschießt, wie in unserem Fall.
 
 
Das Bohren von Brunnen in der Wüste ist keine leichte Arbeit - das Graben indes ist noch um einiges anstrengender. Insbesondere dann, wenn das Grundwasser sich weit unterhalb der Oberfläche befindet und die Grabung entsprechend tief sein muss. Immer wieder stoßen wir auf Brunnen dieser Art - 1980 auf der erwähnten Busreise und ebenso auf den beiden Reisen, die wir gut zehn Jahre später zu zweit mit unserem VW-Bus unternommen haben. Zu manchen Brunnen gehören lange Hebestangen, mittels derer man das Wasser in ledernen Säcken oder in anderen Gefäßen hochziehen kann. Andere sind nicht mehr als unbefestigte Löcher im Boden, neben denen ein Eimer mit einem Seil liegt. Man wirft den Eimer hinein, holt ihn wieder nach oben und hat Wasser. Zumindest sollte es so sein. Oft aber haben sich die Brunnen von dem beständig wehenden Sand zugesetzt und müssen gereinigt werden, bevor sie wieder benutzt werden können. Vielleicht ist auch der Grundwasserspiegel gesunken oder das Grundwasser hat seine Fließrichtung geändert, so dass neue Brunnen die alten ersetzen müssen. Kann man nicht auf modernes Bohrgerät zurückgreifen, bedeutet das abermals harte Arbeit. Doch es gibt eine Arbeit, die noch weit härter ist bzw. es in der Vergangenheit war, als man einen speziellen Typ von Anlagen zur Wassergewinnung konstruierte. Anlagen, zu deren Bau eine größere Zahl von Menschen benötigt wurde und deren Errichtung eine höchst gefährliche Angelegenheit war.
 
Wir entdecken ein solches Exemplar ein gutes Stück außerhalb einer Oase. Übersehen kann man die Anlage nicht - mehr als zwei Dutzend aufgemauerte dachförmige Elemente, die wie Hütchen von einem Brettspiel für Riesenkinder aussehen. Aufgestellt in einer Reihe, die in gerader Linie auf die Oase zuläuft. "Foggara" nennen die Nordafrikaner eine solche Anlage. Es gibt sie auch in anderen Ländern, am Persischen Golf etwa, in Afghanistan und Pakistan, in Syrien, China und auf den Kanarischen Inseln. Dort heißen sie Hattaras, Karez oder Qanat. Im Prinzip sind sie alle nichts anderes als Aquädukte, wie die Römer sie bauten. Allerdings befinden sich diese Aquädukte nicht über, sondern unter der Erde, da die Wasserentnahme nicht über hoch gelegene Quellen, sondern über das Grundwasser erfolgt. Voraussetzung ist, dass die Entnahmestelle des Wassers oberhalb der Oase liegt, an einem Hang also oder an einem Berg, so dass das Wasser beim Hinabfließen die Oase erreichen kann. Aufbau und Funktionsweise einer Foggara sind leicht zu verstehen: Im Abstand von 20 bis 30 Metern werden senkrechte Schächte in den Boden getrieben, den örtlichen Gegebenheiten entsprechend mal 10 oder 20 Meter tief, in Extremfällen aber auch 100 oder 200 - so tief, bis der erste auf Grundwasser stößt. Anschließend werden die Schächte an ihrem unteren Ende durch einen Stollen miteinander verbunden, der ein kleines Gefälle aufweist - gerade so viel, dass das Wasser in mäßiger Geschwindigkeit durch die unterirdische Leitung in die Oase fließt. Manche dieser Leitungen sind ein paar hundert Meter lang, andere erreichen mehrere Kilometer. Damit die Anlage funktioniert, muss alles exakt aufeinander abgestimmt sein: die Tiefe jedes einzelnen Schachts, der gerade Verlauf des unterirdischen Stollens, das gleichmäßige Gefälle. Eine Arbeit, die den Planern einer Foggara einiges abverlangt. Aber auch ihren Erbauern.
Schächte in die Erde zu graben ist nicht nur anstrengend, es ist auch gefährlich, und das um so mehr, je tiefer die Schächte sind. Abgesehen davon, dass es in den engen Löchern heiß ist und die Luft schlecht, kann es jederzeit zu Einstürzen kommen, sind doch in der Regel keine stabilisierenden Seitenwände vorhanden. Aber noch anstrengender und gefährlicher ist die Herstellung der unterirdischen Verbindung am Boden der Schächte, wo die Arbeiter - in früheren Zeiten üblicherweise schwarze Sklaven - sich wie Maulwürfe mit Hacken und Spaten durch das Erdreich graben müssen. In schmalen und nicht einmal mannshohen Stollen, oft mit primitiven Lichtquellen ausgerüstet, die Luft stickig, dabei in ständiger Bewegung, um die Stollen voranzutreiben und den Abraum nach oben zu befördern. Und die ganze Zeit über von plötzlichen Wassereinbrüchen bedroht oder von Deckeneinstürzen, was nichts anderes bedeuten würde, als lebendig begraben zu werden. Niemand weiß, wie viele Opfer die Errichtung solcher Anlagen gefordert hat, doch angesichts der geschilderten Arbeitsbedingungen dürfte ihre Zahl erheblich sein.
 
Wir folgen dem Verlauf des Wassers durch die Oase. Nachdem es aus dem unterirdischen Kanal ausgetreten ist, fließt es in gleichbleibend sanftem Gefälle durch Rinnen an den Häusern vorbei zu den Gärten am tiefsten Punkt der Oase, wo es durch ein ausgeklügeltes System verteilt wird. Wasserwächter überwachen diese Verteilung. Durch Riegel, die wie grobe Kämme aussehen, wird das Wasser in eine Anzahl kleiner Kanäle gelenkt, wobei die Menge, die jeder einzelne Kanal erhält, durch das Öffnen bzw. Verstopfen der dazugehörigen "Kammöffnung" geregelt wird. Vielleicht eine Verteilung nach Bedarf, vielleicht eine auf der Grundlage: Wer am meisten bezahlt, erhält auch das meiste Wasser. Entspannt wandern wir zwischen den Gärten umher und genießen das satte Grün - nach Tagen auf endlosen Geröllebenen und zwischen Bergen aus Sand ein äußerst angenehmes Gefühl. Kein Wunder, dass den Menschen dieser trockenen und heißen Welt ihre Gärten als ein Ausblick auf das künftige Paradies gelten.
 
Die ersten Foggaras gab es vor rund 4000 Jahren im Gebiet des heutigen Iran. Gegenwärtig gibt es sie noch immer in großer Zahl. Aber natürlich ist die Entwicklung nicht stehen geblieben. Längst sind Motorpumpen im Einsatz, leistungsfähiger als die alten Anlagen und in der Lage, in größere Tiefen vorzudringen. Was sich auf diese Weise erreichen lässt, sehen wir an einem anderen Ort. Vor uns taucht in einiger Entfernung ein dunkler Streifen auf, ein kräftiges Grün, dass hart von dem hellen Gelbbraun der Umgebung absticht. Zunächst können wir uns keinen Reim darauf machen, erst als wir näher heran sind, erkennen wir, dass es sich um ein riesiges kreisrundes Feld handelt. Ein Feld inmitten der Sahara, messerscharf abgegrenzt von dem umgebenden Sand und Geröll, ohne einen allmählichen Übergang zwischen beiden. Der Grund für die Existenz dieses Feldes inmitten der Wüste ist das Vorhandensein von Wasser, was könnte es auch anderes sein. Leistungsstarke Pumpen fördern Grundwasser nach oben, das von einer Beregnungsanlage über die Fläche verteilt wird. Eine kontinuierliche Wasserzufuhr, die Getreide in einer Gegend wachsen lässt, in der ansonsten selbst die dürftigsten Gräser um ihre Existenz ringen müssen.
 
 
Seit einigen Jahren hat sich eine neue Chance für die Wasserversorgung in der Sahara aufgetan, und zwar eine, die alle bisherigen Möglichkeiten weit in den Schatten stellt. Wie unter einigen anderen Wüsten, so hat man auch unter der Sahara fossiles Wasser entdeckt, gewaltige Vorkommen aus einer Zeit, als sich in diesem Gebiet an Stelle von Kamelen und anderen an die Trockenheit angepassten Tieren Krokodile und Flusspferde, Giraffen und Elefanten tummelten. So gewaltig sind diese Vorkommen, dass sie für Jahrhunderte ausreichen würden. Eine verführerische Perspektive, bei der allerdings nicht vergessen werden darf, dass die Vorräte nicht erneuerbar sind. Wofür man sie nutzen kann, zeigt ein Projekt, das unlängst in der algerischen Sahara fertiggestellt wurde: eine 800 km lange Pipeline, durch die fossiles Wasser aus einem unterirdischen Reservoir nahe der Oase Ain Salah nach Tamanrasset gepumpt wird, mitten in das Herz der Sahara. Ein Versuch der Regierung in Algier, Entwicklung auch in diesem abgelegenen Landesteil zu ermöglichen, nicht zuletzt, um angesichts hoher Arbeitslosigkeit die politische Lage in der Region zu stabilisieren und dem islamistischen Extremismus den Boden zu entziehen.
 
Wasser auf der Oberfläche, Wasser im Untergrund - ich will abschließend noch eine letzte Kategorie erwähnen. Eine, die von ihrer Verfügbarkeit her unermesslich ist und die es geben wird, solange die Sahara existiert. Ich meine die Fata Morganas. Luftspiegelungen, bei denen es sich natürlich nicht um "richtiges" Wasser handelt, die in der flirrenden Hitze der Wüste jedoch genau so aussehen. Die Vorstellung fällt nicht schwer, wie verzweifelte Menschen kurz vor dem Verdursten einen See am Horizont zu erkennen glaubten, eine letzte Rettung vor dem sicheren Tod, auch wenn vermutlich jeder einzelne von ihnen von der Existenz solcher Fata Morganas wusste. Doch wer sich in einer ausweglosen Situation befindet, der greift nach dem letzten Strohhalm, und mag er auch nichts anderes als ein Trugbild sein. Wir selbst haben diese eindrucksvollen Luftspiegelungen auf unseren Reisen wiederholt beobachtet, und jedes Mal haben sie uns daran erinnert, dass die Sahara auch im 20. bzw. im 21. Jahrhundert trotz aller verfügbaren Technik noch immer kein Spielplatz ist, sondern nach wie vor ein Land voller Gefahren. Ein Land, in das man sich einfühlen und auf das man sich vorbereiten muss, will man es kennenlernen. Nicht zuletzt mit einem ausreichenden Vorrat an Wasser.
 
Manfred Lentz (Oktober 2015)
 
 
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